Archiv für September 2017

Journal Dienstag/Mittwoch, 12./13. September 2017 – Durchhalten

Donnerstag, 14. September 2017

Ich brachte es nicht fertig, den Wecker für Dienstagmorgen auf Frühsport-kompatible Zeit zu stellen, kämpfe ich doch noch genug mit Wecken um 6 Uhr.
Dienstagabend Friseur, Haupthaar ist jetzt wieder KUCHZ!
(Und ich bekam Filmchen von Psytrance-Festivals in Kroatien und Ungarn gezeigt – völlig neue Welten!)

Die Heizung in der Wohnung zickt rum, mal wird sie mehr, mal weniger warm, aber nie so richtig heiß.

Mittwochmorgen auf dem Weg in die Arbeit war es saukalt – ein bisschen Spätsommer hätte ich schon ganz gerne gehabt.
Seltsam, die im Urlaub wandergebräunten Beine gar nicht beim Röcketragen vorzeigen zu können.

Mittwochabend dann stürmisch und überraschend mild. Ich fuhr nach der Arbeit ins Sportstudio am Ostbahnhof: Zum einen hatte ich am Sonntag dort ein Kleidungsstück vergessen (war blöderweise nicht abgegeben worden), zum anderen für Krafttraining. Auch wenn der gereizte Nackennerv sich fast ganz beruhigt hat (Schmerzen gar nicht mehr, Kribbeln und Taubheit im Arm selten), bin ich noch unsicher, ob Oberkörperübungen nicht vielleicht doch schaden.

Meine Energie geht für Ausblenden und Verdrängen drauf.

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Die New York Times greift die unheilige Rolle auf, die die Automobilindustrie in Deutschland spielt:
“As German Election Looms, Politicians Face Voters’ Wrath for Ties to Carmakers”.

Erster Satz:

Sometimes it is hard to tell where the German government ends and the auto industry begins.

Sag ich doch. Seit Jahren.
Was ich nicht sehe: Dass sich die Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland daran stoßen könnten, denn Deutsche = Autos. Individualmobilität mittels Auto, massenhaften Autobesitz oder auch nur die Erstrebenswertheit eines möglichst teuren Autos in Frage zu stellen wird etwa so ernst genommen wie eine Forderung nach Abschaffung der Sonne. Zudem: “Aber die Arbeitsplätze!” Deutschland hat sich komplett von der Automobilindustrie abhängig gemacht: Keine Kultur, kein Sport ohne Sponsoring durch die Automobilindustrie (sprechen Sie mal mit Ingolstädterinnen, die sich für historisch verwurzelte Alternativen wie den Konzertverein einsetzen), kein stetiges BIP-Wachstum denkbar ohne. Doch weiterhin ist die Konsequenz nicht etwa Diversifizierung oder gar Überdenken des hirnlosen Luxusstrebens, sondern: Staatsgelder für die Erhaltung der Automobilindustrie in ihrer jetzigen Form.

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Zeit online veröffentlicht eines der selten Interviews mit der klugen Lyssa, Katharina Borchert. Sie spricht über Frauenanteil in der Technikbranche und darüber, wie man Diversität in Unternehmen wirklich voranbringt (Spoiler: nicht mit Flyern).

“‘Warum sollte ich lernen, anderen ins Wort zu fallen?'”

Bevor ich zu Spiegel Online kam, hatte ich einen Coach. Da habe ich gelernt, wie wichtig Körpersprache ist, wie man sich größer macht und mehr Raum einnimmt. Aber das ist nicht mein Stil. Überhaupt gehen solche Trainings in Deutschland im Medienumfeld meist in die Richtung: Wie kann ich mich als Frau besser in einer Männerwelt zurechtfinden? Ich finde den ganzen Ansatz absurd. So viele von uns, und das schließt Männer mit ein, erleben die Unternehmenskultur doch als negativ. Warum muss ich dann noch mehr Leuten beibringen, anderen ins Wort zu fallen, lauter zu reden und sich noch mehr in den Vordergrund zu drängen?

Womit sie die grundsätzliche Kritik der Feministin Antje Schrupp unterstützt: Dass Frauen keineswegs toxische Männerkultur übernehmen sollen, sondern dass die Mechanismen dieser Kultur schlecht sind und sich ändern müssen, damit Frauen sich entfalten können.

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Allerliebst: Museumsbesucher und -besucherinnen entdecken sich auf alten Gemälden.
“10+ Times People Accidentally Found Their Doppelgängers In Museums”.

Journal Sonntag/Montag, 10./11. September 2017 – Kalt

Dienstag, 12. September 2017

Ein kalter und regnerischer Sonntag.

Vormittags zu Fuß unterm Schirm zum Sportstudio, dort die eine oder andere Runde Bewegung, zu Fuß wieder heim.

Am frühen Nachmittag trafen Übernachtungsgäste ein, die bald genauso frieren mussten wie ich: Die Heizung funktionierte immer noch nicht, zum Shirt und Pulli gesellte sich dicke Wolljacke.

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Der erste Arbeitstag nach dem Urlaub war dann am Montag nicht so schlimm wie befürchtet: Alles machbar, keine bösen Überraschungen. Zudem blieb das Wetter trocken, und als ich heim kam, funktionierte die Heizung.

Abends auf arte auf den Ufa-Film Glückskinder von 1936 gestoßen – eher als Zeitzeugnis interessant denn als Filmkunst. Interessant aber: Der zentrale Schlager des Films ist “Ich wollt’ ich wär’ ein Huhn”, das hier einen ganz anderen Text hat als die bekannte Version der Comedian Harmonists.

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https://youtu.be/1hgUx9h3nU4

Journal Samstag, 9. September 2017 – Alles über Spanien

Sonntag, 10. September 2017

Es ist ganz erstaunlich, dass sich lebendige Sachen einfach weiterentwickeln. Da sieht man alle zehn Jahre nach Spanien, und jedesmal sind einige Seiten anders oder weg, die man bislang als typisch spanisch im Kopf hatte.1

Die Tapaskultur hat sich gewandelt. Früher (zum Teil noch vor zehn Jahren) stellte die traditionelle kastilische Bar an der Theke eine Reihe von Pinchos, Tapas, Raciones bereit; als Gast saß man an der Bar und bestellte sich davon etwas. Heute gibt es statt dessen eine Speisenkarte mit “Tapas y Raciones”, die meisten Bars wurden durch Mischungen aus Bar und Restaurants ersetzt, die Theke selbst ist meist so kahl und leer wie eine deutsche.

Wieder verstärkt erlebte ich aber, was ich vor zehn Jahren bereits verschwinden sah: In den Bars gibt es zum Getränk (mit oder ohne Alkohol) immer eine Kleinigkeit zu essen, das reicht von ein paar Oliven oder Erdnüssen bis zu einem ordentlichen Stück Tortilla oder einem Schälchen frittierter Calamari.

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Beim Personal in der kastilischen Gastronomie gab es einen Generationenwechsel. Hinter der Bar eines spanischen Lokals stehen eigentlich grimmige Kellner männlicher Natur in weißem Hemd und schwarzer Hose. Außer halt gar nicht mehr. Schon vor zehn, auch schon vor 20 Jahren gab es immer mehr Frauen, die Standardkluft wurde immer häufiger durch etwas Lokal-einheitlich Gebrandetes ersetzt, und mittlerweile ist das Personal natürlich sehr oft nicht gebürtig spanisch – Gastronomie ist die klassische Einstiegsbranche für Eingewanderte.

(“A clean, well-lighted place” muss dennoch nicht umgeschrieben werden.)

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Radler (clara) und tinto de verano sind als bestellbare Getränke eh etwas aus den jüngeren Jahrzehnten; inzwischen wurde ich beim Bestellen gefragt, ob ich sie mit Casera (süße, klare, unaromatisierte Limo – früher das einzige Verdünnungsmittel) oder Limón (sehr süße, trübe Zitronenlimo) wolle. Ich habe beides auch mit Limón ausprobiert: Ist mir viel zu süß.

Kaffeegetränke mit Milch (café con leche, cortado) haben inzwischen auch in Spanien Milchschaum.

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In Madrid gibt es Leihfahrräder mit Elektromotor. Radlerinnen und Radler sind immer noch ein seltener Anblick, hin und wieder sah ich Privatradlerinnen (und war sofort bereit, sie als Zuwanderer einzustufen), doch regelmäßig sausten in den Altstadtgassen junge Nutzerinnen und Nutzer der weißen Fahrräder mit Motor an mir vorbei – der in einer überraschend hügligen Stadt wie Madrid sicher ein Anreiz ist. Das System gibt es seit 2014 und liest sich vorbildlich.

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Gestern Heimkommen: Erstes Wäschewaschen, Besorgung von Basisnahrungsmittel und Brotzeit für die anstehende Arbeitswoche, Isarlauf.


Heftige Sturmschäden am Isarhochweg vor Pullach.

Ich fror in der Wohnung und wärmte mich mit Socken, Strickjacke, heißem Tee: Die Heizung ist offensichtlich noch nicht angeschaltet – sie rauscht ruhig und ohne Gluckern, doch die Heizkörper werden nur minimal warm.

The Power von Naomi Alderman ausgelesen: Hervorragend ausgedacht, strukturiert und erzählt. Ich hoffe, ich raffe mich noch zu Details auf.

Urlaub vorbei.

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Wurde gestern in meiner Twitter-Timeline vielfach herumgereicht, zu Recht. Anja Maier schreibt für die taz:
“Wiedervereinigung und die Wahl
Merkels vergessene Schwestern
Die sächsische SPD-Politikerin Petra Köpping hört den Verlierern der Wende zu. Die erzählen von der Arroganz des Westens und ganz realer Benachteiligung.”

„Es gibt unzählige Beispiele, wie damals Menschen über den Tisch gezogen wurden, weil sie – oftmals zutiefst blauäugig – die neuen Regeln nicht überblicken konnten“, hat Köpping in ihrer Rede zum Reformationstag ausgeführt. Da sei ein „Stachel der Demütigung“. Viele Leute hätten sich damals gefragt: Und das soll Demokratie sein?
Schuld am Frust sei eigentlich nicht die Demokratie als staatliches Prinzip gewesen. Vielmehr sei die Wiedervereinigung in eine historische Phase gefallen, in der westdeutsche Eliten im Osten ihren lang gehegten neoliberalen Traum verwirklicht hätten.

  1. Das ist übrigens eine der gefährlichen Seiten des Älterwerdens: Immer häufiger muss man etwas, was man aus eigenem Erleben zu wissen glaubt, lieber nochmal checken, weil das Erleben so lange her ist, dass eventuell in der Zwischenzeit alles anders geworden ist. []

Journal Freitag, 8. September 2017 – Rückreisetag

Samstag, 9. September 2017

Da wir die Ferienwohnung um 11 Uhr verlassen mussten, war bereits klar, dass wir vor unserem Drei-Uhr-Flug eine Weile auf dem Madrider Flughafen verbringen würden. Die mehr als zweistündige Verspätung des Flugs (technische Probleme am Flugzeug, Warten auf andere Maschine) machte einen Flughafentag daraus. (Deshalb, liebe Kinder, solltet ihr immer sehr sorgfältig die Lektüre für solche Reisetage wählen. Ich hatte The Power von Naomi Alderman frisch angefangen und war so angetan von dem Roman, dass ich fast gar nichts gegen die vielen Stunden Herumsitzen hatte.)

Davor hatten wir bereits eine interessanten Trick der Madrider Verkehrbetriebe kennengelernt: Die U-Bahn-Fahrt zu den beiden Flughafenstationen kostet drei Euro Aufschlag, die zur Station dazwischen (Ort Barajas) nicht. Weil die wenigsten diese Dreistigkeit aufs erste Lesen verstehen, stranden die meisten wie ich am Flughafen, werden mit ihrem Ticket nicht rausgelassen und müssen nachlösen. Das war eine kleine Eintrübung meiner sonstigen Begeisterung über den Metro in Madrid: Zum Weinen günstig (im sehr großen Innenbereich kosten Einzelfahrten zwischen 1,50 und 2 Euro), störungsarm und einfach zu bedienen (man gibt am Automaten die Zielstation an und erfährt den Fahrpreis, zudem gibt es Mehrfachkarten, von denen abgebucht wird). Allerdings wäre eine Rollstuhlfahrerin wohl deutlich weniger begeistert: Ich habe fast keinen Aufzug gesehen.

Ich lerne auf fast jeder Flugreise neue Fluggesellschaften kennen; diesmal brachte uns Air Europa nach München, wir landeten nach neun im Dunklen und herbstlich Kühlen.

Auch die Wohnung empfing uns kühl. Doch alle Pflanzen waren gesund und munter, die Post enthielt keine bösen Überraschungen, Herr Kaltmamsell stellte sich umgehend in die Küche und servierte zu spanischen Abendessenszeiten Spaghetti al olio.

Journal Donnerstag, 7. September 2017 – Spanien 18, Abschied von Madrid

Freitag, 8. September 2017

Ein letzter Urlaubstag in Madrid. Eigentlich wusste ich gar nicht, wie ich alle restlichen Vorhaben unterbringen sollte, all die Museen, das Freibad, die Fressempfehlungen, die Fresssehnsüchte. Die einzige Lösung: Nichts davon tun, bloß herumlaufen. (Wobei ich ja schon vom typischen Madrider Sommergeruch betrunken werde, der mir morgens beim Schritt vors Haus entgegenkommt – und dem das Fehlen der dominanten Autoabgase meiner Kindheitsurlaube nichts anhaben kann. Ich vermisse so gar nicht, abends schwarz zu schneuzen.)

Dieses Herumlaufen kann ich inzwischen wirklich gut: Anfänger von meiner Natur glauben, man könne sich einfach ziellos auf den Weg machen (Leute anderer Natur arbeiten mit dem Konzept “sich treiben lassen” – hahahaha). Aber das klappt nur mittelgut, besser ist es, sich ein beliebiges Ziel zu setzen und ohne Zeitdruck dorthin zu mäandern. Erstes Ziel war also eine Weinhandlung in Lavapiés, mit dem Wunsch von Herrn Kaltmamsell nach einem Jamón-Snack unterwegs. Der Snack klappte, die Tür der Weinhandlung stand offen, doch man erklärte uns, sie sei geschlossen und öffne erst um sieben Uhr abends. Nun, dann bringe ich halt nur Kaffee mit von der Reise.

In einem Geschäft für Berufsbekleidung: Rechts typisch kastilisches Dienstmädchen-Outfit seit vielen Jahrzehnten, vor allem die weiße Rüsche fürs Haar mit schwarzem Band (alte Filme!).

Zweites Ziel war das Zentrum des derzeitigen Madrider Foodietums, die Calle de Ponzano in Chamberí. Dorthin spazierten wir mit einem Umweg über die Touri-Meilensteine Ópera, Palacio real, Plaza de España. In der Calle de Ponzano gab es tatsächlich viele interessant aussehende Lokale, viele davon auch voller Mittagessensgäste – wie erwartet war ich überfordert. Wir schafften es dennoch in ein Lokal und aßen passable Pinchos und Salat.

Abends gingen wir nochmal aus dem Haus, ums Eck unserer Unterkunft gab es ein uriges kleines Beisl, das vor allem madrider Innereienküche anbot. Dort aßen wir callos a la madrileña, ich freute mich über die nette Bedienung, die uns inmitten von Touristentrubel abschließend ein Stamperl Süßwein ausgab.

Journal Mittwoch, 6. September 2017 – Spanien 17, Sepúlveda mit Geiern, Schwalben, Milchlamm

Donnerstag, 7. September 2017

Schön war’s gestern. Ich bin halt nur ausgesprochen unentspannt, wenn ich Fahrten nicht wie gewohnt von A bis Z durchplanen kann.

Das Abenteuer bestand darin, ohne Auto einen Ausflug nach Sepúlveda zu machen; von dort ums Eck kommt meine großmütterliche Familie, ich verbinde mit dem malerischen Örtchen viele Kindheits- und Jugenderinnerungen. Außerdem ist Sepúlveda weithin berühmt für Milchlamm aus dem Bäckerofen (cordero asado), das wollte ich gerne mal wieder essen.

Zug fährt gar keiner hin (es gibt dann doch erstaunlich wenige Gleisverbindungen in Spanien, mag mit der spärlichen Besiedlung des Landes zu tun haben), Linienbus gesichert nur zweimal am Tag bis Boceguillas, was 12 Kilometer vom Zielort entfernt liegt. Zum letzte Stück waren Informationen im Web spärlich und widersprüchlich. Einige Quellen rieten zu Taxi (mit der Empfehlung, dieses zu bestellen, denn vor Ort gebe es keines), manche Reiseplattformen gaben eine regelmäßige Busverbindung an, doch auf der Website des angegeben Busunternehmens (keine Suchfunktion) war der einzige Hinweis das PDF eines schief eingescannten Tabellenausdrucks. Ich sah uns schon in Boceguillas gestrandet (= Nirgendwo an der Autobahn nach Burgos, 750 Einwohner) auf den einen Abendbus zurück nach Madrid wartend. Doch Herr Kaltmamsell argumentierte: “Na und, dann müssen wir halt genug zu lesen dabei haben.” Ich kaufte also online zwei Tickets hin und zurück nach Boceguillas. Und tatsächlich kamen wir nach Sepúlveda, ich konnte den kleinen kastilischen Teil meiner Seele streicheln lassen.

Erstes Abenteuer war allerdings der Madrider Busbahnhof an der Avenida de América, der drei weitläufige unterirdische Ebenen umfasst und sich nicht eben um Informationstransparenz bemüht. Doch selbstverständlich waren wir so rechtzeitig da, dass genug Zeit für die Suche nach dem richtigen Bussteig blieb.

In Boceguillas stiegen wir an einem Umsteigebusbahnhof mit Bar aus; ich fragte die Barangestellte, ob hier tatsächlich in 15 Minuten ein Linienbus nach Sepúlveda halten würde: Nein, meinte sie, den gebe es nur Dienstag und Freitag. Also Taxi, zum Glück fand die Dame in ihren Schubladen die Telefonnummer eines Taxianbieters. Als wir draußen auf diesen warteten, hielt ein kleiner Autobus der erwarteten Linie; die Barangestellte war bestürzt und verlegen, ließ sich vom Fahrer für künftige Nachfragen die Abfahrtzeiten geben – und wir ließen uns mit dem Taxi nach Sepúlveda bringen.

Fürs Mittagessen steuerte ich unter den vielen hornos wieder Zute el Mayor an. Dort gibt es nichts außer cordero asado: Wir sahen nicht mal eine Karte, kaum saßen wir, standen schon Brot und Salat vor uns, kurz darauf kam das Lamm. Nach Wünschen wurde nur bei Getränk und Dessert gefragt. Vor zehn Jahren habe ich schon mal alles zu Speisen und Lokal aufgeschrieben – und warum ich mich dem Restaurant bis heute verpflichtet fühle.

Aktualisiert werden müssen aber die Angaben zu Casa Paulino: Es gibt sie nicht mehr in der beschriebenen Form. Aus der lärmigen Bar mit sieben Metern hervorragenden und immer neuen Tapas und Raciones ist ein gesittetes Restaurant geworden, das nur noch im vorderen Bereich eine kleine Bar hat. Dort trank ich gestern zum Aperitiv einen Vermouth Segovia (schön mild).

Sehr gesättigt und mit je einer halben Flasche einfachen Rotwein aus der Gegend (Ribera del Duero) intus, spazierten wir die Gässchen Sepúlvedas hinauf und hinab. Am Himmel und in den Gassen viele Schwalben und, was ich fast schon wieder vergessen hatte, Unmengen Gänsegeier: An Sepúlveda schließt sich der Naturpark Hoces del río Duratón an, und in diesem ist eine der größten Gänsegeierpopulationen Europas beheimatet. Im gestrigen schönen Sommerwetter segelten sie zu Dutzenden auf den Thermiken, ich zählte bis zu 50 auf einmal.

Da Sepúlveda von Schluchten umgeben ist (eben den hoces) und die Geier auch hier kreisten, sahen wir sie manchmal fast auf Augenhöhe fliegen.

Zum ersten Mal sah ich mir den deutlich abgelegenen Friedhof von Sepúlveda an; überraschend viele Erdgräber (sonst sind ja Mauergräber typisch) und ein auffallendes Falangisten-Denkmal, so groß wie das größte Mausoleum auf diesem Friedhof.

Alberne Tagträumereien wie es wäre, hier ein (schwer erreichbares) Ferienhäuschen zu haben.

Derselbe Taxifahrer holte uns abends ab und brachte uns zurück zur Busstation in Boceguillas, Rückreise nach Madrid ereignislos.

Journal Dienstag, 5. September 2017 – Spanien 16, Madrid mit Vergangenheit und Einkäufen

Mittwoch, 6. September 2017

Ein bisschen mehr wollte ich gestern dann doch in Madrid machen, deshalb stand ich schon um neun auf (ich fange an, mich auf den spanischen Rhythmus einzuschwingen).

Nach Bloggen und Kaffee spazierte ich mit Herrn Kaltmamsell nach Lavapiés: Ich wollte die Tabacalera sehen, die ehemalige Tabakfabrik. Wie ich am Samstag auf der Führung erfahren hatte, hatten die Arbeiterinnen von dort nicht nur 1936-1939 die Südfront des belagerten Madrid verteidigt, sondern waren davor schon diejenigen gewesen, die das Frauenwahlrecht in der Zweiten Republik durchgesetzt hatten. Seit zehn Jahren wird der Bau als “centro social autogestionado liberador de cultura” genutzt, nachdem er die vorherigen zehn Jahre verfiel (hier ein bisschen Geschichte).

Schon auf dem Weg durch Lavapiés zur Tabacalera fiel mir auf, wie menschenbunt und ungeschleckt hier alles war: Obwohl das Viertel ganz zentral liegt (15 Fußminuten von der Plaza Mayor), scheint es ein Arbeiterviertel geblieben zu sein, heute mit vielen Einwanderern.

Fördergelder scheint das Kulturzentrum nicht zu bekommen, das Gebäude ist in ausgesprochen schlechtem Zustand – ich nehme an, dass seine Rolle für spanischen Geschichte umstritten ist. Dadurch wurde mir wieder bewusst, wie klar die Linien in der deutschen Vergangenheitsbewältigung sind; in Spanien sind die dos Españas des Bürgerkriegs bis heute lebendig (in meiner spanischen Familie verläuft die Front mitten durch). Eben darum bezweifle ich die Erklärung, die deutsche Medien immer wieder für das Fehlen einer nationalistischen Partei in Spanien anführen: Das Land habe halt schlechte Erfahrungen mit Nationalismus gemacht. Es herrscht keineswegs Konsens in der spanischen Gesellschaft, dass die Franco-Ära etwas Schlechtes war, selbst der Bezeichnung “Diktatur” für die Epoche ist umstritten.

Nächster Programmpunkt: Einkaufen fürs Abendessen, wir planten Pisto. Im Mercado von Lavapiés (sehr viel Leerstand, eine Fläche wurde für die Erklärung der Geschichte der Madrider Mercados genutzt; jetzt weiß ich, dass es diese für mich so typischen Markthallen in Madrid erst seit der Nachkriegszeit gibt) besorgten wir das Gemüse, in einer kleinen Bäckerei Brot. Wir mäanderten durch die Straßen, grobe Richtung Plaza Mayor. Mit Gebäck aus der Mallorquina (die schon auf Bürgerkriegsfotos zu sehen war) gingen wir in unsere Unterkunft.

Eine weitere Einkaufsrunde führte uns in den Corte Inglés: Wir sahen uns in der Haushaltswarenabteilung um (acht verschiedene Jamón-Halter! weiterhin Glasteller im Angebot, allerdings viel elegantere als meine), am ausführlichsten aber bei den Lebensmitteln im Untergeschoß. Worauf bereits Speisekarten und Spezialgeschäfte gedeutet hatten, bestätigte sich im Angebot: Vor zehn Jahren hatten noch Diabetikerprodukte die Sonderecken dominiert, jetzt wurde auch Spanien von Gluten und Laktose erwischt. Wir besorgten Olivenöl und Eier fürs Abendbrot. Aber die Spitzenentdeckung war dieses Produkt:

2 Liter Meerwasser für gut 3 Euro. Gebrauchsanleitung: Zum Hummerkochen unverdünnt aus dem Tetrapak verwenden, für Reis und Nudeln mit Süßwasser auffüllen. Fett Respekt für das Marketingteam, das diese Idee durchbrachte.

Der anschließende Spaziergang führte durch die Fußgängerzone in Chamberí zu einem Kaffeeladen der madrider Rösterei Pozo: Deren Website ist schon vor einigen Jahren verschwunden, sie gehört jetzt einer Unternehmensgruppe an. Ich besorgte einen Vorrat an café torrefacto.

Abends kochten wir also Pisto in unserer Ferienwohnungsküche (Herr Kaltmamsell schnippelte, ich rührte). Und bereiteten das Abenteuer für Mittwoch vor. Entweder ich habe morgen etwas Schönes zu erzählen oder ich bin ein Nervenwrack. Stay tuned.