Journal Dienstag, 9. Januar 2018 – Robert Menasse, Die Hauptstadt

Mittwoch, 10. Januar 2018 um 7:01

Gestern traf sich unser kleiner Lesekreis, um über Robert Menasses Roman Die Hauptstadt zu sprechen. Ergebnis: Alle mochten ihn. Mich hatte bereits der Prolog begeistert, in dem wir wie in einer Filmfahrt einem entflohenen Schwein durch Brüssel folgen, das uns von Schauplatz zu Schauplatz und damit zu den handelnden Personen bringt: Da versteht jemand sein schriftstellerisches Handwerk, und in der deutschsprachigen Literatur unserer Zeit erleichtert ja bereits das und ist höchstes Lob wert.

Die Hauptstadt setzt sich aus vielen Personen und vielen Handlungssträngen zusammen; ich verlor schnell den Überblick und sehnte mich nach einer Seite mit Dramatis personae – doch gerade das langsame Entwickeln der Figuren macht die Handlung aus. Wir lernen Brüssel und damit den Maschinenraum der Europäischen Union kennen, und zwar anhand von verschiedenen Projekten: Die Feier zum Gründungsjubiläum der Europäischen Komission (nein, nicht Gründung der EU), ein Think-Tank-Treffen, Verhandlungen um Schweineexport. Und das mit einer wilden Mischung an Menschen, wie sie vermutlich nur Brüssel zusammenbringen kann, vom italienischen Adligen über die hochgearbeitete cypriotische Griechin bis zum schwarzen Schaf einer österreichischen Schweinebauernfamilie. Dazwischen als weiterer Handlungsstrang ein Mordfall, der uns als tatsächlichen Bürger Brüssels einen Kommissar nahebringt, und der Auschwitzüberlebende pensionierte Lehrer David de Vriend.

Viele dieser Handlungsstränge bleiben bis zum Schluss offen, so erfahren wir nie, was aus dem polnischen Auftragskiller der katholischen Kirche wird (Sie müssen wissen, dass die katholische Kirche den am besten funkionierenden Geheimdienst Europas unterhält) oder wie die Jubiläumsfeier nun aussehen wird. Doch sie alle zeichnen das Wimmelbild des heutigen Europa, inklusive eingestreuten Zitaten in den Sprachen möglicherweise aller Mitgliedsländer.

Das ist mit Leichtigkeit und souverän erzählt, das Sujet selbst macht den Roman für deutschsprachige Literatur exotisch. Ein Mitlesender unserer Runde fand sich an den britischen Universitätsroman erinnert, auch ich assoziierte streckenweise David Lodges Small World – Arbeitsumgebungen (außer der eines Schriftstellers) kommen nicht oft in deutschsprachigen Romanen vor. Ich kann die Auszeichnung mit dem deutschen Buchpreis gut verstehen und empfehle die Lektüre.

Gestern Abend entspann sich aus dem Gespräch über das Buch eine Diskussion über die Legitimation der EU-Regierung – ich verweise hiermit wieder auf die Zusammenfassung der Strukturen von novemberregen.

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Früh morgens war ich beim Langhanteltraining gewesen: Neues Programm, Hot Iron 2. Ich reduzierte vorsichtshalber die Gewichte, um mich zunächst auf Technik und saubere Ausführung konzentrieren zu können, wäre aber nicht nötig gewesen. Das Programm enthält enge Liegestütz – wie immer kommt mein ROM (range of motion) da nicht über wenige Zentimeter hinaus, Nackennerv-bedingt. Ich hatte Spaß, musst das Stretching aber wieder ausfallen lassen, um rechtzeitig zu meinem 9-Uhr-Termin zu kommen.

Wetter gemischt mit bunten Wolken, nach Feierabend spazierte ich in wundebar milder Luft heim. Ich genieße die Temperaturen, fühle mich damit in der ersten Januarhälfte aber unwohl: Nicht dass wieder alles grünt und blüht, um dann von einem späten Frost im April getötet zu werden.

die Kaltmamsell

2 Kommentare zu „Journal Dienstag, 9. Januar 2018 – Robert Menasse, Die Hauptstadt

  1. lihabiboun meint:

    Hach, wer kann solchen Buchbeschreibungen widerstehen? Ich nicht, also wächst mein Stäpelchen neben dem Bett weiter … – wobei ich ja finde, nix ist beruhigender als ein ordentlicher Lektüreberg! DANKE!

  2. Buchfink meint:

    Anscheinend sind Lesekreise wieder in Mode und in meinem soll jetzt auch der Menasse gelesen werden. Ich bin sehr gespannt

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