Journal Dienstag, 12. Dezember 2017 – Wollen müssen
Mittwoch, 13. Dezember 2017Die Geschichten über den Lebensunterhalt von Großeltern (großen Dank, dass Sie sich die Mühe des Erinnerns und Aufschreibens machen!) gehen mir sehr in Kopf und Herz herum. Es scheint mir, dass sich ein Muster abzeichnet, das vermutlich historisch und soziologisch begründbar ist.
Das Erwerbsleben Ihrer und meiner Großeltern ist im Durchschnitt gekennzeichnet durch Genügsamkeit, Kurzfristigkeit, Überleben, Bescheidenheit. Es klingt durch, dass diese Menschen wussten, wo ihr Platz in der Gesellschaft war und sich dort einrichteten. Die Vertreibung aus Osteuropa bewirkte sogar eher einen gesellschaftlichen Abstieg. (Auch ich erinnere mich noch an alte Frauen, die bei jeder Gelegenheit erzählten, dass sie ihn riesigen Gutshöfen und mit Personal aufgewachsen waren – und somit eigentlich etwas Besseres.)
Unsere Eltern dann erlebten Aufstieg, Streben nach Wohlstand, genug Freiheit für berufliche Ambitionen, aber oft noch nicht genug Freiheit (materiell, gesellschaftlich, persönlich), um sie auch umzusetzen – gerade unsere Mütter.
Ich zum Beispiel habe einen mords Respekt vor meinen Eltern, die jeweils aus dem vorgezeichneten Lebensweg ausbrachen – meine Mutter aus der weiblichen Rolle (vielleicht nicht praktisch und im Erwerbsleben, sie sorgte dann doch die meiste Zeit nicht selbst für ihren Lebensunterhalt), doch als reflektierte und selbst erfundene Feministin, die sich mit jedem und jeder anlegte, die sie der Ungerechtigkeit gegenüber Frauen (wie sie Sexismus nannte) überführt sah. Und mein Vater, der aus der bitteren Armut seiner Familien und aus der Franco-Diktatur ausbrach – durch Auswandern und hart erarbeitetem materiellen Wohlstand.
Und nun wir, ganz grob die Babyboomer-Generation: Wir hatten fast alle Chancen der Welt (vor allem wenn weiß und männlich) – aber halt auch den Druck, sie wahrzunehmen und etwas aus uns zu machen. “Was du willst, das kannst du” prägte unsere Ausbildung und unser Berufsleben. Das impliziert nicht nur eine unrealistische Kontrolle über alle Aspekte des eigenen Lebens, sondern auch das Wollenmüssen: Träume haben, Ziele setzen, ihr Erreichen anstreben, Leistung gerne auch zum Preis der Selbstverleugnung, hohe materielle Ansprüche, die noch mehr Zeit für Geldverdienen erfordern. Das ist sehr weit weg von Großeltern, die mit eigener Hände Arbeit (Freunden und Nachbarn) nach der Vertreibung ein Häusl errichteten, ihr Gemüse anbauten, ihre Kleidung schneiderten und strickten und in einem kleinen Angestelltenjob das Geld für die Dinge verdienten, die sie nicht selbst herstellen konnten.
Andererseits klingt der letzte Satz schwer nach dem Landlust– und DIY-Pinterest-Leben, nach dem sich heute sehr viele zu sehnen scheinen.
Über deren Kinder wiederum höre ich aus dem Arbeitsleben, dass gerade die am besten ausgebildeten mit namhaften Praktika im In- und Ausland sowie Bestnoten (also tendenziell die aus gehobenen Gesellschaftsschichten, denn Elternhaus und Ausbildung sind deutlich enger verknüpft als bei uns Babyboomern) Jobs anstreben, die ihnen genug Zeit für eigene Interessen bieten – zumindest beruflich könnten sich der Zwang zum Wollenmüssen und Prestige durch Leistung und Selbstausbeutung verlieren.
Bei dieser Betrachtung habe ich allerdings nur diejenigen herangezogen, deren Familien spätestens seit den 60ern in deutschsprachigen Gebieten wohnen. Wenn man die Einwanderer der 80er 90er (Jugoslawienkrieg) bis heute einschlösse, sähe der Verlauf wahrscheinlich anders aus.
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Ein grauer Wintertag, nachmittags sah ich immer wieder Schneeflocken vorm Bürofenster.
Ich ging morgens endlich wieder zum Langhantel- und damit Kraftraining, merkte die zweiwöchige Pause vor allem bei den Oberkörper-Übungen.
Arbeit in heftiger Taktzahl und Länge, ich hoffe, dass es jetzt ein wenig ruhiger wird.
Zum Nachtmahl servierte Herr Kaltmamsell Bratkartoffeln (im Fett der Ente von vor Wochen gebraten) und Spiegeleier, zum Nachtisch gab es reichlich Plätzchen. Zum Lesen ins Bett kam ich nicht so früh wie geplant, weil die beim Heimkommen eingeschaltete Waschmaschinenladung statt zunächst angezeigter zwei fast drei Stunden brauchte.