Journal Mittwoch, 23. November 2016 – Was ist Leistung?

Donnerstag, 24. November 2016 um 6:59

Ein weiterer warmer Tag. Ich war mit dem Fahrrad unterwegs, um nach der Arbeit mein malades Smartphone nochmal zum Schrauber zu bringen. Dieser fand tatsächlich einen Fehler außer dem Akku (Ladesensor), das Ersatzteil bekommt er aber erst Donnerstag. Ich werde also am Freitag nochmal zu ihm müssen.

§

Der Freitag schreibt über die Folgen für die Gesellschaft, wenn der Glauben vorherrscht, dass man mit Leistung zum Erfolg kommt:
“So ein Dusel”.

via @bebal

Er dreht sich genau um die Frage, an der ich seit Jahrzehnten knabbere: Welcher Erfolg ist mein eigener Verdienst? Was basiert auf Angeborenem? Was auf Zufall? (Dass Erfolg selbst schon Definitionssache ist, lassen wir mal beiseite.) Ich bin mit Hirn, Interesse und Energie auf die Welt gekommen, wurde von klein auf gefördert und angetrieben, hatte nie den Eindruck, große Hindernisse überwinden zu müssen. Viel weist darauf hin, dass ich bei allem, was äußerlich nach Erfolg aussieht, einfach Glück hatte.

Was ist eigentlich Leistung? Eine Leistung, auf die man stolz sein kann?
Ich tendiere dazu, nur als meine eigene Leistung zu empfinden, wenn es Mühe ohne Spaß gekostet hat. Aber weil ich dann im Nachhinein vor allem Leid damit assoziiere, freue ich mich über das Ergebnis nicht – und bin nicht stolz darauf.
Beispiele:
Mein Einser-Magister? Hat Spaß gemacht, war also keine Leistung. Klar gab es Phasen, die mich sehr viel Mühe und Anstrengung kosteten, doch sie erfüllten mich nicht mit Wut und Zorn.
Hirn und Energie wurden mir angeboren, auch der Spaß, etwas damit zu machen. Dazu hatte ich Eltern, für die Bildung einen hohen Stellenwert hatte. Fühlt sich nicht wie Leistung an.
Berufliche Leistungen? Da gibt es einiges, was objektiv als Erfolg gezählt wird, aber nur durch so viel Selbstüberwindung möglich war, von glühendem Hass begleitet, dass ich mich nur sehr ungern daran erinnere. Will ich nicht als Leistung zählen, war eine sehr verdrehte Art von Pflichterfüllung.

Komischerweise empfinde ich das Gefühl von Stolz am ehesten auf Freundinnen, Freunde, Angehörige, die großartig sind und Großartiges tun und erreichen. Wofür ich nun wirklich am allerwenigsten kann. Ich empfinde Stolz darauf, dass ein so wundervoller Mensch sich mir freundschaftlich zuwendet.

Aber zurück zum oben verlinkten Artikel:

Ein genauer Blick auf die Utopie einer reinen Leistungsgesellschaft lohnt, weil diese Argumentation unsere Gesellschaft prägt: Nicht die Einkommensunterschiede an sich seien das Problem, heißt es gern. Entscheidend sei allein, dass jeder eine faire Gelegenheit bekomme, sich eine privilegierte Position zu erarbeiten. Aber dieser Gegensatz führt in die Irre, weil Chancen und Ergebnisse nicht so einfach zu entfädeln sind: Wann ist Reichtum verdient, wann unfairer Wettbewerbsvorteil? Wo fängt Leistung an, wo hören Chancen auf? Und welche Zufälligkeiten müssen beseitigt sein, damit man wirklich überall von gerechten Startbedingungen sprechen kann? Der Beruf der Eltern ist vielleicht ein Zufall, der auf die Laufbahn eines Kindes keinen Einfluss haben sollte. Aber was ist mit angeborener Begabung, einer robusten Persönlichkeit, einem Geburtsdatum im Januar? Zufällig ist es genau so.

Vor der Meritokratie, schreibt Young1, stellte man sich die sozialen Klassen heterogen vor. Es war selbstverständlich, dass es Kluge und Tüchtige in den unteren Schichten gab, genauso wie Dumme und Faule in den oberen. In gewisser Weise wirkte das wie ein Kitt: Niemand konnte mit Inbrunst behaupten, er habe sich seinen Posten als großer Boss verdient – weil man es schlicht nicht mit Sicherheit wissen konnte. Die Gesellschaft wirkte zwar unfair, willkürlich und ineffizient, aber solange es kein klares Selektionskriterium gab, konnte man sich immerhin der Illusion hingeben, im Grunde seien die Menschen doch alle gleich.

Funktioniert die Bestenauswahl erst einmal, braucht sich die Elite dagegen nicht mehr mit Selbstzweifeln zu plagen. In der Meritokratie muss sich niemand rechtfertigen für seinen Reichtum. Aber die untere Schicht verliert ihre Selbstachtung. Im meritokratischen Denken sei sie nun nicht mehr aus Zufall oder Diskriminierung benachteiligt, heißt es bei Young, sondern weil sie nachweislich minderwertig sei. Wo der Erfolg allein auf Leistung beruhen soll, ist jeder Misserfolg ein persönliches Versagen. Die Meritokratie ist erbarmungslos.

§

Eine praktische Anleitung:
“Was ich in 10 Jahren Diskussion mit Impfgegner_innen über postfaktische Kommunikation gelernt habe”.

Hier meine Zusammenfassung; sollte durch die Verkürzung etwas in Schieflage geraten sein, liegt die Schuld bei mir und nicht bei der Autorin.

Für das Zurückholen dieser Menschen in ein rationaleres Jetzt dürfte für viele AfD-Wähler_innen das gelten, was auch für Impfverweigerer gilt: Es ist aufwendig und lang.

(…)

Man muss die Risiken eines bestimmten Verhaltens möglichst plastisch erfahrbar oder kommunizierbar machen.

(…)

Auch von wissenschaftlicher Seite wird postuliert, dass bei festgefügten Verschwörungstheorien das Ersetzen einer Verschwörungstheorie durch eine andere sinnvoller ist als der Versuch, faktenbasiert vom Gegenteil zu überzeugen.

(…)

Ich habe nur dann eine Chance durchzudringen, wenn ich es schaffe, dass das Gegenüber in mir selbst keinen Wutausbruch auslösen kann.

(…)

Es ist wichtig, das Verfestigen von irrationalen Gedankengebäuden zu verhindern, bevor sie zu festgefügt sind um noch zur einzelnen Person vorzudringen.

(…)

In emotional aufgeladenen Situationen müssen wir Menschen besonders gut vor dem Zugriff kontrafaktischer Argumente schützen.

(…)

Das reine Widerlegen von Un-Fakten hilft überhaupt nicht.

(…)

Wir müssen Suchmaschinen wie google stärker in die Pflicht nehmen, wir müssen aber auch rationale Informationen besser und verständlicher und breiter verfügbar machen.

(…)

Diskutiere nicht mit Opas (und Omas).

(…)

Kompromisslos unbestechlich, rigoros Skandale in unseren Reihen aufklären, sehr hohe Transparenz gewährleisten.

(…)

Wir müssen denen, die mit dem Kontrafaktischen ihr Geld verdienen, diesen Geldhahn so gut wie möglich zudrehen.

via @wortschnittchen

  1. Der britische Soziologe Michael Young prägte in den 1950ern den Begriff “Meritokratie”. []
die Kaltmamsell

7 Kommentare zu „Journal Mittwoch, 23. November 2016 – Was ist Leistung?“

  1. MissJanet meint:

    Ach ja, Erfolg. Ich komme aus einem eher bildungsfernen Umfeld, bin in allen Bereichen sehr durchschnittlich. Der Auftrag meiner Eltern an mich und meine Zukunft war ganz klar, einen ehrlichen, anständigen Arbeiter zu heiraten und meine Pflicht zu tun, 2 Kinder, Campingurlaub, vielleicht ein Zechenhäuschen, und immer dankbar sein.

    Hatte ich aber keine Lust zu.

    Viele Jahre war das ziemlich interesssant, was für mich beruflicher Erfolg war (so niedrig das Level auch war, ich war immer in der Lage, eigenständig, unabhängig zu leben, für mich die Definition von Erfolg), war für meine Leute eine weitere Manifestation dessen, dass ich auf ihre Werte pfeife und undankbar bin, sie nun doch tatsächlich noch länger warten lasse, bevor ich Verstand annehme und mir endlich einen Mann suche, bevor ich zu alt bin, tick tick tick.

    Armut ist manchmal relativ. Selbtgewählt mit wenig Geld klarzukommen, ist keine Armut.

    Dann konnte ich beobachten, wie mein altes Umfeld resignierte, ich wurde zu selbstsicher, zu sperrig, dominant und emanzig, hatte zu viel eigenes Geld, neue Freunde, ein ganz anderes Umfeld, politische Ansichten (also echt jetzt, total durchgedreht).

    Es gab allerdings auch zunehmend ein Element der widerwilligen Anerkennung. Ich konnte kämpfen, auch hart, um mir die Unabhängigkeit zu erhalten, mich zu positionieren, aber auch alles wegwerfen, neu anfangen. Ich habe 4 Berufe gelernt, mit 40 noch mal das komplette Berufsfeld gewechselt, war wieder erfolgreich. Memmen ist anders.

    Heutzutage bin ich ziemlich weit weg von den Erwartungen und Traditionen meiner Jugend, aber ganz raus aus dem Kopf geht das nicht. Ein Teil von mir betracht meine Erfolge immer noch unter dem mir so aufgedrückten Blickwinkel meiner Jugend.

    Funkelnde Edelsteine, poliert durch diesen Blick.

  2. creezy meint:

    „Diskutiere nicht mit Opas (und Omas).”

    Sorry. Ist für mich schrecklich übergriffig formuliert, schubladendenkengeprägt. Sehr unangenehm.

  3. fragmente meint:

    Zum Thema “berufliche Leistung” ist mir im letzten Jahr verstärkt klar geworden, dass dies auch davon abhängt, welchen Rahmen der Arbeitgeber steckt. In einem sehr engen Rahmen ist es auch für begabte und motivierte Menschen schwierig, Leistung zu erbringen. Ironischerweise macht es ein enger Rahmen aber wenig leistungsstarken Menschen dann wieder einfacher, die (nicht allzu hoch gesteckten und sehr klar definierten) Ziele zu erreichen, während jemand, der intrinsisch motiviert ist, gar keinen Spielraum finden wird für kreative Lösungen, Innovation und Prozessverbesserungen.

  4. noch so ein typ meint:

    Die Meritokratie ist für mich in diesem Entwurf eng mit dem kapitalistschen Glaubenssatz verknüpft: “Du kannst alles schaffen”. Das Versprechen, jeder könne Teil einer privilegierten Minderheit werden – ein Widerspruch in sich.

    Mein persönlicher Weg ist seit zwei Jahren: Radikaler Verzicht auf Leistung. Sowohl Gegebene als auch in Anspruch Genommene. Leben von Ersparnissen und kleinen Jobs, und der Versuch, beim Warten auf den Tod noch eine schöne Zeit zu haben.

    Selten gehörter Satz auf dem Sterbebett: “Ach hätte ich doch mehr Zeit im Büro verbracht”.

  5. giardino meint:

    Was der Artikel nur streift, aber was m. E. einen fundamentalen Einfluss auf Erfolg hat, ist die gesellschaftliche Stellung bzw. die damit verbundenen Privilegien. Da spielen Erbe und materielle Stellung der Eltern sicher eine große Rolle, aber Aussehen/Herkunft, Geschlecht, Behinderungen usw. können bei nahezu jeder Entscheidung, wo es um Ressourcen geht, zum Vor- oder Nachteil gereichen. Wenn die Tochter des Gastarbeiters trotz ausschließlich 1er- und 2er-Noten nur für die Hauptschule empfohlen wird (obwohl sie z.B. sogar wg. der Sprachprobleme weniger Unterstützung von ihren Eltern hatte, diese Noten zu erreichen), wenn eine junge Frau deutlich mehr Bewerbungen schreiben muss, weil viele Arbeitgeber eine Schwangerschaft befürchten und lieber einen Mann einstellen, wenn ein Schwarzer keine Mietwohnung bekommt, wenn umgekehrt Studenten aus reichem Hause keine Notwendigkeit haben, neben dem Studium noch zu arbeiten, usw. usf. all das sind riesige zusätzliche Beschleuniger oder Bremsen dafür, was an individuellem Erfolg überhaupt erst möglich wird.

    Selbst in meiner weltoffenen und durchaus diversen Firma werden Frauen subtil benachteiligt, sie bekommen trotz aller nomineller Gleichbehandlung immer noch im Durchschnitt die weniger prestigeträchtigen Aufgaben, weniger Gehalt, weniger Leitungspositionen, es werden immer noch Männer (zudem fast immer aus dem gleichen Mittelschichtsniveau) eher eingestellt und gefördert. Ich weiß, dass ich einiges geleistet und mir sicher auch verdient habe, aber ich bin mir sehr bewusst, wieviel mir davon unverdient, nur aufgrund meines Geschlechts und meiner ethnischen und sozialen Herkunft überhaupt erst ermöglicht wurde.

  6. Kirsten meint:

    Ach ja, der Erfolg, und wer dafür verantwortlich ist.

    Frappierend finde ich, wie viele an der Arbeit Erfolge feiern und sich selber und ihrer Großartigkeit zuschreiben, während Misserfolge irgendwie “wegerklärt” werden, das Wetter, der Streik, die Jahreszeit und andere unbeeinflussbare Ursachen waren Schuld

  7. Rob meint:

    Der Erfolgstext hängt sich ja an einem Fußballer auf, der in wichtigen Spielen schonmal ausgewechselt wird.

    Ich habe den Text zuende gelesen, schwer gefallen ist es mir wegen:

    September: Beckenbauer, Netzer, Overath, Breitner, Müller (Thomas)
    Oktober: Pele, Maradona
    November: Seeler, Müller (Thomas)

    Man könnte die Geschichte in Deutschland also auch am Beginn des Schuljahres aufhängen, was die für Oktober genannten aus verschiedenen Gründen nicht betrifft.

    Wenn es allerdings darum geht, ohne besonderes Talent und mit viel harter Arbeit sehr viel Erfolg zu haben, sollte man am 3. April auf die Welt gekommen sein wie Katsche Schwarzenbeck.

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