Journal Dienstag, 26. September 2017 – Wiedergehoben
Mittwoch, 27. September 2017 um 6:47Gestern Morgen stellte ich den Wecker früh genug fürs Langhanteltraining: Nach zwei Monaten Pause wegen Nackennerv und Urlaub wollte ich ausprobieren, ob ich das vielleicht doch wieder machen kann. Hoffnung hatte ich wenig, ich war darauf gefasst, dass der beengte Nerv mich dauerhaft hindern würde. Nicht etwa, weil die schwere Stange bei vielen Übungen im Nacken sitzt – äußerer Druck scheint dem Wirbel und dem darin verlaufenden Nerv egal. Ich fürchtete, dass ich die HWS bei zu vielen Übungen nicht gerade genug würde halten können.
Ich stimmte mich anfangs mit der Vorturnerin ab, sie passte besonders gut auf mich auf.
Bei den Gewichten orientierte ich mich an den Mitturnerinnen und lud mir den Mittelwert auf. Bei Hot Iron Cross geht es ja um hohe Gewichte bei wenigen Wiederholungen, die anderen hoben das aktuelle Programm bereits seit fast drei Monaten.
Zum einen zeigte sich, dass ich Kraft nicht so schnell verliere: Ich schaffte die Übungen ohne Überanstrengung bis zum Maximum. (Protest gab’s nur vom Kreislauf: Bei den Liegestützen wurde mir ein bissl schlecht.) Vor allem aber machte der Nerv keinerlei Probleme (am ehesten noch in Rückenlage bei den Bauchmuskelübungen) – ich kann wieder Langhantel trainieren! Darüber freute ich mich so, dass ich völlig enthusiasmiert meinen Arbeitstag antrat. Ich merkte, wie sehr mir das Erleben der eigenen Kraft gefehlt hatte. Vielleicht verzichte ich ja deshalb auch gerne auf Wanderstöcke: Das hebe ich lieber mit Muskelkraft.
Wieder ein milder, goldener Tag. Auf dem Heimweg ging ich im Süpermarket vorbei, zuhause bereitete ich aus den am Vorabend gegrillten Auberginen Baba Ganoush – nur für mich, Herr Kaltmamsell war aushäusig.
§
Ich glaube, das hätte ich als kleines Mädchen gebraucht bei schlechter Laune und Bockigkeit: Dass meine Mutter mir das bewusst macht (ich glaube, du hast schlechte Laune / bist gerade innen ganz verknotet) und dann mit mir nach einem Weg sucht, da rauszukommen. Natürlich muss unbelegt bleiben, ob das gewirkt hätte. Doch ich bin recht sicher, dass die Strafen, die ich mir durch Gereiztheit oder durch Bockigkeit einhandelte, mich nicht lehrten, mit negativen Gefühle umzugehen. Heute: Wegschieben und Verstärkung durch Schuldgefühle und Scham.
(Die Schilderung von Michels Traurigsein hier brachte mich drauf. Und dass mich ausrastende Kleinkinder zwar reflexaggressiv machen, mein Hirn aber weiß, dass ich selbst in Affektverarbeitung auch noch nicht weiter bin.)
die Kaltmamsell5 Kommentare zu „Journal Dienstag, 26. September 2017 – Wiedergehoben“
Sie möchten gerne einen Kommentar hinterlassen, scheuen aber die Mühe einer Formulierung? Dann nutzen Sie doch den KOMMENTAROMAT! Ein Klick auf einen der Buttons unten trägt automatisch die gewählte Reaktion in das Kommentarfeld ein, Sternchen darüber und darunter kennzeichnen den Text als KOMMENTAROMAT-generiert. Sie müssen nur noch die Pflichtfelder "Name" und "E-Mail" ausfüllen und den Kommentar abschicken.
27. September 2017 um 8:02
Interessant. Als unser Sohn eine mehrjährige Phase massiver Wutanfälle hatte, hat mir tatsächlich der Rat geholfen (da kauf ich einmal ein Ratgeberbuch und prompt ist ein guter Rat drin), die Gefühle des tobendes Kindes so, wie ich sie verstehe, zu artikulieren und zu spiegeln. Du bist jetzt zornig. Du willst nicht gehen (Anlass für Drama). Du bist traurig. Das half bei ihm ein bisschen, weil es die Luft aus der Wut nahm, aber mir half es fast noch mehr, weil ich seine Gefühle anerkannt hatte und mich deshalb nicht mehr so angegriffen fühlte. Davon allein sind die Wutanfälle nicht weggegangen, aber die Bewältigung wurde für beide Seiten deutlich leichter. Inzwischen wohnt hier ein sensibler, freundlicher und warmherziger Teenager. Das wäre er vielleicht eh geworden (es gibt genetische Vorbelastung), aber hier im Haus läge mehr zerschlagenes Porzellan rum.
Übrigens heißer Tipp: ich war gestern in den Kammerspielen bei einer Lesung mit Didier Eribon und Edouard Louis (und dessen unfassbar geistesgegenwärtigen Übersetzer). Meinen Begleitern und mir sind die Kinnladen heruntergeklappt angesichts so viel intelligenter Analyse der Situation der Linken gepaart mit schonungslosem Blick auf die Gesellschaft, in der sie aufgewachsen sind. Insbesondere die Fragen von Scham und Stolz der Unterschicht fand ich sehr bewegend – gerade im Zusammenhang mit dem neulich von dir verlinkten Artikel über die Nichtwähler. Große Empfehlung, ich weiß gar nicht, welches Buch ich zuerst lesen soll, aber wahrscheinlich Edouard Louis’ Abschied von Eddy.
27. September 2017 um 12:41
Ich habe die Lesung gestern abend leider verpasst, habe aber kürzlich beide Romane gelesen und war sehr sehr begeistert. Falls es interessiert:
https://bingereader.org/2017/08/30/double-francais/
27. September 2017 um 17:49
Sehr interessant, danke, Sabine. Das Buch heißt natürlich Das Ende von Eddy, da hat der Buchhändler heute beim Bestellen gebraucht…
Edouard Louis ist so beeindruckend, dass es wirkt, als trüge er eine britzelnde Aura à la Superheldenfilm um sich herum. Verletzlich, gescheit und nachdenklich. Ich bin immer noch ganz baff.
27. September 2017 um 22:50
Das hätte mir als Kind auch sehr geholfen, das Bewußtmachen. Die Eskalation, jedes Mal, war eigentlich noch schlimmer als meine Wut. Der tobsüchtige Zwerg mischte alle auf. Heute fühle ich sie noch, und ich bin froh, dass sie da ist. Es gab schlechte Zeiten, in denen sie mich als einzige am Leben hielt, und ich sehe sie jetzt als Teil meiner Lebenskraft.
Beruflich nutze ich sie eigentlich nur für den Mörderblick und wenn ich jemanden beschützen will.
28. September 2017 um 8:48
“Nur Mut zur Wut” hat jemand erst vor kurzem zu mir gesagt, als ich sehr mit meiner eigenen haderte.