Journal Mittwoch, 21. Februar 2018 – Sollten Jugendliche so früh wie möglich selbst Geld verdienen müssen?
Donnerstag, 22. Februar 2018Seit einer Diskussion darüber vor wenigen Tagen auf Twitter denken einige in meinem Internet darüber nach (z.B. Nessy, dasnuf, Anne Schüßler), ob man Druck auf Jugendliche in Schule und Studium ausüben sollte, selbst Geld zu verdienen.
In meiner eigenen Jugend (1980er) war es sehr üblich, so früh wie möglich Geld zu verdienen, meine Peer Group verband das sogar mit Prestige: Wir konnten es kaum erwarten, endlich alt genug dafür zu sein. So verdiente ich mein erstes eigenes Geld mit Musikauftritten (Querflöte in einem Holzbläserquintett), mit 17 hatte ich den ersten Putzeinsatz in der Fabrik, einmal half ich bei einer Inventur im Kaufhaus, und sobald ich 18 war, verdiente ich Geld als Kellnerin in einer Kneipe.
Das Bedürfnis nach eigenem Geld war bei mir so groß, dass ich nicht sagen könnte, ob meine Eltern nachschoben. Ich bilde mir ein, dass sie meinen Wunsch als selbstverständlich ansahen und weiß, dass sie mir tatkräftig bei der Suche nach lukrativen Jobs halfen.
Nach meinem Zeitungs- und Rundfunksvolontariat verdiente ich im Studium Geld fast nur mit berufsnahen Tätigkeiten: Radiobeiträge, Urlaubsvertretung Zeitung, Hiwi an der Uni. Nur in einem Sommer hatte die Redaktion keinen Job für mich und ich ging wieder sechs Wochen in die Fabrik.
Selbstverständlich habe ich in allen Jobs eine Menge fürs spätere Leben gelernt – doch so empfand ich es nicht: In erster Linie erlebte ich ungeheuer Spannendes, Besonderes. Eine Fabrik von innen! Im Kaufhaus nach Öffnungszeiten! Die Bestellung “a Maß Goaß” war kein Scherz, sowas gab es wirklich!
Doch ähnliche Abenteuer kann auch eine Jugendliche erleben, die auf eine Pfadfinder-Freizeit als Betreuerin mitfährt. Die sich mit ihrem Orchester über Monate auf eine Auslandsfahrt vorbereitet. Ich glaube nicht, dass man durchs frühe Geldverdienen etwas so Unersetzliches lernt, dass das jeder und jede tun müsste. Vor allem nicht gegen ihren Willen.
Und die Jugendlichen, die gar nichts davon machen, weil sie lieber den ganzen Tag Schmink-Tutorials auf YouTube und TV-Serien gucken, haben halt vermutlich kein Bedürfnis nach Abenteuern. Denn darum geht es: Menschen haben verschiedene Bedürfnisse, auch wenn sie noch sehr jung sind.
Unmut und Leid hingegen bereitete mir Hausarbeit. Für Tätigkeiten im Haushalt gab es bei uns kein Geld, meine Mutter priorisierte den Aspekt, dass in einer Gemeinschaft jeder und jede seinen und ihren Teil beitragen muss. Dem stimme ich zu. Doch ich hasste jede dieser Pflichten leidenschaftlich (auch wenn ich selbstverständlich eine Menge dabei lernte), fühlte mich gezwungen und unterdrückt. Dabei hätte es eine Alternative gegeben, wie ich erst vor wenigen Tagen durch Lektüre bei Frau…äh…Mutti lernte:
In “Nähkästchenplauderei” schildert sie, wie sie ihre drei Kinder zu Hilfe bei der Gartenarbeit erzog.
Wir gingen zusammen raus, arbeiteten gemeinsam und am Abend wurde gegrillt oder es gab Pizza vom Italiener.
Wenn ich mir vorstelle, meine Mutter hätte Hausputz als Gemeinschaftsprojekt aufgezogen (und darum ging es ihr ja eigentlich), 1. Was ist alles zu tun? 2. Du putzt das Bad, ich sauge Staub 3. Und dann belohnen wir uns – dann wäre das ganz sicher eine ganz andere Nummer geworden. Aber dann hätte es sich vielleicht nicht mehr nach verdienstvoller Pflichterfüllung angefühlt?
Das mit dem Geld: Ich bin halt schon mal mit einem überdurchschnittlich hohen Autarkiebedürfnis (SELBER!) auf die Welt gekommen, das machte frühes Verdienen eines eigenen Gelds besonders attraktiv. Und ich spüre, dass ich mich irrationalerweise bis heute ein wenig denen überlegen fühle, die sich auch noch zu Zeiten komplett von ihren Eltern durchfüttern ließen, als sie bereits Alternativen für Selbständigkeit gehabt hätten – was völlig bescheuert ist, den damit mache ich persönliche Autarkie zum absoluten Wert. Andere Leute sind anders und haben andere Bedürfnisse: Zum Beispiel lebten manche lieber genügsam, um sich weniger anstrengen zu müssen, oder sie zahlten für Muße den Preis, sich materiell stärker ihren Eltern unterordnen zu müssen.
Mein Jahr im Ausland hat wie kaum etwas Anderes zu positiven Seiten meiner Charakterentwicklung beigetragen – sehe ich das auch als verpflichtend an?
Das mit dem Job neben Schule und Studium gehört wahrscheinlich zu dem weiten Feld “Heute ist es anders als früher – muss es deshalb automatisch schlechter sein?”. Kinder spielen heute deutlich seltener unbeaufsichtigt draußen, sind deutlich weniger Gefahren ausgesetzt, und ich bin sicher, dass das einen Unterschied macht. Aber muss das ein Unterschied zum Schlechten sein? Gefährlich wird diese Haltung, wenn sie eigenes Leiden verherrlicht: “Mir hat’s auch nicht geschadet.” Das kann zum einen Selbstbetrug sein (so neigen Menschen, die in ihrer Kindheit physische Gewalt erfahren haben, später belegbar selbst mehr zu Gewalt). Zum anderen haben Zwang und Leiden, Angst und Stress in frühen Jahren sicher Einfluss auf den Charakter – aber ich wäre sehr vorsichtig mit der Prognose, dass dieser Einfluss auch nur tendenziell positiv ist.
Schwierig waren allerdings schon immer Menschen, die alles zugleich haben wollten: Geld und Dinge, über die sie ungefragt verfügen können, gleichzeitig keine Anstrengung einsahen, sondern bedingungslose Wunscherfüllung beanspruchten – und die Zorn über die gefühlte Unfairness empfanden, wenn Bedingungen gestellt wurden. Doch ob sich solche Charakterfehler durch Zwangsarbeit als Jugendliche beheben lassen, bezweifle ich.
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Eine US-amerikanische Lehrerin erzählt aus der Schule:
Every year, before I teach 1984 to my seniors, I run a simulation. Under the guise of “the common good,” I turn my classroom into a totalitarian regime; I become a dictator.
(…)
I’ve done this experiment numerous times, albeit not consecutively, and every year I have similar results. This year, however, the results were different. This year, a handful of students did fall in line as always. The majority of students, however, rebelled.
Klar ist das Loch in der Geschichte der Lehrerin, dass Klassen miteinander sprechen: Es ist sehr unwahrscheinlich, dass die aktuellen Schülerinnen und Schüler noch nie von dem Experiment gehört haben, das Dina Leygerman ja jedes Jahr an ihrer Schule durchführt. Und doch: Es wehren sich genau die jungen Leute, die unter Verdacht stehen, heutzutage durch Fürsorge und ohne Leiden im Gegensatz zu uns zu verweichlichen.
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Allerletztens führt mich das zum generellen Nachdenken über die Verherrlichung von Leiden: Das Ideal des “Verlassens der eigenen Komfortzone”, sich in der Fastenzeit zielgerichtet Leid zuzufügen (hat jemand meine Idee mit dem täglichen Hammerschlag auf den eigenen Daumen umgesetzt?), mit “mir hat’s auch nicht geschadet” vorauszusetzen, dass die Erfahrung von Leid einen zum besseren (wertvolleren? höherwertigen? gottgefälligeren?) Menschen macht – soll das so?
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Jetzt aber noch echtes Tagebuch: Wetter weiter kalt, gestern zumindest mit Sonne. Als ich zwischen 17.45 und 18.15 Uhr zum Sport ging, war es noch nicht ganz dunkel. Sport war eine Runde Crosstrainer und Rudern, dann Hot Iron. Zum Abendessen servierte Herr Kaltmamsell das restliche Hühnerfleisch als aserbaidschanisch-jüdisches Omelett mit Maroni drin: Sehr gut.