Journal Freitag, 9. Februar 2018 – Deborah Feldman, Unorthodox / Freundinnenbesuch
Samstag, 10. Februar 2018 um 10:59Gestern traf sich unsere kleine Leserunde, um über Deborah Feldmans Unorthodox zu sprechen; eine Mitleserin hatte die Autorin auch kürzlich bei einer Podiumsdiskussion erlebt. Ich war diesmal besonders auf die Urteile und Leseerlebnisse der anderen gespannt, um sie mit meiner sehr gemischten Sicht abzugleichen. Denn ich hatte durch diese Autobiografie zwar viel über die Ideologie und Ursprünge der Hassidim gelernt, auch über die oft haarsträubenden Details der konkreten beschriebenen Spielart. Und ich erkannte das Muster, das sie mit allen radikalreligiösen Sekten und Esoteriken verbindet: Je absurder der Glauben, je weiter weg von Ratio und sonstigem gesellschaftlichem Konsens, desto inniger und richtiger fühlt er sich für die Mitglieder der Gemeinschaft an.
Doch, und jetzt kommt das große Aber: Ich fühlte mich beim Lesen unwohl. Feldman schreibt ja nicht nur intime Details über sich selbst, sondern entblößt bis ins Intimste andere Menschen von Verwandten bis Ehepartner – echte Menschen, die sich nicht wehren konnten. Das ist in meinen Augen unanständig und gemein. Ihre eigene Befreiung ist durchaus interessant und sei ihr unbenommen; schließlich zeigt sich Deborah Feldman überzeugt, dass sie von Kindesbeinen an nicht wirklich dazu passte. Doch dass sie die Privatsphäre so vieler anderer Menschen für ihre Geschichte ausschlachtet, kann ich nicht gut heißen.
Gleichzeitig hatte ich ständig ein Gegenbeispiel im Hinterkopf, wie man die Mechanismen einer hassidischen Gemeinschaft interessant vermitteln kann, ohne jemanden zu bloß zu stellen: Naomi Aldermans Disobedience fiktionialisiert und literarisiert das Thema. Der Roman spielt im Norden Londons unter den dortigen ultraorthodoxen Juden und erzählt die Geschichte einer Rabbinertochter, die einst ausbrach und nun anlässlich des Todes ihres Vaters zurück kommt.
In unserer Leserunde hatten fast alle Feldmans Buch mit ähnlichem Unbehagen gelesen wie ich. Es wurde auch Kritik laut über die große Selbstzentriertheit der Autorin, die sich auf Kosten aller anderen Beschriebenen in möglichst gutem Licht darstelle. Nur eine Mitleserin stand ganz auf Feldmans Seite und fand ihre öffentliche Rache nachvollziehbar und berechtigt.
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Sonst ein ruhiger Arbeitstag, auf dem frostigen Heimweg ging ich im Westend bei einem Laden mit Feinkost und Wein aus Griechenland vorbei, um für den Abend Weißwein zu besorgen. Es wurde ein Nykteri aus Santorini (mineralisch, etwas Holz), der gut zu den beiden Currys passte (Palak Paneer, Auberginen-Kichererbsen-Tomaten-Curry), die wir servierten. Dass daheim beim Mantelablegen die Tasche mit den Einkäufen vom Fenstersims fiel und eine der drei Weinflaschen darin zerbrach, hätte es allerdings nicht gebraucht. (Herr Kaltmamsell hörte mein verzweifeltes “NEIN!”, eilte herbei, schickte mich sofort weg von der Unglücksstelle – “Geh kochen” – und kümmerte sich um die Sauerei.)
Der Übernachtungsbesuch kam erst nachts von seinem Münchenbesuchsanlass zurück, hatte aber schon vorher für herzhaftes Gelächter und für Freude gesorgt. Wir hatten die Freundin darauf hinweisen müssen, dass derzeit das Wasser in unserer Dusch-/Badewanne sehr langsam abläuft (Rohrfrei hatte nichts verbessert) – wir aber noch keine Zeit gefunden hatten, den Spengler kommen zu lassen. Bei meiner Heimkehr lag dieser Zettel im Wohnzimmer:
Große Liebe für diese Freundin. Genau so erlebe ich sie, seit wir uns im ersten Semester kennenlernten: Hinschauen, zupacken, machen – und gleichzeitig genau abschätzen, bei wem sie wie weit gehen kann. Und nachts brachte sie dann auch noch neue Zahnbürsten als Geschenk mit. DARF WIEDERKOMMEN! (*winkt*)
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Interview mit Alexander Gerst, der Anfang Juni zum zweiten Mal zur Internationalen Raumstation ISS fliegt:
“‘Und dann ist es wirklich schön, die Milchstraße zu sehen'”.
Interessant, wie oft Gerst die zwischenmenschliche Komponente betont, wie wichtig es ist, dass die Mitglieder einander wirklich verstehen und wissen, was der oder die andere meint. Zudem die Antwort auf eine Frage, die auch ich mir gestellt habe: Geht man sich auf der ISS nicht zwangsläufig irgendwann auf die Nerven?
Bei meinem letzten Flug gab es wirklich keine Situation, wo wir uns irgendwie richtig angenervt hätten. Das liegt daran, dass wir als Kollegen nicht einfach nur zusammengewürfelt werden. Wir trainieren so lange in den krassesten Situationen, beim Winter Survivaltraining, bei -30 Grad etwa, wo man ohne Schlafsack, ohne Zelt nachts draußen im Schnee sitzt. Da kommen diese Sachen vorher raus. Man lernt sich kennen und weiß, wo der andere vielleicht ein bisschen was für sich braucht. Und dann kommt noch das große Volumen der Raumstation dazu. Die ist ja fast so groß wie eine Boeing 747 – und man ist zu sechst da. Das heißt, es passiert tatsächlich öfter mal, dass man einen halben oder ganzen Tag in irgendeinem Modul arbeitet und fast niemanden sieht. Und da haben wir uns immer wieder auch mal so auf einen Kaffee getroffen, einfach nur, um mal wieder mit den Kollegen zu reden. Relativ wenige Aufgaben macht man zu zweit, und dadurch ist es wirklich schön, wenn man sich sieht.
Sich in einer Raumstation auf einen Kaffee treffen – neues Coolness-Level.
(Beim Lesen habe ich immer mein inneres kreischendes Fangirl im Hinterkopf – das stört tatsächlich manchmal ein bisschen die Konzentration.)
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Der Philosoph Konrad Paul Liessmann im Gespräch:
“Mensch und Arbeit
‘Wir binden alles an Lohnarbeit'”
Man könnte das ja auch so sehen, dass wir so besessen sind vom Paradigma der industriellen Arbeit, dass für uns Dinge nur dann einen Wert haben, oder besser gesagt Tätigkeiten nur dann einen Wert haben, wenn ich sie als Arbeit auffasse.
(…)
Es ist doch paradox, obwohl schon so viel automatisiert wird und in naher Zukunft noch automatisiert werden wird, dass wir nicht das Gefühl haben, wunderbar, da gibt es endlich Maschinen, die uns die Arbeit abnehmen. Ganz im Gegenteil. Wir haben größte Sorge, dass die uns nicht die Arbeit abnehmen, sondern uns die Arbeitsplätze wegnehmen, und da ist insgesamt, was die Rahmenbedingungen unserer Arbeitsorganisation betrifft, offensichtlich etwas schiefgelaufen.
Daran denke ich ja schon länger herum, zum Beispiel an dem Umstand, dass aller technischer Fortschritt keineswegs dazugeführt hat, dass wir weniger Zeit für Erwerbsarbeit aufwenden. Notfalls erfinden wir Tätigkeiten und Berufsbilder, um einen Platz im Arbeitsleben zu finden, an dem wir Überstunden machen können.
Tatsächlich gelingt es mir, mich immer weniger über meine Erwerbsarbeit zu definieren. Erst kürzlich winkte ich wieder in einem angeregten Gespräch auf die Frage “Und was machst du beruflich?” ab: “Ach, Sekretärin.” Womit ich auf keinen Fall diese Tätigkeit abwerten will, sondern lediglich signalisiere, dass sie in meinem Leben keine bedeutende Rolle spielt und ich nicht weiter darauf eingehen werde.
Dummerweise hindert mich dieser Fortschritt nicht daran, mich dieser Erwerbstätigkeit sehr verpflichtet zu fühlen; zum Beispiel habe ich bis heute ein schlechtes Gewissen, wenn ich zuweilen andere Belange priorisiere.
15 Kommentare zu „Journal Freitag, 9. Februar 2018 – Deborah Feldman, Unorthodox / Freundinnenbesuch“
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10. Februar 2018 um 11:09
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Gerne gelesen
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10. Februar 2018 um 11:37
Wieder sehr guter Beitrag, besonders der Spengler find ich toll, weil hier im Badischen das Wort kaum noch benutzt wird. Zum Thema Selbstsicht zur Arbeit- mein Mann und ich führten 20 jahrelang eine kleine Werbeagentur mit Industrie und Oharmakunden, er das visuelle und den Kontakt, ich Text, Konzept und die übrige Organisation bis hin zur Druckabnahme.Nebenbei manged ich den Einkauf von Dekoartikeln in Asien mit Lieferantenbesuchen vor Ort in Hongkong und China, dazu kam mein Fotokochen in einem Foodfotografiestudio für über 30 Kochbücher für G+U und andere Verlage und jetzt kommt’s- wenn mich jemand gefragt hat“ und was machst Du so“ – dann kam meine Standardantwort …“Hausfrau …“ nur um nichts erklären zu müssen.Richtig doof, aber ich war die skeptischen Blicke einfach leid! Jetzt kann ich total entspannt auf die Frage antworten Renterin- das ist so befreiend auch wenn ich jetzt immernoch mit einer Vielzahl von Dingen herumwirbel.
Schönes Wochenende
Hildegard
10. Februar 2018 um 12:56
Und dann sind da Menschen, die leuchten. In deren Dasein sich alles ganz natürlich zu fügen scheint. Commander Gerst ist einer von ihnen.
10. Februar 2018 um 13:31
“… sondern entblößt bis ins Intimste andere Menschen von Verwandten bis Ehepartner… ”
Nur dadurch konnte sie sich befreien. 20 Jahre lang eingesperrt, zwangsverheiratet, vor der Verwandtschaft entblößt, auf sich allein gestellt, keine Unterstützung, Angst vor Verfolgung und Strafe. Vor diesem Hintergrund können die intimen Details bewertet werden, und sie schont sich selbst nicht.
10. Februar 2018 um 15:51
So argumentierte auch die Rache-Befürworterin unter uns, Hauptschulblues.
10. Februar 2018 um 16:01
Aus Erfahrung (mein Papa ist Installateur): nehmen’s kein Rohrfrei, das greift die Plastikteile der Leitung an. Stattdessen Backpulver mit Essig rein, 3 Minuten einwirken lassen und mit kochendem Wasser nachspülen.
Wirkt.
10. Februar 2018 um 18:23
Um das Thema Hassidim zu erweitern, möchte ich die Folgen 23+24 des von mir sehr geschätzten Podcasts Reply All empfehlen (Exit and Return 1+2), die die Kollision dieser Welt mit dem Internet beschreiben. Am Schluss der letzten Folge bekommt man durch die eigenen Kopfhörer demonstriert, wie Wärme und Richtigkeit einer engen religiösen Gemeinschaft aussehen kann.
Reply All ist überhaupt eine schöne Sendung für Menschen, die sich schon lange und viel im Internet aufhalten.
Das Feldman-Buch kann ich mir wohl sparen, ja? Naomi Alderman hat bei mir jetzt schon einen großen Stein im Brett, obwohl ich nach Roxys Operation erst mal eine Pause in der Lektüre von The Power einlegen musste – also lese ich dann lieber Disobedience.
10. Februar 2018 um 19:28
Wie viel Backpulver mit wie viel Essig? Und was hat die Freundin gemacht? – Wir hatten einen einen Volldepp hier, der als einzige Lösung vorgeschlagen hat, alles aufzuschlagen… nehme also alle Tipps gerne entgegen.
10. Februar 2018 um 20:20
Die Freundin, Helga, hat die alte Zahnbürste tief in den Abfluss gesteckt und Schmodder rausgeholt – bis das Wasser wieder abfloss. Das Abflussproblem hatten wir vor ein paar Jahren auch am Waschbecken, hier war die Verstopfung in der Wand: Der Spengler kam mit “der Spirale”. Es dauerte, aber da musste nichts aufgeschlagen werden.
10. Februar 2018 um 22:49
Ich las “Unorthodox” mit ähnlichem Unbehagen wie anscheinend die meisten in Ihrem Lesekreis. Nachdem mich interessiert hat, ob bzw. wie die community auf das Buch reagiert hat, habe ich ein wenig gegoogelt und zumindest den Eindruck bekommen, dass da nicht alles niet- und nagelfeste Wahrheit war, was sie hier als autobiographisch verkauft.
11. Februar 2018 um 0:38
Ich fand den Text wichtig und richtig, und ich denke nicht, dass uns als glücklich frei geborenen irgendein moralisches Urteil über den Umgang einer derart misshandelten Frau mit ihrem Schicksal zusteht. Wer derart missbraucht wurde – und nichts anderes ist es, ein Kind in dieser abgeschirmten Sektenwelt zu erziehen, wenn man selbst Alternativen kennen könnte, so man denn wollte – der darf tun, was auch immer sie tun muss, um das Erlebte zu verarbeiten, solange nicht gerade jemand stirbt oder dergleichen. Gemein waren andere. Irgendwann muss man auf sich selbst achten und nicht das Wohl anderer vor das eigene stellen.
11. Februar 2018 um 9:58
Sabine, an die zwei Folgen Reply All hatte ich auch gedacht. Ich bin deiner Podcast-Empfehlung schon vor einiger Zeit gefolgt und habe keine Episode verpasst. (Aufgehoben habe ich aber nur ein paar, unter anderem diese beiden.)
12. Februar 2018 um 10:59
Ich kann Unorthodox überhaupt nicht mit dem Begriff Rache in Verbindung bringen. Sicher schont Feldman andere Personen nicht, ebensowenig aber sich selbst.
Würde der Vorwurf der Bloßstellung anderer Beteiligter nicht alle treffen, die die Geschichte ihrer Befreiung aus der jeweiligen, unterdrückenden Community geschildert haben?Ich denke an Seran Ates, Necla Kelek usw.
Würden wir uns ohne alle diese Leidensgeschichten das Maß der Unterdrückung überhaupt vorstellen können?
@Hauptschulblues und @ kecks haben schon bestens ausgedrückt, was auch ich empfinde.
13. Februar 2018 um 22:04
Vielleicht sollte man/frau, bevor ein (leichtfertiges) Urteil gebildet wird, “Überbitten” lesen, in dem Frau Feldman ihre ganze Geschichte reflektiert.
Hauptschulblues wird in seinem Blog darauf eingehen, bei Gelegenheit. Hauptschulblues muss nochmal darauf hinweisen, dass zuallererst Frau Feldman von der Verandtschaft bloßgestellt wurde, in den Jahren ihrer Ehe.
@Trulla: Wie recht Sie haben.
14. Februar 2018 um 9:25
@Herr Kaltmamsell, ich nutze ja seit Jahren als Hörerin der ersten Stunde ein Reply All-T-Shirt als Schlafanzugoberteil und bin traurig, dass es inzwischen fast auseinanderfällt.