Archiv für Mai 2018

Journal Donnerstag, 24. Mai 2018 – Wicklow Way 5: Glendalough – Glenmalure

Freitag, 25. Mai 2018

Wasserfälle, sagenhafte Ausblicke, ordentlich Steigung: Nicht der schlechteste aller Wandertage. Das Wetter entwickelte sich von gemischt wolkig zu Tröpfelregen, auch damit konnte ich sehr gut leben. Die Wegbeschreibung ließ uns den Wicklow Way für einen schöneren Teilabschnitt verlassen, und zum ersten Mal erwischte ich eine falsche Abzweigung: Auf dieser Wanderung bin ich die Navigatorin, es war allerdings Herr Kaltmamsell, der anhand der Karte auf seinem Handy draufkam, dass irgendwas nicht stimmen konnte. Zum Glück.

Und so machten wir eine Extrarunde – ohne die wir aber keine Rehe gesehen hätten. Das beste Tierfeature gab es allerdings kurz nach dem Start unseres Tagesabschnitts: Kaninchensichtung im Glendalough-Tal. Mitgezählt waren es gestern gut 20 Kilometer Wanderung, die wir mit zwei gemütlichen Pausen in sechs Stunden gingen.

Vielleicht hätte ich am Vorabend nach der übersichtlichen Portion Cannelloni nicht auf den Nachtisch verzichten sollen (Furcht vor Überfressung): Ich wachte mit Magenknurren auf und verschlang beim Frühstück erst mal zwei Schüsseln Müesli. Vor dem Rührei mit Lachs, das ich wieder am Vorabend bestellt hatte. Wieder wurde stolz homemade soda bread serviert.

Ungesüßter Vollkorn-Rührkuchen. Sicher nicht mein Lieblingsbrot.
Laut dieser Quelle waren die Iren nicht etwa zu doof für Hefe: soft wheat sei das einzige Mehl gewesen, das im irischen Klima wuchs, und das habe zu wenig Gluten für einen ordentlichen Hefeteig enthalten. Mit Natron (und einem Säuerungsmittel wie Buttermilch) habe es allerdings funktioniert.

Unsere Tagesetappe führte uns am Glendalough Hotel vorbei, in dem ich bei vorherigen Besuchen eine ernsthafte italienische Gastro-Espressomaschine gesehen hatte. Nach ein paar Tagen ohne (in den B&Bs wird zum Frühstück Filterkaffee serviert, dem ich sehr Tee vorziehe) hatte ich doch mal wieder Lust auf einen Cappuccino. Gelernt: Man kann auch mit einer hochwertigen Gastro-Espressomaschine REACH-pflichtige Flüssigkeiten herstellen (blärch).

Die Strecke begann mit einem superidyllischen Weg entlang von Seen, der erste Aufstieg führte am Poulanass-Wasserfall vorbei. Doch dann standen wir vor riesigen Umleitungsschildern: Wegen forestry works waren sowohl unser Sonderweg als auch der Wicklow Way gesperrt.
Nur 1: Laut mehrfach überklebtem Schild waren diese Forstarbeiten seit Januar dieses Jahrs im Gange.
Nur 2: Ich hörte nichts außer Vogelzwitschern – und Forstarbeiten hört man.
Was dazu führte, dass ich, die größte Regelbefolgerin vor und nach dem Herrn (“Rules are good! Rules help control the fun!”), beschloss, trotzdem unserer Wegbeschreibung zu folgen. Ging dann auch problemlos. Beim Anblick der abgeholzten Fläche verstand ich allerdings, dass man während des Abholzens wirklich keine Wanderer direkt daneben haben will.

Apropos Abholzen: Wir passierten gestern so riesige komplett abgeholzte Flächen (ein verstörender Anblick), dass zum einen einige Angaben der Wanderbeschreibung nicht mehr passten, ich zum anderen den Verdacht hatte, dass Fortwirtschaft hierzulande fundamental anders funktioniert als in Bayern. Denn die Nachfrage bei unserem Zimmerwirt ergab: Nein, es hatte nicht etwa gestürmt, diese Flächen seien halt “harvested” worden, abgeerntet. Erst jetzt ging mir auf, dass die bebaumten Flächen auf den Hügeln eigentlich kein Wald waren, sondern Plantagen: Alle Bäume von einer Sorte (meist Fichten) und in einem Alter.

Nach etwa der Hälfte unserer Wanderung begann es zu tröpfeln, ich schlüpfte in meine Turbo-Wanderjacke. Und schon war das Wetter kein Problem mehr.

Auch gestern gingen wir große Abschnitte auf Holzbohlen. Ich fragte mich wieder, wer die wohl hier herauf geschleppt hatte – wie ich ohnehin sehr beeindruckt bin über die Qualität des Wanderwegs: Es ist ja nicht mit dem ohnehin enormen Aufwand getan, solch einen Weg zu legen, gangbar und sicher zu machen, auszuschildern; er muss auch gepflegt, ausgebessert, freigeholzt werden. Tiefe Dankbarkeit für die Menschen, die sich darum kümmern und dass ich ihn einfach so und kostenlos nutzen kann.

Da diesmal unsere Unterkunft wieder sehr abgelegen war und kein Abendbrot anbot, aßen wir unterwegs nichts bei unseren Pausen, so dass wir am Endpunkt der Etappe gegen vier hungrig im Pub einkehrten. Wir erklärten die Mahlzeit dort zum spanischen Mittagessen (um uns aßen noch einige andere): Traditionelle irische Lasagne mit Pommes und Salat für ihn, Lammbraten mit Minzsoße, Kartoffelpü und nur in Wasser gekochtem Gemüse für mich, dazu Bier, einmal Nachtisch Sticky Toffee Pudding. Dann ließen wir uns anweisungsgemäß von unserem Zimmerwirt abholen, die sechs Kilometer bis zu seinem B&B wären auch nicht schön gewesen.

Hier hätten wir eigentlich nicht durchgesollt – während des Baumfällens sicher auch zu gefährlich für eine Wanderung.

Blick zurück auf den eben gegangenen Bohlenweg.

Nur eine der vielen riesigen abgeholzten Flächen, an denen wir vorbeikamen.

Glenmalure Lodge.

Journal Mitwoch, 23. Mai 2018 – Wicklow Way 4: Glendalough/Laragh

Donnerstag, 24. Mai 2018

Ein weiterer Sonnentag, das irische Wetter ist einfach unberechenbar.
Am Vorabend hatte ich nochmal die Wicklowy Way-Reise von Frau Mutti nachgelesen (hier ging’s bei ihr los), die mich überhaupt auf die Idee gebracht hatte. Auch sie hatte in Glendalough einen Ruhetag eingelegt (bei ihr war es das Knie, das sie zu kindlichem Treppensteigen zwang), doch es war die Rede von einer möglichen Wanderung um die Seen.

Tatsächlich hatte mir der halbe Tag Ausruhen genügt, so machte ich aus dem gestrigen dann doch einen Wandertag, fit und nahezu schmerzfrei.

In unserem B&B hatten wir schon am Vorabend angeben müssen, was wir wann frühstücken wollten. Ich hatte erstmals das Full Irish gewählt (white und black pudding hatten auf dem Teller des Herrn Kaltmamsell immer attraktiv ausgesehen). Es schmeckte dann auch sehr gut. Wie schon in der vorherigen Unterkunft servierte die Zimmerwirtin dazu selbst gebackenes Irish Bread. Die beiden Brote glichen einander so sehr, dass sie womöglich nach demselben Rezept gebacken waren: Krümlig, salzlos, mit ein paar Körnern drin, aus der Kastenform. Beim ersten hatte ich noch gedacht, vielleicht sollte man die Bäckerin auf einen Brotbackkurs schicken, doch it’s not a bug, it’s a feature: Irish soda bread wird mit Backpulver (“soda”!) gemacht und kann deshalb kein Glutengitter entwickeln, das es elastisch machen würde.

Die erste Tageshälfte beschäftigten wir uns mit der örtlichen Kultur. Weil wir eh daran vorbei kamen, sahen wir uns die Pfarreikirche St. Kevin an. Interessante (und ein wenig seltsame) Besinnungskunst in der Grünanlage um diese neoromanische Kirche aus dem 19. Jahrhundert, auf dem Friedhof waren manche zeitgenössische Grabsteine mit gigantischen Rosenkränzen umschlungen, die mich sehr an die Wurstketten in Schützenvereinen erinnerten.

Kulturelles Highlight am Ort ist aber die Glendalough Monastic City. Die Bedeutung dieser Klosterreste aus dem 10. Jahrhundert lässt sich schon mal daran ablesen, dass Visitor Center und Parkplatz etwa sechsmal so viel Fläche einnehmen wie das alte Klostergelände, das man besichtigen kann. Zum Glück fanden wir Platz zwischen den Besuchergruppen, denn die Kirche mit gemauertem Dach, der Glockenturm und die Ruine der Kathedrale sind durchaus eine Besichtigung wert. Zudem ist das Ganze superidyllisch gelegen.

Wir waren in Wanderausrüstung losgezogen (unser B&B lag gut 2 Kilometer von der Monastic City entfernt), weil ich gerne noch auf einen Berg gehen wollte, um runterzuschaun. Also gingen wir auf den Camaderry, obwohl Herr Kaltmamsell ungern steigt (während ich ungern schwer trage). Wir sahen Raben in der Luft, die sehr lustige Geräusche krähten, und Rehe auf dem Boden.

Den guten Kilometer zum Südost-Gipfel ging ich alleine, während der Herr sitzen blieb. Dort erlebte ich zum ersten Mal nasse Abschnitte: richtige Pfützen und harmlos aussehendes Gras, das sich beim Betreten als Sumpf entpuppte. Am Gipfel begegneten mir drei Wandergäste aus unserem B&B, die von der Gegenseite auf den Berg aufgestiegen waren. Und die zu meiner Verblüffung den Abstieg im Laufschritt zurücklegten.

Die kleine Wanderung (gut 11 Kilometer und nicht mal dreieinhalb Stunden) in der Sonne, mit Wind und wundervollen Ausblicken gefiel mir sehr gut. Einkehrschwung in die Bar des Glendalough Hotel mit einem Bier.

Kurz vor unserer Unterkunft machten wir nochmal einen Abstecher Richtung Pfarrirche (eine Pokémon-Arena, ahem), in der Grünanlage davor verwickelte uns ein einheimischer Herr in ein langes und durchaus anregendes Gespräch.

Abendessen im 2 Kilometer entfernten Glendalough Hotel: Irish Stew für ihn, für mich Canelloni mit Spinat (und kleinem Beilagensalat – ich bin gefährlich untersalatiert). Nach Hause spaziert in goldener Abendsonne.

Start in den Wandertag.

Glendalough Monastic City.
Die Gräber reichen bis in die 1970er.

Der Fluss Glendasan.

Komm’Se rauf…

Könn’Se runterschaun.

Das letzte Stück auf den Camaderry ging ich allein – war dann doch ein bisschen weiter, als es aussah (eine Stunde hoch und runter).

§

Modeste bespricht ein Buch über Philosophie Anfang des 20. Jahrhunderts ein wenig anders:
“Die Zauberer, der F. und ich”.

Journal Dienstag, 22. Mai 2018 – Wicklow Way 3: Lough Dan – Glendalough/Laragh

Mittwoch, 23. Mai 2018

Zur Erholung gab’s gestern eine kurze Wanderstrecke an einem strahlend sonnigen Frühlingstag, zwar auch mit Aufs und Abs, aber gemütlich und gemäßigt. Allerdings fehlte auch diesem Übernachtungsort die Zivilisation: Laragh hat keinen Laden, keinen Dorfkern, es reicht gerade mal zu einem Hotel, einem Restaurant und einem Pub (neben einigen B&Bs) – vor allem für die Touristen, die viele Busladungen voll zur Glendalough Monastic Site kommen.

Nach schmerzensreicher und unruhiger Nacht wachte ich früh auf und bearbeitete die Fotos für den Blogpost. Soundtrack waren die vielen Vögel ums Haus: Ich hörte Amseln, Buchfinken, Rotkehlchen, Distelfinken, Kuckuck, Schwalben, mehrfach sehr nah Fasane. Bei Letzterem war ich mir unsicher, da wir auf unserer Wanderung keine gesehen hatten, ließ sie mir von der Zimmerwirtin bestätigigen: Ja es gebe ein Paar, das direkt beim Haus wohne.

Die Dame servierte uns Frühstück, ich ließ mir Porridge kochen, aß es mit Obst und Joghurt vom kleinen Buffet. Ein letzter Blick auf die zweiseitige laminierte guest information, die eine Seite mit den Gottesdienstzeiten im Umkreis enthielt (katholisch und Church of Irland), ein letzter Plausch mit den anderen B&B-Gästen, Bewunderung für die Schwalben, die unterm Dachfirst gerade ein Nest bauten – dann machten wir uns vom Haus aus auf den Weg.

Das Wetter war umwerfend, der Stechginster duftete und blühte – ich erfüllte die Bitte von Joël und aß ein paar Blüten: Mei, schmeckt pflanzlich, den Duft hatte ich nicht im Mund.

Auch gestern sahen wir wieder Raben fliegen: Sie waren uns als Attraktion des Wicklow Way angekündigt worden und wir hatten schon am Montag auf den Höhen die mächtigen Vögel gehört (deutlich anders als Krähen und Dohlen) und gesehen. Und wir sahen zum ersten Mal Greifvögel, zwei kurz hintereinander auf Thermiken segelnd, jeweils belästigt von Krähen.
Feldlerchen, Mönchsgrasmücken, Distelfinken machten uns durch ihren Gesang auf sich aufmerksam, bis wir sie auch sahen. Immer wieder das charakteristische Flügelgeräusch von auffliegenden Wildtauben.

Wie auch am Montag begegneten wir vereinzelt Wanderern in die Gegenrichtung, hatten auch in unserer Richtung Gesellschaft (aber keineswegs so, dass es ungemütlich wurde).

Die 14 Kilometer der Wanderetappe waren bereits kurz nach eins rum, dabei hatten wir auf einer Anhöhe ausgiebig Pause gemacht. Wir setzten uns ins Pub des Glendalough Hotels und tranken ein Bier, spazierten dann eine halbe Stunde zum Ort Laragh, wo wir immer noch zu früh für unser B&B waren. Also holten wir im Minimarkt der Tankstelle einen Mittagssnack in Form von Softeis, Kuchen, Chips.

Untergebracht sind wir für zwei Nächte (morgen ist Wanderpause) in einer B&B-Lodge, wo ich erst mal Siesta machte.

Abendessen in dem einen Restaurant am Ort: Fancy Fish & Chips für Herrn Kaltmamsell, Lachsforelle mit Gemüse und Chips für mich, danach trotz Überfressensgefahr Cheesecake (ich) und Banoffee Pie zum Dessert.

Morgendlicher Blick aus dem B&B-Fenster.

Gestern war Herr Kaltmamsell mit Rucksacktragen dran.

Versehensfoto: So sehe ich beim Fotografieren aus.

Glenndalough

Landschaft können sie hier halt wirklich. (Und Herr Kaltmamsell wieder so: “Wie. Im. Voralpenland. Sowo war ich doch schon mal auf Betriebsausflug.” Aber es gefällt ihm schon auch.)

Die traurige, zivilisationsfreie Situation in Laragh:

Wandschmuck im Restaurant. Herr Kaltmamsell: “Ist das der heilige Krückstockfuchtler?”

§

In meiner Lektüre holt mich gerade wieder die aktuelle Politik ein: Ich lese John Irvings The Cider House Rules, und in Irland wird heftig über die Legalität von Abtreibungen diskutiert, vor dem Referendum am 25.5.

Hier eine Darstellung der Argumente von beiden Seiten aus der Financial Times:
“‘We’ve had a lot of silence about this for a long time’”.

via @MlleReadOn

Journal Montag, 21. Mai 2018 – Wicklow Way 2: Enniskerry – Lough Dan

Dienstag, 22. Mai 2018

Tag der abwechslungsreichen Wege, Tag des gorse.

Nach sehr guter Nacht (ohne Schmerzmittel!) vom Wecker geweckt – ich hätte auch mehr als diese neun Stunden vertragen.

Zum Frühstück Eggs florentine – und ein Erlebnis, das ich nie erwartet hätte. Der Kellner rief im Lokal Herrn Kaltmamsells Namen aus: “Telefon für Sie”. Zack! Mitten im Hans-Moser-Film.

Der Anruf selbst kam von der Agentur, die unsere Wanderung organisiert hatte: Sie kontaktiert uns täglich telefonisch über die Unterkunft (wissen die, dass wir bei den extrem seltenen Anrufen auf unseren Handys erschrecken?), um sich nach unserem Befinden zu erkundigen und auf Besonderheiten der nächsten Etappe hinzuweisen.

Gestern zum Beispiel betonte die Dame von der Agentur die ungeheure Gefährlichkeit des Streckenabschnitts um den Dijouce Mountain: Un-be-dingt gute Schuhe und warme Kleidung dabei haben, es kann jederzeit das Wetter umschlagen mit Wolken und einem Dunst, der jede Sicht nimmt, und mit schlagartiger Kälte. Als uns genau dort Wanderer in Leggins und Turnschuhen überholten, außerdem zahlreiche Jogger entgegen kamen, konnte ich die Warnung nicht mehr arg ernst nehmen.

Das Wetter war gestern grau und trocken – ich hatte also bereits einen regenfreien Tag geschenkt bekommen. Doch auch gestern war mir die Wanderung (gut 27 Kilometer in 7 3/4 Stunden mit einer längeren Pause) um eine Stunde zu lang – allerdings diesmal nicht die letzte Stunde, sondern die vorletzte, als es schon wieder bergauf und bergab ging, nur halt auf langweiligen Schotterwegen. Denn gerade die Wege waren gestern eigentlich ausgesprochen abwechslungsreich: Von Forstwegen über Pfade in Bachauen und durch Wald bis zu zwei Stunden auf Bahnschwellen. Das fand ich anregend und spannend.

Gestern legten wir auch besonders viele Höhenmeter zurück, belohnt mit sensationellen Ausblicken. Dazu kamen immer wieder geradezu Wälder an gorse, an dem ich mich nicht satt sehen und riechen konnte.

Zivilisation in Form von Orten oder Pubs gab es allerdings überhaupt nicht auf der Strecke. Zum Brotzeiten ließen wir uns auf dem Bahnschwellenweg nieder, aßen Nüsse und Eiweißriegel aus dem Rucksack, tranken mitgebrachtes Wasser.

Laut Wanderbeschreibung hätten das gestern 20 Kilometer sein sollen (inklusive der zwei Extrakilometer vom Wicklow Way zur abgelegenen Unterkunft). Meine Moves-App maß hingegen 27 Kilometer, die auch besser zu den sieben Wanderstunden in den Unterlagen passten. Das kann ich mir eigentlich nur damit erklären, dass schlängelnde Wege schlecht auszumessen sind – außer halt mit einem Tracker an der Person. Ich wunderte mich, dass der Mensch, der die Wegbeschreibungen verfasst hatte und die Strecke ganz offensichtlich gegangen war, nicht mitgemessen hatte.

Dummerweise verlor mein rechtes Bein auf dem letzten Drittel mal wieder sein Gedächtnis und ließ sich nicht mehr heben: Ich musste es schleudern und auf steilen Bergauf-Stücken oder gar Stufen von stiles wie ein kleines Kind mit dem linken Bein steigen und das rechte nachsetzen. (Plus Schmerzen.)

Die Unterkunft war diesmal das B&B Lough Dan House mit Blick über den See Lough Dan, weit abgelegen. In den Unterlagen hieß es, dass dort eventuell auch Abendessen angeboten würde, zur Not aber ein Shuttle zum zehn Kilometer entfernten nächst gelegenen Restaurant angefordert werden könne. Auf den letzten, ansteigenden (…) Metern zum B&B informierte ich Herrn Kaltmamsell, dass ich an diesem Tag absolut nirgendwohin mehr gehen oder fahren und lieber eingestecktes Studentenfutter zu Abend essen würde. Doch zum großen Glück fragte uns die liebe Herbergsmutter als Erstes, ob wir Dinner haben wollten. Abend gerettet, wir aßen mit acht weiteren Wanderinnen (aus Deutschland und Schweden) ein wunderbares homecooked dinner: Salat mit Wicklow Blue Cheese, Lachsfilet mit Gemüse, Birnen-Apfel-Bakewell Tart mit Custard. Und dazu Weißwein.

Und dann verfügte unser Zimmer auch noch über eine Badewanne! Die nutzte ich umgehend.

Früh ins Bett mit Schmerz-bedingter Sorge um ruhigen Nachtschlaf.

Vom reizenden Enniskerry aus brachte uns ein Shuttle an den Endpunkt der vortäglichen Wicklow Way-Etappe.

Der Star des Tages: gorse. Ich muss in Dublin unbedingt gucken, ob es Kosmetik mit diesem Duft gibt.

Glencree. Auch hier ganze Wiesen voller Bluebells (dass die auf Deutsch Atlantische Hasenglöckchen heißen, erheitert mich ungeheuer.)

Ganz klar eine Nymphen-Badestelle. Derzeit Nymphen-frei, weil die sensiblen Geschöpfe von dem überwältigenden Geruch des Bärlauchs gegenüber fliehen.

Bei so viel Idyll bräuchte es fast den Anblick einer Autobahn gleich daneben, damit das Romantikzentrum des Hirn nicht völlig verklebt.

Powerscourt Wasserfälle.

Denkmal für den Initiator des Wicklow Way.

Auch der Wicklow Way hat wohl ein Radlerproblem.

Journal Sonntag, 20. Mai 2018 – Wicklow Way 1: Dublin – Enniskerry

Montag, 21. Mai 2018

Gleich am Morgen hatte ich den Salat – und ich war durchaus gewarnt worden: Der freundliche Hotelgast in der Lobby, der wahrscheinlich nach unserem Woher und Wohin fragte, sprach eine Sprache, die ich nicht verstand – irisches Englisch. Herr Kaltmamsell verstand ihn offensichtlich besser: Als ich hilfesuchend in seine Richtung sah, antwortete er dem Herrn und machte Konversation.

In unserer Partnerschaft ist ja klar aufgeteilt: Ich beschütze ihn vor großen Tieren (Schafe, Kühe, Hunde, Panther), er mich vor kleinen (Weberknechte, Stechmücken, Blutegel). Die Verwantwortung für Menschen war nie klar zugeteilt, aber es bin eher ich, die das Socializing übernimmt. Außer eben ich verstehe nichts.

Nach einer guten Nacht waren wir beide recht früh aufgewacht, ich hatte reichlich Zeit zu bloggen, bis wir packten und frühstückten (Full Irish für ihn, Rührei mit Speck, Apfel und Scone für mich). Der Himmel war bedeckt, die Wettervorhersage kündigte Regenschauer an. Nun: Ich bin darauf eingestellt, dass es nahezu durchregnen wird; alles Schönere nehme ich als Geschenk.

Ein Kleinbus brachte uns zum Start unserer Wanderung: Marlay Park. Wir hatten uns dafür entschieden, die Wanderung von Norden nach Süden zu machen: Damit würden wir die anstrengenderen Streckenabschnitte am Anfang und damit bald hinter uns haben. Und auch dieses Mal wandern wir in der Memmem-Version, nämlich mit Gepäcktransport (so großartig!).

Leider regnete es am Anfang der Strecke am heftigsten: Das brachte uns um den Blick über Dublin, der uns nach dem ersten langen Anstieg angekündigt worden war. Später tröpfelte es nur hin und wieder stärker, die neuen Wanderjacken mit gut umschließender und beschirmter Kapuze bewährten sich gleich mal.

Nach etwas mehr als der Hälfte der Strecke, bei Glencullen, wies uns die Streckenbeschreibung auf den “famous Johnny Fox’s Pub” hin, den man durch einen 15-minütigen Abstecher erreichen könne. Noch nehmen wir alles an Seitenattraktionen mit, also gingen wir dort hin. Der Pub stellte sich als eine wirkliche Attraktion heraus, über und über mit Urigkeiten und Schildern mit lustigen Sprüchen geschmückt und vollgestellt, frequentiert von locals. Uns gruselte ein kleines Bisschen, aber wir bekamen ausgesprochen wohlschmeckendes Bier: ein Stout und ein Pale Ale der Hausmarke, das eine rauchig-malzig, das andere kräuterig-blumig.

Tierwelt: Wir sahen viele Schafe verschiedener Rassen, auch ein paar Kühe, Schwalben und Mauersegler, Krähen und Dohlen, Spatzen, Feldlerchen, Stare, Amseln, Distelfinken, leider keine der angekündigten red grouse, aber einmal glaubte ich einen Fasan zu hören. Wir sahen auch einige Hunde an Wanderern, keiner davon angeleint, obwohl direkt neben weidenden Schafen mit Lämmern (und Schildern, die das Anleinen von Hunden vorschrieben).

Menschenwelt: Wir begegneten einigen Wanderern in die Gegenrichtung, einzeln sowie in kleinen wie größeren Gruppen; in unserer Richtung überholten wir lediglich eine Gruppe. Auf den Straßen zahlreiche Rennradler, auch der Ire führt am Sonntag gerne buntes Radlplastik aus.

Unangenehm war mir die letzte Wanderstunde: Vom Ende unseres Wegabschnitts mussten wir noch fünf Kilometer zu unserer Unterkunft gehen. Wir hätten uns auch mit einem Taxi abholen lassen können, doch das schien mir unnötig (wir machten schließlich zum Gehen Urlaub). War ein Fehler, denn diese fünf Kilometer führten eine stark befahrene Landstraße entlang, oft auf beiden Seiten von Mauern und Hecken begrenzt, also ohne Ausweichmöglichkeit.
Das waren dann gut 27 Kilometer in gut sieben Stunden mit einer langen und einer kurzen Pause.

Die Unterkunft war diesmal ein sehr karges Zimmer in einem Country House (also über einem Pub), ohne Tisch, Sessel, Wassergläser, WLAN, Teekessel, Föhn. Dafür sah ich aus dem Fenster Kommiongesellschaften und weiß jetzt, dass es die Brautkleider im Stil explodierter Sahnebaiser auch für Kinder gibt, nämlich für irische Kommionskinder.

Das Abendessen im gut besuchten Pub des Country Houses war gut: gebratener Wicklow Brie als Vorspeise, Short Ribs für mich, Fish&Chips (die auf der Speisekarte einen fancy Namen hatten) für den Herrn.

Sehr müde und erschöpft früh zu Bett.

Dem Zeichen rechts folgen wir die nächsten Tage.

Die verregnete Aussicht auf Dublin. Aber: Überall Stechginster (gorse) mit seinem sensationellen Gelb und Duft.

Klar: Andere Länder, andere Schilder. Aber bitte WER wird hier WOVOR gewarnt?

(Mit Laptop auf den Knien gebloggt, über Handy-Hotspot ins Internet geladen.)

Journal Freitag/Samstag, 18./19. Mai 2018 – München-Dublin

Sonntag, 20. Mai 2018

Eine schwierige Nacht auf Freitag. Ich konnte zwar immer wieder schlafen, doch trotz Ibu war nur Rückenlage halbwegs schmerzfrei. Wahrscheinlich werde ich mich daran gewöhnen müssen.

Der Tag wurde sonnig und mild.

Nach der Arbeit Urlaubsvorbereitungen (Kleidung überlegen und packen) und Wohnung bereitmachen fürs Gehütetwerden.

§

Samstagmorgen klingelte der Wecker um fünf, denn unser Flug nach Dublin ging recht früh. In der S-Bahn zum Flughafen war ich ein wenig überfordert von der ausgesprochen kommunikativen und unaufhörlich interagierenden Familie nebenan: Das waren zu viele Sinneseindrücke um die Uhrzeit, ausnahmsweise verstopfte ich meine Ohren mit irgendeiner Musik (die mir eigentlich auch schon zu viel war) zum Anblick von malerischem Morgendunst über grünen Feldern.

Morgenkaffee nach Gepäckaufgabe am Flughafen, ereignisloser, knackvoller Flug.

Dublin empfing uns mit Sonne und milden Temperaturen. Da unser Hotelzimmer noch nicht bezugsbereit war, gaben wir nur unsere Koffer ab und spazierten los.

Im Hotel war die detaillierte Beschreibung unserer Wanderetappen hinerlegt – die allgemeine hatten wir vor Wochen nach Hause geschickt bekommen. Die Unterlagen sahen wir über einem Pint durch; erste kulinarische Entdeckung: Red Ale (das Dunkle links). Nachdem ich eine Weile aus den Wanderbeschreibungen vorgelesen hatte, erklärte mich Herr Kaltmamsell zur Reiseleitung (er war derjenige gewesen, der uns bereits vom Flughafen zum Hotel gebracht hatte).

Während meine Twitter-Timeline die Hochzeit im englischen Königshaus guckte und kommentierte, liefen auf den Bildschirmen im Pub Rugby und Hunderennen.

Wir spazierten kurzärmlig und mit Jacke überm Arm zum Park Stephen’s Green und setzten uns eine Weile in die Menschenmassen auf eine Bank. (Elstern, Krähen, Amseln, Schwalben, dazu Möwengeschrei.)
Dann bekam ich doch mal den ersten Hunger des Tages, es war schließlich schon fast drei Uhr Ortszeit. Doch wir beschlossen, erst abends essen zu gehen, und holten uns in einem Supermarkt ein Sandwich.

Auf den Straßen unübersehbar (auch in Fassaden-großen Plakaten) das örtliche Hauptdiskussionsthema: Das Referendum zum Abtreibungsgesetz.1

Typo-Liebe, vor allem in die ineinander verschlungenen Buchstaben von “Dublin”.

Hotelzimmer war ok, roch allerdings recht durchdringend nach Sickergrube. Bis zum Abend hingen wir bei offenem Fenster lesend herum.

Nachtmahl gab’s dann in einer einladenden Brasserie in der Straße des Hotels, das uns ohne Reservierung noch einen Bartisch anbieten konnte: Bloom.2 Wir aßen sehr gut, und ich freute mich über das Glas blumig-mineralischen Pouilly Fumé.

“Roaringwater Bay Irish Mussels” in einer Weißwein-Chorizo-Sahne für mich, “Shredded Duck” für Herrn Kaltmamsell.

“Rare Breed Irish Pork Chop” für mich (mit Kartoffel, Orangen-Karotten-Pü und Himbeertupfern) (allerdings hätten sie mir durchaus den konkreten Namen dieser seltenen Rasse zumuten können), “Free Range Irish Chicken” für Herrn Kaltmamsell (mit Lemongras Parpadelle, Salsa Verde, Avocado). Zum Nachtisch Apple Crumble mit Eis für mich, Crème brûlée für ihn.

§

Dramatisch zugespitzte Formulierungen und inhaltliche Präzision vertragen sich nur selten.

Ausgerechnet ein Architekt, nämlich Rem Koolhaas, liefert mir die Argumentationshilfe für mein wachsendes Misstrauen gegenüber inspirational quotes und sonstigen populistischen Vereinfachungen. Und zwar in einem Interview im SZ-Magazin (€), das ihn mir durch und durch sympathisch macht, unter anderem weil er Interviewer Sven Michaelsen mehrfach und nachvollziehbar auflaufen lässt.

(Ebenfalls misstrauisch bin ich allerdings gegenüber dem ausgezeichneten Deutsch von Koolhaas – vor allem weil Sven Michaelsen es nicht thematisiert. Wurde das Interview vielleicht auf Englisch geführt und von Michaelsen übersetzt? Oder spricht Michaelsen gar Niederländisch und hat für den Abdruck ins Deutsche übersetzt?)

  1. Ein Teilaspekt, Semiotik für Fortgeschrittene: “Die Debatte hat auch das irische Fernsehen RTÉ in einen Konflikt gestürzt. Wie soll Abtreibung in den Nachrichten für Gehörlose dargestellt werden? Wenn es nach den Abtreibungsgegnern ginge, würde das Wort als Messerstich in den Bauch gezeigt, während andere für den Buchstaben “A” plädieren. In der US-amerikanischen Gebärdensprache wird symbolisiert, wie ein Kind kurz im Arm gewiegt wird, dann wird es entfernt und fallengelassen.” []
  2. Oh mein Gott, in Irland hat die Gastronomie anscheinend das Memo nicht bekommen, dass man Speisekarten NUR und AUSSCHLIESSLICH als PDF auf die Website stellen darf! []

Journal Donnerstag, 17. Mai 2018 – Reprise: Michael Chabon, The Yiddish Policemen’s Union

Freitag, 18. Mai 2018

Ein regnerischer Tag. Dennoch nahm ich das Rad in die Arbeit, kam auch trocken an. Auf dem Heimweg wurde ich ein wenig angeregnet, aber nicht schlimm.

Abends Fußmarsch nach Überuntergiesing zum Treffen meiner Leserunde.

Die vergangenen Tage waren geradzu gruslig mit ihrer Berichterstattung der Geschehnisse in Jerusalem und der Rolle der USA darin. Ich gehe nicht in Einzelheiten, um den Plot von Michael Chabons The Yiddish Policemen’s Union nicht zu sehr zu spoilern, was ich bereits damit tue, dass ich seufze, speculative fiction ist doch nicht dazu da, Wirklichkeit zu werden!

Vor acht Jahren hatte ich den Roman schon mal gelesen und besprochen, diesmal hatte ich mehr Hintergrund übers Judentum im Hinterkopf (zum Beispiel aus der Reportage über den Eruv in Manhattan und die Leute, die für ihn zuständig sind), außerdem achtete ich noch mehr auf die Frauenbeschreibungen: Nur Bina, die Ex-Frau des Protagonisten, wird sexualisiert beschrieben – und das ist ganz klar aus der Handlung motiviert (Landsmans Blick).

Auch den anderen in der Leserunde hatte das Buch sehr gut gefallen, ich bleibe bei meiner Empfehlung.

Sorge, weil auf dem Heimweg meine Bandscheiben-verursachten Schmerzen in Hüfte und Bein sehr stark wurden und ich wieder das rechte Bein kaum heben konnte. Das kann ich fürs Wandern natürlich überhaupt nicht brauchen. Ein Wunder wäre jetzt nicht schlecht.

§

Ein weiteres Interview von Sibylle Berg zum Thema “Nerds retten die Welt”.

Ihre Gesprächspartnerin:

PD Dr. Hedwig Richter ist Historikerin am Hamburger Institut für Sozialforschung mit den Schwerpunkten europäische und US-amerikanische Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert, Wahl- und Demokratieforschung, Migration, Gender, Religion

Unter anderem fragt Sibylle Berg:

Was ist Demokratie?

Darf ich ein bisschen ausholen?

Besser Sie als ich.

Kluges von der Historikerin (die damit auch den derzeitigen Schwerpunkt in der Geisteswissenschaft nenne):

Um aus der Geschichte zu lernen, ist es wichtig zu verstehen, welche Geschichten wir uns erzählen. Dabei wird deutlich, dass diese Geschichten nicht losgelöst sind von dem, was wir unter «Wirklichkeit» verstehen.

Auch im Interview: Argumentationshilfe gegenüber Menschen, die behaupten, das sei doch gar keine Demokratie, die wir derzeit haben.
Und spannenden Zahlen über die Gastarbeiter der 60er und 70er:

Wir haben es hier mit einer weiteren interessanten Erzählung zu tun: der Arbeitsmigrant als das Opfer, das partout im Aufnahmeland bleiben wollte. Von den rund 14 Millionen eingewanderten «Gastarbeitern» in den 1950er- bis 1970er-Jahren kehrten aber etwa 12 Millionen zurück (bei aller Vorsicht gegenüber den schwer zu ermittelnden Migrationszahlen). Warum? Ich kenne mich etwas mit der italienischen Arbeitsmigration aus. Nicht nur das Aufnahmeland Deutschland (ganz ähnlich wie die Schweiz oder Frankreich) ging davon aus, dass die Arbeiter wieder zurückkehren würden – die Migrierenden selbst hofften darauf. Mit dem verdienten Geld wollten sie sich in ihrer Heimat den sozialen Aufstieg ermöglichen.

Zwar wusste ich (schon aus dem eigenen Gesichtsfeld), dass die meisten Gastarbeiter zurück gingen, doch mir war nicht klar, wie groß diese Mehrheit war.

§

Sie glauben hoffentlich nicht, es gebe keine neuen Flüchtlinge mehr?
“Verena Papke: ‘Auf dem Mittelmeer sterben immer noch Menschen, es berichtet nur keiner mehr darüber'”.

Die Schwangerschaftsraten sind in den letzten Monaten erheblich gestiegen. Das führen wir auf strukturelle Vergewaltigungen in Libyen zurück. Das können wir natürlich nicht beweisen, aber die Rate der Schwangeren ist eine Statistik, die wir haben. Und auch der Gesundheitszustand der Geflüchteten, der im Übrigen nie gut war, hat sich noch einmal verschlechtert.

§

Ein alter Blog-Bekannter ist wieder da (ohne schwarzen Hintergrund hätte ich ihn fast nicht erkannt):
https://leicht.ykom.de/