Journal Donnerstag, 21. September 2017 – Per Petterson, Ina Kronenberger (Übers.), Nicht mit mir
Freitag, 22. September 2017Kaum hatte ich über Sonnenlosigkeit und Kälte gemeckert, bekam ich einen Sonnentag geschenkt. Ich freute mich an Licht und Wärme schon auf dem Weg in die Arbeit.
Am Vormittag wärmte die Sonne mein Büro, auf dem Heimweg vergoldete sie Gebäude.
Bei mir ums Eck erlebte ich Einkauf in einem Laden, in dem nur Englisch gesprochen wurde: Die junge Dame, einziges Personal, sprach mich auf Englisch mit osteuropäischem Akzent an, ich antwortete auf Deutsch, sie reagierte auf Englisch. Und bestätigte mir auf Nachfrage, dass sie überhaupt kein Deutsch spreche, hihi. Das ist mir in München original noch nie passiert. Die Dame meinte aber, sie habe vor, mal Deutsch zu lernen – sei das nicht recht schwer?
Ich hieß sie in Deutschland willkommen und verkniff mir Altfrauenerzählungen von meinem Vater, der vor über 50 Jahren ohne Deutschkenntnisse nach Deutschland kam und schon nach einem Jahr als Übersetzer für Neuankömmlinge fungierte. Für ihn hatte möglichst schnelles Deutschlernen Prio eins – als Elektriker hing ja auch sein Leben davon ab, dass er seine deutschen Kollegen in der Fabrik verstand.
Was mich tatsächlich irritierte: Ich traf die Dame im nördlichen Bahnhofsviertel an, in dem der Migrantenanteil schon immer sehr hoch war – und in dem die Lingua franca immer Deutsch war, egal mit welchem Radebrechanteil. Bislang gab es hier halt keine “Expats”, sondern “Ausländer”. Vielleicht ändert sich das ja gerade. Die Spezialisierung dieses konkreten Ladens lässt die Prognose zu, dass hauptsächlich Anglophile dort einkaufen werden. Ich bin sehr gespannt, ob mein Zuhauseviertel gerade ein fundamental anderes wird.
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In der Abenddämmerung spazierte ich mit Herrn Kaltmamsell zum Treffen unserer Leserunde nach Untergiesing. Wir freuten uns sehr, dass wir im Südfriedhof und über der Isar Fledermäuse flattern sahen.
Das Buch, über das wir sprachen, war Per Petterson, Ina Kronenberger (Übers.), Nicht mit mir, das ich im Spanienurlaub gelesen hatte. Der Roman erzäht die Geschichte der früheren Freund Jim und Tommy. Er beginnt mit der überraschenden Wiederbegegnung, als die beiden um die 50 sind: Jim angelt gerade, Tommy erkennt ihn beim Vorbeifahren aus dem Auto, bleibt stehen und spricht ihn an. Schon hier wird klar, dass sich die Lebenssituation der beiden seit ihrer gemeinsamen Jugend verkehrt hat – und wir haben einen Anlass für das Erzählen ihrer Geschichte. Sie waren Nachbarskinder, Schulfreunde. Tommy befreite sich als Kind von einem prügelnden Vater, Jim rebellierte gegen seine frömmelnden Mutter. Ihre Freundschaft zerbricht an dem Umstand, dass Menschen am schlechtesten denen verzeihen können, denen sie Schlimmes angetan haben.
Wir alle fanden den Roman gut, waren aber unterschiedlich berührt davon. Ich fand ihn sehr gut strukturiert, mochte den Rhythmus der Geschichte und die Erzählökonomie, die mit wenigen Informationen die Türen zu vielen weiteren Geschichten öffnete, zum Beispiel zum Schicksal von Tommys Geschwistern. Meiner Ansicht nach hätte Nicht mit mir nicht nötig gehabt, gegen Ende mit plötzlichen Verbindungen zwischen Handlungssträngen zu überraschen. Den offenen Schluss mochte ich wieder sehr gerne – einen Roman anständig zu Ende zu bringen, ist eine Kunst.
Einig waren wir uns in einer zentralen Kritik: Jim und Tommy sind zu schwer zu unterscheiden, wenn aus ihrer personalen Perspektive erzählt wird und wenn sie sprechen – jeder und jede von uns musste immer wieder nachschlagen, wer gleich nochmal wer ist. Und das, wo die Geschichte davon lebt, dass die beiden Figuren extrem verschieden sind und dennoch eine tiefe Freundschaft schließen. Ich gab allerdings zu bedenken, dass das an der Übersetzung liegen mochte, dass das norwegische Original vielleicht sprachliche Mittel gefunden hatte, sie stärker zu profilieren.
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Sie kennen diesen Kalenderspruch, man solle das, was man gerne täte, nicht auf irgendeinen späteren Zeitpunkt verschieben? Nicht auf nach Erledigung von diesem und jenem oder gar nach das Berufsleben? (Mir fällt gerade keine konkrete Formulierung ein, die vor das Foto eines karibischen Sonnenuntergangs passt, bitte um Vergebung.) Das wäre bei mir nichts tun zu müssen. Was ich ab sofort so oft wie möglich tun werde und als Rechtfertigung dafür anführe, dass ich so wenig engagiert oder ambitioniert bin. HA!