Archiv für Mai 2017

Journal Dienstag, 9. Mai 2017 – re:publica 2017 Tag 2

Mittwoch, 10. Mai 2017

Gut und ausgeschlafen, den am Vorabend geschriebenen Blogpost fertiggemacht, im Hotelcafé Morgenkaffee getrunken. Auf dem Spaziergang zur re:publica (es ist weiter kalt, zumindest war es trocken) Brotzeit-Börek mit Käse eigekauft. Ich ging hintenrum über den Gleisdreieck-Park.

Aus dem Networking-Area-Gebäude klang überraschenderweise Tangomusik. Ich ging gleich mal nachsehen: Tatsächlich, da spielte echte Musik, ich sah auch ein paar Paare in Tangokleidung. Noch vor 10 Uhr. (Sah nach einer Firmenveranstaltung aus.)

Einstieg in den Konferenztag mit Gunter Dück.

“Flachsinn – über gute und schlechte Aufmerksamkeit, wie man sie bekommt, wer gewinnt und wohin alles führt”. Nachdem ich vergangenes Jahr beim meinem ersten Dück-Erlebnis von seiner Büblein-Sprechweise und seinen scheinbar meandernden Gedankengängen irritiert war, lenkte mich gestern nichts davon ab: Dück brachte auf den Punkt, wie wir Internet-Pioniere vom Umstand brüskiert sind, dass sich jetzt auch Goldgräber, Kreti und Pleti im Web herumtreiben und überall Pommesbuden herumstehen. Wie auf der anderen Seite Wirtschaft und Politik 30 Jahre nach Start des Internets, 20 Jahre nach Beginn seiner rapiden Verbreitung immer noch Kampagnen wie “Digitale Transformation” erfinden. Nützliche Beobachtungen auch über den Wandel von Unauffälligkeit als Karriereweg zur Aufstiegsbedingung Auffälligkeit.

Von den vielen, vielen Programmpunkten zum Thema Fake News hatte ich mir “Survival of the fakest? ARD und andere Medien im Kampf gegen gezielte Falschinformationen im Netz” ausgesucht. Es war ein anregendes Gespräch, das viele Aspekte berührte: Persönliche Angriffe, Faktencheck, fehlendes Wissen über Abläufe in Redaktionen, mangelnde Medienkompetenz. Anregend auch wegen der Uneinigkeit der Teilnehmenden, wie man gegen den Einfluss von Falschinformationen im Netz angehen kann: Vertrauen in Medien wiederherstellen (ich frage mich, wie das konkret gehen soll), über die eigene Arbeit aufklären (das bemerke ich seit einigen Jahren mit Freude), Fehlinformationen widerlegen (was möglicherweise nur bei den ohnehin bekehrten ankommt), mit den Menschen auf Facebook und per Mail sprechen (was die Welt/N24 unter Niddal Saleh-Eldin wohl intensiv tut).

(Nein, in Echt habe ich auch nicht mehr gesehen – ich war schon froh, überhaupt einen Sitzplatz zu haben.)

Von den Menschen aus der Spitzenpolitik, die auf die Bühnen der re:publica kamen (meine Güte, wer hätte das vor zehn Jahren gedacht?), interessierte mich das Thema von Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles am meisten: “Bedingungsloses Grundeinkommen – (K)eine Antwort auf den Digitalen Wandel”.

Nahles wurde für ihren Mut gelobt zu kommen, sprach selbst von der “Höhle des Löwen”, in die sie sich begeben habe – das verstand ich erst durch die unablässig zischelnden Kommentare zu ihren Ausführungen um mich herum: “Pah!” “Wie?” “Hä?” “Blödsinn.” Offensichtlich bestand das Publikum zu 90 Prozent aus (kritiklosen?) Befürwortenden des bedingungslosen Grundeinkommens. Selbst habe ich in den vergangenen Jahren einiges darüber gelesen, nichts davon überzeugte mich dafür oder dagegen – ich war unschlüssig. Die Gegenargumente von Frau Nahles allerdings hatten Schlagkraft, unter anderem weil sie mein Misstrauen bestätigte: Wenn Kapitalisten wie Mercedes und große IT-Unternehmen sich für dieses Grundeinkommen aussprechen, sollte man hellhörig und skeptisch werden. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass sie die Möglichkeit wittern, sich aus der Verantwortung für die Veränderungen ihrer Arbeitswelten zu ziehen. Was ich aus der Perspektive einer Regierungspolitikerin nachvollziehen kann: Sie kann sich für nichts erwärmen, was sie als Expertin (und das ist sie nun mal) für nicht umsetzbar hält.

Nahles stellte auch einen Gegenvorschlag vor: Ein Startguthaben für jeden und jede ab 18. Es könnte in Qualifizierung investiert werden, in ein Sabbatical, in eine Unternehmensgründung.

Bis dato hatte ich auch zu Andrea Nahles keine Position, doch die Häme und die unsachlichen Angriffe gegen sie in den Tweets zu ihrem professionellen und doch nahbaren Auftritt nehmen mich tatsächlich für sie ein (ich kannte sie in Bewegung davor nur aus Tagesschau-Schnipseln).

Bis mittags versteckte ich mich gestern vor Menschen, nach dieser Session freute ich mich aber sehr über die Umarmung eines Internetmenschen, den ich sehr wegen Katzen- und Lauflandschaftsfotos schätzte.

Für die nächste Veranstaltung (“Treffen sich eine Jüdin, eine Feministin, ein Journalist und ein schwarzer, homosexueller Mann.”) sah ich endlich die Location, um die die re:publica dieses Jahr erweitert wurde: Das Kühlhaus. Ein großartiger Ort. UND es war warm dort.

Durch geduldiges Anstehen bekam ich doch noch einen Platz an der immer überfüllten Stage 8: Das vielversprechende “Von AfD-Troll bis Zeppelinfetisch: Geschichtsbilder im Netz” war allerdings lediglich eine Schlaglicht-artige Aufzählung und keine Analyse.

Für “Wissenschaftskommunikation to the rescue! Mit Wissenschaft den öffentlichen Diskurs (zurück-)erobern” konnte ich gleich sitzen bleiben. Hier gab es nichts wirklich Neues, aber es war nett, Akteuren aus diesem Gebiet beim Austausch zuzuhören. Zu meiner Erleichterung wies Julia Offe auf die Gefahr anekdotenhafter Wissenschaftsvermittlung hin: Sie gleicht zu sehr den Einzelfällen, die Parawissenschaften statt Beweisen anführen.

Nach einigen schönen Begegnungen und Gesprächen am Affenfelsen setzte ich mich zu Kübra Gümüşay und hörte ihren Vortrag: “Die Emanzipation der Gutmenschen.” Kübra, deren letztjähriger Vortrag den Titel der diesjährigen re:publica hervorbrachte, appellierte unter anderem dafür, sich nicht auf die Bekämpfung vom Hassangriffen zu beschränken, sondern sich auf eigene Anliegen zu besinnen und für diese zu kämpfen, statt gegen Attacken.

Tagesabschluss mit Journelles “Save the world – tell a story: Wie wir die Deutungshoheit im Internet zurückgewinnen und die Welt retten können”, das schön hergeleitet und mit guten Beispielen daran erinnerte, dass es Geschichten sind, die Menschen zum Umdenken bewegen, nicht das Aufzählen von harten Fakten.

Mehr ging gestern nicht. Ich hatte Hunger und ging heim, wieder über den Park. In einem indischen Restaurant am Weg aß ich Palak Gosht (Lamm mit Spinat), dazu trank ich einen entspannenden Mai Tai.

§

Abends im Bett augenrollend Krachts Faserland weitergelesen. Nach 70 Seiten habe ich die Hoffnung aufgegeben, dass diese Platzierung von Markennamen im pubertärer Partyleben eines Wohlstandsverwahrlosten irgendwie literarisch gebrochen werden könnte oder ich gar eine Geschichte bekomme. Kracht ist etwa in meinem Alter – dennoch hätten unsere 90er nicht verschiedener sein können, selbst wo ich den Erzähler nicht mit dem Autor gleich setze. (Dass ich einen gewissen Stolz darauf verspüre, dass ich mit einem Drittel der genannten Markennamen überhaupt nichts anfangen kann, erkenne ich aber als ebenso unangenehmen Dünkel.)

Journal Montag, 8. Mai 2017 – re:publica 2017 Tag 1

Dienstag, 9. Mai 2017

Sehr ertragreicher Konferenztag, allein für diesen lohnte sich das Gesamtticket. Auch wenn sich meine sensationelle Aufmerksamkeitsausdauer und Konzentrationsfähigkeit von vergangenem Jahr nicht wiederholte. Das Wetter war kalt und regnerisch, es gab also kein Herumlungern im Hof oder in der Grünanlage hinten raus.

Ich war wenig nach neun an der Station, um Schlangen am Registrierungsschalter zu vermeiden und hatte damit Erfolg. Im Gebäude gleich mal in die ersten kleinen Freunde aus dem Internet gelaufen.

Die Keynote nach der Eröffnung sah ich mir eigentlich nur an, um für den anschließenden Vortrag von Carolin Emcke einen guten Platz zu haben (Keynote ist ja meist etwas elend Langweiliges vom Hauptsponsor). Doch ich war sehr froh um die Vorträge zur schwindenden Pressefreiheit.

Can Dündar erzählte detailliert und bewegend, warum und wie er als Chefredakteur von Cumhuryet verhaftet und mundtot gemacht wurde (er lebt inzwischen in Deutschland). Aus Ungarn berichtete Márton Gergely, wie Ungarns größte politische Tageszeitung dicht gemacht wurde – und woran er und seine Kollegen das hätten kommen sehen können. Aus Polen war Katarzyna Szymielewicz, die sich seit Jahren politisch für Datensicherheit engagiert – und nun nicht nur keinen Zugang zu Politikern mehr bekommt, sondern durch ihr Engagement zur Zielscheibe wird.

Carolin Emckes “Reflexion: Love out Loud” war genau so bedacht und klug, wie ich sie erhofft hatte – und ist vor allem wegen Emckes berühmt sorgfältiger Wortwahl schwer zusammenzufassen. Sie bewies wieder, dass auch ein ausformulierter, abgelesener Vortrag fesselnd sein kann.

Mittagssnack: Breze (gekauft), Apfel (mitgebracht).

Auf einer anderen Bühne gab es ein hochspannendes Podiumsgespräch über “Darknet – das Internet der Zukunft?”. Julia Eikmann hatte auf die Bühne gebracht:
– Daniel Moßbrucker, der für die ARD eine ausgezeichnete Doku über das Darknet gemacht hat. Er erklärte diesen Teil des Web und wie man sich darin bewegt.
– Ahmad Alrifaee, der bis Ende 2014 als Journalist in Syrien über das Darknet kommunizierte und detailliert beschrieb, wie er das tat.
– Andreas May, Oberstaatsanwalt der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main, der die Zentralstelle zur Bekämpfung der Internetkriminalität in Gießen leitet und überraschend offen transparent machte, wie seine Behörde im Darknet vorgeht. Seine Ausführungen fand ich am spannendsten: Der Erfolg ist überschaubar (“Wir fangen nur die Doofen.”), die US-Ermittlungsbehörden haben so viel bessere Technik (und mehr rechtliche Möglichkeiten), dass sie ganze Plattformen im Darknet an sich ziehen, selbst betreiben und dadurch Straftäter fangen. (Nein, May fordert keineswegs Gesetzesänderungen zu weiter reichenden Ermittlungsmöglichkeiten.)

Von Markus Beckedahl ließ ich mir auch dieses Jahr die vergangenen zwölf Monate Netzpolitik zusammenfassen: “LOL, rights?!” (*löscht alle noch ungelesenen Netzpolitik.org-Artikel aus dem Feedreader*)

Das Streitgespräch “Recht oder Liebe? Wie man bei jeder Auseinandersetzung im Web garantiert gewinnt.” zwischen Anwalt und PRlerin musste ich leider wegen Komplettüberfüllung des Vortragsraums ausfallen lassen. Machte ich halt Plauderpause mit der Luxemburger Blogabordnung.

Ja, das ist Garry Kasparov. Er war Gast zum Thema “‘Hacking Democracy’: Power and Propaganda in the Digital Age” und legte einen sehr beeindruckenden Auftritt hin. Kasparov ist offensichtlich mit einer Menge Wassern gewaschen. Seiner Beobachtung nach unterscheidet sich die derzeitige Propaganda Russlands fundamental von der Sowjetrusslands: Früher ging es um Indoktrination, heute um reine Verwirrung und Zerstörung (er hatte schöne Belege für Bot-Aktivitäten dabei). Kasparov verwies mehrfach darauf, dass Putin international keine wirkliche Macht habe und genau deshalb wild um sich schlage. Bedenkenswert fand ich auch seinen Hinweis, dass die Verbreitung des Internetzugangs – eigentlich doch mehr Redefreiheit – mit steigender Einschränkung der freien Meinungsäußerung koinzidiert: Weil, so Kasparov, tatsächlich das Internet schnell zur effizienteren Verfolgung von Dissidenten genutzt wurde.

Damit war meine Aufnahmefähigkeit leider erschöpft, ich machte Feierabend. Auf dem Heimweg gönnte ich mir eine köstliche vietnamesische Suppe bei 3moms, dann war mir endlich wieder warm.

Sascha Lobos “Vom Reden im Netz” sah ich mir live im Hotelzimmer auf dem Laptop an. Dabei den Duft der vietnamesischen Suppe in der Nase: Ich hatte versehentlich mein re:publica-Bändel reingetunkt.

Journal Sonntag, 7. Mai 2017 – Berliner Frühling

Montag, 8. Mai 2017

Und da war er wieder, der Grund, aus dem ich Ferienwohnungen Hotelzimmern vorziehe: Zimmerpersonal und Kaffeeabhängigkeit.

Ich machte mich morgens nach dem Duschen und Anziehen am schönen Schreibtischplatz in meinem Hotelzimmer ans Bloggen, als es klopfte: Jemand wollte aufräumen. Auf meinen Morgengruß hörte ich zwar: “Ich komme später wieder.” Aber jetzt fühlte ich mich unwohl. Ich konnte ja geradesogut im Café überm Morgenkaffee tippen, nahm also meinen Laptop und ging hinunter. Um im Hotelcafé vor durchreservierten Tischchen zu stehen: Sonntagsbrunch. Also raus und nach einem Kettencafé gesucht, dieses und Cappuccino gefunden, auch ins WLAN gekommen – aber das Internet funktionierte nicht.

Zurück im Zimmer stellte ich fest, dass noch nicht aufgeräumt worden war. Die Stunde bis Aufbruch verbrachte ich zwar mit funktionierendem WLAN aber mit gespitzten Ohren, ob das Personal wiederkommt.

Der zunächst graue Tag klarte auf, ich spazierte in der Sonne zu meiner Mittagsverabredung am Prenzlauer Berg. Meine ersten Mauersegler des Jahres gehört und gesehen.

Nach ausführlichem Mittagessen (Empfehlung) mit großartigen Frauen aus dem Internet spazierte ich durch einen echten Frühlingstag wie im Mai erhoffbar zurück.

In Berlin blühen noch manche Kirschbäume, und mehrfach duftete mir Flieder entgegen.

Zu meiner Abendverabredung im Jolesch ließ ich mich dann aber mit der U-Bahn fahren, ich lernte eine weitere Frau aus dem Internet endlich auch mal persönlich kennen und freute mich sehr.

Nachts zurück im Hotel angstvoller Blick auf die Wahlergebnisse in Frankreich: Erleichterung, weil diesmal die Katastrophe einer nationalistischen Entscheidung nicht passiert war.

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Wie eine US-Amerikanerin das deutsche Gesundheitssystem erlebt:
“My First Experience with German Public Healthcare”.

via @ingeborch

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Ehrlich gesagt freue ich mich ja schon sehr, wenn heutzutage jemand Hanns Dieter Hüsch überhaupt kennt (auch wenn mir klar ist, dass seine Texte und sein Humor nicht allzu zugänglich waren und sind). Umso schöner, wenn er im Freitag über ihn schreibt:
“Verzweifelt freundlich”.

Hüsch für Einsteiger:

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https://youtu.be/ZAUZkQyKukQ

Hüsch für Fortgeschrittene:

https://youtu.be/z89UeNmQBzM

Journal Samstag, 6. Mai 2017 – Berlin Tierpark

Sonntag, 7. Mai 2017

Gestern war ich mit zwei Berlinerinnen aus dem Internet im Tierpark Friedrichsfelde verabredet. Den hatte ich vor fünf Jahren schon mal mit Herrn Kaltmamsell angesehen und in ausgezeichneter Erinnerung.

Nachdem ich morgens gebloggt, im Café des Hotels Morgenkaffee getrunken und mir ein wenig Proviant für die nächsten Tage eingekauft hatte (Äpfel, Mandeln, Trockenpflaumen), fuhr ich mit der U-Bahn zum Tierpark.

Tierpark-U-Bahnhof-Deko ist sicher ein eigenes Genre der Kunstgeschichte.

Der Eingang an der U-Bahn sah so gar nicht aus wie ich ihn Erinnerung hatte, also spazierte ich mit meinem Frühstück (Streuselschnecke!) zum Eingang Schloss. Die Verabredung wartete aber am anderen Eingang. Wir fanden natürlich zusammen und verbrachten ein paar Stunden in Parklandschaft, mit lustigen Tieren und mit Austausch von aktuellem Lebensstatus.

Zurück in die Unterkunft, ein wenig Ausruhen mit Romanlektüre. Abends war ich in Neukölln zum Essen verabredet: Winziges Bistro, gutes Essen, besonders gutes Brot.

Spätnachts im Bett noch Le Guins Left Hand of Darkness ausgelesen, ich war bis zuletzt sehr angetan.

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Witziger Vorbericht zur re:publica im Tagesspiegel:
“Mit den Trollen tanzen”.

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https://youtu.be/GocPFyyPGLQ

Na gut, La La Land hat ein Gutes: Massenhaft Hintergrundmaterial. Es ist wirklich spannend, wie die Choreografin Mandy Moore die Anfangsszene aufschlüsselt.

via @alexmatzkeit

Journal Freitag, 5. Mai 2017 – WMDEDGT Berlinreise

Samstag, 6. Mai 2017

Was ist WMDEDGT?

Noch vor dem 7-Uhr-Wecker aufgewacht, mich über den neben mir schlafenden Herrn Kaltmamsell gefreut.

Die am Vorabend vorbereitete Cafetera erhitzt, Spargeltopf und Weingläser vom Vorabend gespült. Neben Milchkaffee und Wasser gebloggt. An sich hätte ich dann vor Reisestart noch gut Zeit zum Nachlesen der nächtlichen Twittertimeline gehabt, doch ich war unruhig. Also duschte ich und packte in aller Ruhe – dann doch den großen Koffer, obwohl er zu einem Drittel leer blieb. Im kleinen Koffer wäre meine Kleidung zu gequetscht gewesen, mal wieder wünschte ich mir eine Zwischengröße. (Aber kein Mensch braucht drei Koffer.) Da ich wusste, dass ich auf der Fahrt Brotzeithunger bekommen würde, aber die Preise am Flughafen überhaupt nicht einsehe, bereitete ich mir ein Schinkenbrot zum Mitnehmen.
Dann blieb mir immer noch ein wenig Zeit zum Twitterlesen, bevor ich die S-Bahn hinaus zum Flughafen nahm.

Mein Gepäck zum Airberlin-Schalter gebracht (lange Schlange, wegen flotter Abwicklung dennoch nur wenige Minuten gewartet), mit der Angestellten über unsere undeutschen Namen gescherzt, Sicherheitscheck unauffällig, zum Gate gegangen, auf dem Klo meine Wasserflasche gefüllt, Brotzeit gemacht, die Süddeutsche vom Freitag gelesen.

Boarding pünktlich, Flug ereignislos und pünktlich. Ich bedauerte lediglich die Wolkendecke, da ich nach Langem mal wieder einen Fensterplatz zugewiesen bekommen hatte (Aussuchen beim Online-Einchecken kosten heutzutage ja ebenso extra wie Gepäckaufgeben – ich fasse es immer noch nicht).

In Tegel war es düster und kühl, aber nicht kalt. Menschentrauben am Gepäckband, da hier auch Reisende aus Izmir auf ihre Koffer warteten, doch ich hatte meinen nach wenigen Minuten. BVG-Ticket gekauft, Bus und U-Bahn brachten mich in einer guten halben Stunde problemlos nach Kreuzberg. Flottes Einchecken im Hotel.

Den Haken an dieser wirklich gemütlichen Sofaecke fand ich erst abends: Kein Licht zum Lesen.

Ich packte meinen Koffer aus und setzte mich mit Laptop zum Lesen aufs Sofa. Eigentlich hatte ich jetzt am Nachmittag Hunger, doch ich wollte noch Essen gehen, und zwar frühes Abendessen, ich wusste auch schon, bei welchem Italiener ums Eck. Also hielt ich den Hunger aus, zu einer Planänderung war ich nicht in der Lage.

Um dreiviertel sechs musste es spät genug für ein Abendessen sein, ich spazierte zu besagtem Italiener.

Dazu ein Glas Trebbiano d’Abruzzo und Freude an der spanisch-italienischen Mischung der Kellner-Bedienfloskeln.

Ich las Le Guin, hörte am Nebentisch die gebildet formulierten Ausführungen einer Dame zu ihren Entdeckungen über ihre Vorleben und Wiedergeburt, was welcher Hellseher dazu gesagt habe, und dass es in ihren vorgeburtlichen Erfahrungen wahrscheinlich einen Zwilling gegeben habe. Besonders fiel mir der sachliche Tonfall auf, es hätte durchaus ein Gespräch über Mobilfunktarife sein können (das Thema der späteren Gäste an diesem Tisch). Ich geriet wieder mal ins Grübeln über die Informationsverarbeitung von Esoterik-gläubigen und religiösen Menschen: Wo ziehen sie die Grenze, ab wann sie Faktenbasis für Informationen einfordern? Wer daran glaubt, in einem früheren Leben den Holocaust durchgemacht zu haben – kommt der überhaupt auf die Idee, sich zu Aussagen über den Klimawandel erst mal die Datenlage anzusehen? (Übrigens ein Grund, warum mir bei Berufsreligiösen in der Spitzenpolitik so unwohl ist, ob Joachim Gauck oder Katrin Göring-Eckardt.)

Auf dem Heimweg holte ich mir noch ein wenig Eis zum Nachtisch. Die Preise in Kreuzberg haben ganz schön angezogen; für Abendessen und Eis zahlte ich so viel wie in Münchens Stadtmitte.

Zurück im Hotelzimmer Tagesschau, Recherche meiner samstäglichen Wege zu Verabredungen, Internet- und Romanlesen.

§

Morgens spülte es mir diesen Münchengrant von Max Scharnigg in die Timeline.
“Grant. Oder: Keine Stadt, nirgends”.

Ich lege besser mal offen, dass ich Max Scharnigg zum ersten Mal 2010 als Teilnehmer am Bachmannpreis wahrnahm, er mir mit seinem doofen (Fachausdruck) Text damals bereits das Kraut zum Teil ausschüttete, den Rest seither mit Texten in der Süddeutschen und im SZ-Magazin. An seine Ausführungen ging ich also ohne jedes Wohlwollen heran. Denn jedes Mal, wenn er in den vergangenen Jahren über München schrieb, fragte ich mich, wo um Himmels Willen er sich bloß herumtreibt und mit was für komischen Leute er sich umgibt. Auch beim oben verlinkten Text war mein erster Gedanke: Das passiert, wenn man die falschen Leute in München kennt. Nämlich keine Blumentandlerin, keinen Friedhofsführer, keine Wirtin, keine Kartoffelkombinatler, keine Tochter eines Musikers des Rundfunkorchesters, keinen Koch, keine Postangestellte, keinen skateboardenden FOS-Schüler, keine Süpermarketangestellte. Sondern:

München ist eine Theaterkulisse auf den Schultern von sechs DAX-Konzernen. Die Schleuser hierher nennen sich Headhunter. Sie haben eine Karriere- und Schlafstadt geschaffen, in die unentwegt Menschen kommen, um Geld zu verdienen und am Wochenende wandern zu gehen. Mit dem Geld kaufen sie sich erst eine Portion Stadtstolz, dann eine bayerische Tracht, dann eines der Autos von hier und dann eine Wohnung und daneben ist eigentlich keine Zeit für irgendwas anders, höchstens mit dem Hund in den Park, weil was anderes kannst du in den Münchner Parks auch nicht machen. Das sind dunkle Reinkackparks, die nicht bespielt werden, wo es kaum Sportplätze oder Fußballkäfige gibt und selbst wenn du kicken willst, musst du dich anstellen oder hoffen, dass das Gras mal gemäht ist.

Einerseits weiß ich von den beschriebenen Neu-Münchnern (persönlich habe ich ca. einen kennengelernt), für die unter anderem die “Nacht der Tracht” erfunden wurde (eine wunderbare Idee, operettisierte Bayernfasching-Energie zu kanalisieren, so sind diese Menschen aufgeräumt, ohne dass sie jemanden stören). Andererseits möchte ich Scharnigg an die Hand nehmen und ihm all die Bolzplätze und Wiesen an der Isar und im Englischen Garten zeigen, an denen ich regelmäßig vorbeilaufe und die durchaus genutzt werden. Zum Beispiel von Menschen, deren Hautfarbe und Kleidung vermuten lassen, dass sie bei Thomas de Maizière einen allergischen Leitkulturanfall auslösen würden. Zählt Max Scharnigg die am End’ nicht zu Münchnern?

Scharniggs Pointe:

München ist eigentlich keine funktionierende Stadt, sondern eher ein Übungsplatz für Hausmeister.

Wobei ich wegen oben den Verdacht habe, dass auch tatsächliche Hausmeister nicht zu seinem persönlichen Umgang gehören (die sehr wahrscheinlich nie vor dem Problem stehen, dass sie in München nach 20 Uhr für plötzlich aufkreuzenden Besuch eine gute Flasche Wein kaufen wollen, weil sie nämlich gastfreundlich sind und immer eine gute Flasche Wein im Haus haben, sollte mal unvermutet Besuch kommen).

Dabei gibt’s an München weiß Gott genug zu verbessern. Verklären braucht’s überhaupt nichts nirgends (wer nochmal tut das?). Wir haben hier bergeweise Probleme und verkacken viele davon: Kein Verkehrskonzept, zudem kein Entwicklungskonzept, das den rapiden Zuzug bewältigt und sowieso die Bewohner berücksichtigt, die nicht von einem der ansässigen DAX-Konzerne leben, sondern von der Hand in den Mund. Kein Plan, dafür Vetterngemauschel. Vom Hauptproblem Oktoberfest erst gar nicht zu reden!1

Aus Scharniggs Grant spricht genau das elitäre Münchnertum, das München da draußen so leicht angreifbar macht. Und wenn er Rom sehnsüchtig beseufzt, stelle ich ihm gerne mal ein paar Menschen vor, die dort leben und versuchen, etwas auf die Beine zu stellen. (Erinnere ihn außerdem an die völlige Abwesenheit von Leberkässemmeln dortselbst.)

Vielleicht ist Max Scharnigg wirklich aus Versehen in die falsche Stadt geboren worden, das gibt’s ja oft genug, ist mir mit Ingolstadt passiert. Und wo wohne ich deshalb nicht mehr? Eben.

Nachmittags fand ich beim Lesen im Hotel die Widerrede eines SZ-Journalisten, der Scharniggs Texte sonst mag – also nicht so vorbelastet ist wie ich.
“Verfluchtes, geliebtes München”.

Der Kern:

Ich glaube, jede Stadt ist für zwei Tage, zwei Wochen oder sogar zwei Monate cool. Und ja, ich habe ein Jahr in London gelebt, eine Woche in Oslo gefeiert, mich in Porto verliebt und in jede zweite italienische Stadt. Ich glaube nur, dass es überall nach zwei Jahren irgendwie öde wird und man motzt. Zeig mir bitte einer den Italiener, der jeden Abend auf der Piazza leckeren Wein an langen Holztischen mit Wildfremden trinkt, dabei singt, flirtet, Pasta con irgendwas fantastico isst und frühmorgens nach Hause tanzt.

§

Wie das mit der Informationsaufnahme funktioniert, wenn die Neuigkeit Glaubensgrundsätzen widerspricht – großartige grafische Darstellung:
“You’re not going to believe what I’m about to tell you”.

  1. Na ja, wenn ich schon dabei bin. []

Journal Dienstag/Mittwoch, 3./4. Mai 2017 – Emsige Urlaubsvorbereitungen

Freitag, 5. Mai 2017

Mittwoch geackert wie ein Viech, um vor dem Urlaub noch alles wegzuschaffen. Gerade genug Mittagspause gemacht, um Hunger zu stillen (mitgebrachter Graupensalat vom Vorabend) und die Zeitung durchzublättern. Abends nur noch in der Lage, die weiße Wand anzustarren. Daran gedacht, wie ich jahrelang nur in dieser Schlagzahl gearbeitet habe – daran kaputt ging und gleichzeitig ein schlechtes Gewissen hatte, weil die Arbeit doch an sich so großartig war.

Arbeitsweg hin: Westendidyll.

Arbeitsweg zurück, Abendlicht genossen.

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Während die Waschmaschine lief, stellte ich Donnerstagmorgen mein re:publica-Programm zusammen – wieder in einer Word-Tabelle alles Sessions, die mich interessieren; bei parallel laufenden entscheide ich vor Ort, welche ich sehen möchte (finde ich immer noch übersichtlicher als alle bisherigen Apps). Neuerliches Erstaunen, wer sich in der Speaker-Biografie so als “Bloggerin von Anfang an dabei” bezeichnet. Der Anfang des Bloggens wird anscheinend immer mehr auf den Beginn des kommerziellen Bloggens datiert. Doch die einzige PR-Bloggerin, die schon zu Antville-Zeiten angefangen hat, ist ja wohl Zorra.

Ist Ihnen aufgefallen, dass seit einiger Zeit (drei Jahren?) niemand mehr von “Netzgemeinde” spricht? Weil jetzt jeder im Netz ist, werden wir nicht mehr als separate Gruppe gesehen. Im persönlichen Gespräch (z.B. wenn ich erzähle, dass ich zur re:publica fahre) höre ich eher den Hinweis: “Ich bin ja gar nicht so im Internet” – weil davon ausgegangen wird, dass das die Ausnahme ist. Zeiten, in denen sich ein Bundestagsabgeordneter im Publikum einer re:publica-Session zu Wort meldete und forderte, “die Netzgemeinde” solle sich endlich mal einig werden, was sie eigentlich wolle, scheinen lächerlich überholt. Seit etwa derselben Vergangenheit muss sich wohl auch niemand mehr in den Traditionsmedien dadurch hervortun, wie doof er Veranstaltungen (“Nabelschau”, “Selbstfeier”, “Klassentreffen”) wie die re:publica findet. Sie ist etwa so etabliert wie die Hannover Messe Industrie.

Nachdem ich von zwei weiteren Mitgliedern der Techniktagebuchredaktion versehentliche Absagen ihrer Talk-Einreichungen gehört habe, fragte ich mich beim Programmzusammenstellen, welche interessanten Themen wohl noch so wegen dieser Versehen nicht auftauchen. Nachdem ich das gesamte Programm kenne, weiß ich nämlich, dass unsere Einreichung sehr gut gepasst und eine Lücke gefüllt hätte.

Durch einen Tweet wurde ich an eines meiner Lieblingslieder aus Hollywoodstarkehle erinnert:
“Let’s do something cheap and superficial” von Burt Reynolds aus Smokey and the bandit 2. (Ist ja im Grunde die Country-Version von Shakespeares Sonett 73, gell.)

Abstecher zur Hausärztin, um ein Rezept für weitere Dosen Migränemedikament zu holen – Bloggerin auf der Straße getroffen (München ist dann doch überschaubar).

Rausgeradelt zum Olympiabad für eine Schwimmrunde – ich fühlte mich schwächlich (Folgen den Muskelkaters vom Dienstag?), hielt aber meine 3.000 Meter durch.

In der Maxvorstadt ein bestelltes Buch abgeholt, durch erste Regentropfen zum Mittagessen bei Marietta geradelt.

Für meine Bestellung reichte der Hinweis: “Ich hab’s schon gerochen, als ich reingekommen bin.”
Am Nebentisch zwei Herren aus der Gastro, mindestens einer davon Koch (ich konnte das Gespräch trotz Zeitunglesen nicht nicht mithören, weil zum einen die Tische eng stehen und ich zum anderen immer wahrnehme; deswegen kann ich ja auch keine Musik beim Lesen haben): Ich nehme es als weiteren Qualitätsbeweis fürs Lokal, wenn Leute vom Fach dort essen.

Einkaufsrunde fürs Abendessen, gestern durfte ausnahmsweise ich Herrn Kaltmamsell bekochen und nicht umgekehrt. Nachmittags aber erst mal gebügelt, dann eine Luxusversion von Apple Crumble gebacken (verfeinert mit gemahlenen Haselnüssen und Blaubeeren). Ich habe wohl endlich meinen idealen Backapfel gefunden: Idared. Während in der deutschen Küche ein Apfel gewünscht wird, der auch nach zwei Stunden im Backofen bissfest ist, war ich ja auf der Suche nach dem britischen Ideal des cooking apple: Leicht säuerlich, aber schnell weich, ohne gleich Mus zu werden. Dieses Ergebnis hatte ich jetzt zum zweiten Mal mit der Sorte Idared.

Zum Nachtmahl schälte ich uns zwei Kilo Spargel, den ich mit lediglich ein wenig Butter und etwas Kochschinken servierte.

§

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https://youtu.be/jCwYve87iKA

Journal Montag, 2. Mai 2017 – Endspurt von Uralub

Mittwoch, 3. Mai 2017

Als ich extrafrüh vom Wecker geweckt wurde, weil ich zum Langhanteltraining wollte, zählte mir mein Angstzentrum die ungefähren Inhalte meines Arbeitstags auf – ich war versucht, den Sport ausfallen zu lassen, um nicht erst die daraus resultierende Stunde später all diese Inhalte angehen zu können. Doch ich schaffte zum Glück, mich mit der Illusion, ich könnte ja abends länger arbeiten, darüber hinweg zu setzen: Das Heben und Stemmen war anstrengend, tat mir aber sehr gut.

Der Arbeitstag zahlte es mir heim, ich kam völlig erschöpft nach Hause. Noch einen solchen Tag bis 10 Tage Uralub (nur mit diesem Buchstabendreher zählt er bekanntlich).

Dafür war nur der Morgen regnerisch, tagsüber gemischtes Wolkendrama, immer wieder Sonne. Ich spazierte in kalter, aber angenehmer Luft nach Hause.