Journal Freitag, 1. Juni 2018 – Vier Stunden Lunch Date in Dublin und eine kleine Lektion in Demokratie

Samstag, 2. Juni 2018 um 7:49

Am Vorabend spät im Bett gewesen (nachts einmal von brutalen Hüftschmerzen aufgewacht und die – erst dritte – Ibu des Urlaubs genommen), lange geschlafen.

Morgens für den Rückflug eingecheckt, von Null weg gebloggt (sonst schreibe ich fast immer bereits am Vorabend und baue morgens nur noch Fotos ein oder lese nochmal drüber), Tee getrunken, die Verabredung zum Mittagessen konkretisiert.

Die Verabredung zeigt uns ein wunderschönes neues Institut am College und führte uns dann zum Mittagessen in einen kleinen Chinesen auf der anderen Seite des Flusses. Wir teilten ausgezeichnete gebratene Bohnen, einen köstlich saftigen ganzen gebratenen Wolfsbarsch und in Ei frittierten Mais (sah aus wie Stückchen Käse-Erdnussflips, schmeckte erstaunlich gut). Und sprachen und sprachen, vor allem über Irland damals und heute. Dann führte uns die Verabredung in einen vorher mehrmals empfohlenen unabhängigen und auf irische Verlage spezialisierten Buchladen: Books upstairs. Hier kamen wir lange nicht heraus, Herr Kaltmamsell besitzt jetzt ein Buch über irische Geschichte 1913-1923 und zwei Anthologien mit irischen Gedichten, ich nahm die aktuelle Ausgabe des irischen Literaturmagazins The Stinging Fly mit.

Dann verhalf uns die Verabredung zu einem weiteren Geheimtipp: Zu diesem unabhängigen und gar nicht so kleinen Buchladen gehört ein Café im 1. Stock, in dem man keine Romanhandlung spielen lassen dürfte, weil jeder vor Klischeeüberdruss das Lesen einstellen würde. Wir tranken Tee, aßen Süßes und sprachen noch mehr über Irland, aber auch über Indien.

Nach vier Stunden hatte auch diese Mittagspause ein Ende (hey, in Spanien ist die mit Siesta und so immer so lange!).

Außerdem: Na gut, das waren gestern ein paar Regentropfen, gegen die allerdings nur die verweichlichtesten Touristen einen Schirm brauchten.

In der Ferienwohnung lasen und packten wir, bevor wir noch auf ein letztes Pint und einen Happen in ein Pub ums Eck gingen. (Und auch bei dieser Gelegenheit habe ich nicht herausgefunden, warum hier in allen Pubs, allen Läden, auf jeder beschallten Fläche 1980er-Pop dudelt!)

§

Derzeit befasse ich mich ziemlich mit Irland, Reisen macht halt dann doch was mit einer. Zum Beispiel ging und geht mich das Referendum um den Abtreibungsparagrafen ganz anders an, weil ich im Land bin. Und führt zu Nachdenken über Voraussetzungen für eine wirklich brauchbare Abstimmung. Dazu schreibt Fintan O’Toole im Guardian:
“If only Brexit had been run like Ireland’s referendum”.

A brave experiment in trusting the people helped defeat tribalism and fake ‘facts’

(…)

Political circumstances are never quite the same twice, but some of what happened and did not happen in Ireland surely contains more general lessons.

(…)

Irish voters were subjected to the same polarising tactics that have worked so well elsewhere: shamelessly fake “facts” (the claim, for example, that abortion was to be legalised up to six months into pregnancy); the contemptuous dismissal of expertise (the leading obstetrician Peter Boylan was told in a TV debate to “go back to school”); deliberately shocking visual imagery (posters of aborted foetuses outside maternity hospitals); and a discourse of liberal elites versus the real people. But Irish democracy had an immune system that proved highly effective in resisting this virus. Its success suggests a democratic playbook with at least four good rules.

Was also war es, was allein schon mal eine Referendumsformulierung hervorbrachte, die bei einer Abstimmung tatsächlich Volkes Wille zeigen konnte?

1. Vertraue dem Volk. “Es wurde ein Bürgergremium zusammengestellt, das aus 99 zufällig ausgewählten (aber demografisch repräsentativen) Wählerinnen und Wählern bestand. Seine Aufgabe: Sich damit auseinanderzusetzen, wie man mit dem Abtreibungsverbot in der Verfassung umgehen solle; eine Aufgabe, an der Politik und Justiz 35 Jahre lang gescheitert waren. Diese sogenannten normalen Menschen – Lastwagenfahrer, Hausfrauen, Studenten und Studentinnen, Landwirte – opferten ihre Wochenenden, um 40 Expertinnen und Experten in Medizin, Recht und Ethik zuzuhören, außerdem Frauen, die von Irlands extrem restriktiver Rechtssituation betroffen waren und zudem 17 verschiedenen Lobbygruppen. Sie erarbeiteten Empfehlungen, die in Politik und Medien große Überraschung hervorriefen, weil sie viel weiter gingen als erwartet – und viel weiter, als das politische System ohne dieses Gremium gegangen wäre.
(…)
Es stellte sich heraus: Diese Stichprobe ‘des Volks’ wusste ziemlich gut, was ‘das Volk’ dachte.”1

2. Sei ehrlich. Die Abschaffungsseite legte alle Karten auf den Tisch und veröffentlichte auch das geplante neue Gesetz – selbst auf die Gefahr hin, dass die Gegenseite es verzerren und zerlegen würde.

3. Rede mit jedem und jeder, vorurteilsfrei. Auch mit der betagten Kirchgängerin, die sich als eben doch kein hoffnungsloser Fall herausstellte. Es zeigte sich, dass viele konservativ denkende Menschen es satt hatte, als Zerrbilder angesehen zu werden und es honorierten, als komplexe, intelligente und mitfühlende Individuen anerkannt zu werden.

4. Nicht nur ist das Private politisch: Mach das Politische privat. Irische Frauen machten ihre eigenen Geschichten öffentlich.

via Read on my dear

§

Apropos Rückflug:

“Eine Flugreise ist das größte ökologische Verbrechen”.

Die Atmosphäre gehört allen Erdenbürgern zu gleichen Teilen. Ein großer Teil der Menschheit ist noch nie geflogen. Aber die kleine Minderheit, die regelmäßig fliegt, schadet der Umwelt extrem.

(…)

Das gilt auch für all die weltläufigen Ökos, die zwar auf Plastiktüten verzichten und Biogemüse kaufen, zum Wandern aber nach Chile fliegen.

Das ist mir in den vergangenen Jahren immer bewusster geworden, und mittlweile zucke ich, wenn eine Freundin strahlend erzählt, dass sie für eine Party mal kurz für zwei Tage von München nach Barcelona fliegt. Im Moment versuche ich auf eine private Flugreise pro Jahr runterzukommen, beruflich kann ich Fliegen inzwischen komplett vermeiden, weil nicht mehr international tätig.

Doch wenn ich wie gewünscht dieses Jahr im Herbst nach Brighton möchte und nicht fliegen, muss ich wirklich umdenken, nämlich die Anreise als Teil des Urlaubs sehen und auf zwei Tage mit Zwischenstopp ausweiten (die Alternative Reisebus ist mir mit über 24 Stunden Fahrtzeit zu unbequem).

  1. Meine Übersetzung; im Original: “The question of how to deal with the constitutional prohibition on abortion – a question that has bedevilled the political and judicial systems for 35 years – was put to a Citizens’ Assembly, made up of 99 randomly chosen (but demographically representative) voters. These so-called ordinary people – truck drivers, homemakers, students, farmers – gave up their weekends to listen to 40 experts in medicine, law and ethics, to women affected by Ireland’s extremely restrictive laws and to 17 different lobby groups. They came up with recommendations that confounded most political and media insiders, by being much more open than expected – and much more open than the political system would have produced on its own.
    (…)
    And it turned out that a sample of ‘the people’ actually knew pretty well what ‘the people’ were thinking.” []
die Kaltmamsell

11 Kommentare zu „Journal Freitag, 1. Juni 2018 – Vier Stunden Lunch Date in Dublin und eine kleine Lektion in Demokratie“

  1. Trulla meint:

    Sehr interessant, was da in Irland derzeit mit den Referenden stattfindet. Das würde man sich zu bestimmten Fragen auch in Deutschland wünschen, weil das “Volk“ mitunter weiter ist als die Politik, die im Vierjahresrhythmus denkt.
    Welch überfällige, wohltuende Ergebnisse dabei herauskommen können, zeigt auch der großartige, berührende Artikel von Bastian Berbner im Magazin Nr. 21 der Süddeutschen Zeitung vom 25.5.2018. Darin wird geschildert, wie sich bei der ersten Bürgerversammlung zur Vorbereitung des Referendums zum Thema Homo – Ehe zwei Männer begegneten, wie Sie unterschiedlicher kaum sein könnten: ein 62 Jahre alter Briefträger, ein stiller Mensch, voll mit Seelenschmerz, Vorurteilen und entsprechender Abneigung gegen Schwule und ein wegen seiner Homosexualität vom Elternhaus verstoßener, provokativ auftretender junger Mann. Die über ein Jahr dauernde Vorbereitung des Referendums, die Entwicklung wachsenden Verständnisses der beiden Männer füreinander mündet am Ende dieser Zusammenkünfte in eine Freundschaft. Und, nicht zu vergessen, in einen Erfolg des Referendums zugunsten der Homo-Ehe.

    Leider gelingt es mir wegen meiner mangelnden Fähigkeiten nicht, zu diesem wirklich lesenswerten Artikel einen Link einzustellen.

  2. Sabine meint:

    Das mit den Flugreisen treibt mich auch um. Wir waren letzte Woche fliegend mit den Jugendlichen in London und als der Rückflug gestrichen wurde, bekamen wir noch drei Tickets für den Eurostar, mit Heimfahrt über Brüssel und Frankfurt. Ich blieb noch einen Tag und flog übers Fliege-Fegefeuer Luton zurück, and dem sich das ganze Ungemach und die Unzumutbarkeit dieser Reiseform so aufdrängen, dass ich nicht nur ethisch abgeschreckt bin. Die Zug fahrende Familie kam in 9,5 Stunden (von Stadtmitte zu Stadtmitte – mit dem Weg zum Flughafen schlägt man in London und München locker je eine Stunde drauf) mit Sonderangebot in der 1. Klasse zum vergleichbaren Preis vergnügt daheim an. Klar, ein Wochenende London oder Dublin Ist so wenig sinnvoll, aber de facto sind es pro Reise drei Stunden mehr. Drei Stunden! Für eine bessere Welt scheint mir das das ein kleiner Preis. Und von St. Pancras fährt der Anzug direkt nach Brighton, in vielleicht etwas über einer Stunde.

    Vor streikenden Franzosen ist man natürlich bei Durchquerung des Tunnels nicht gefeit…

    Mit dem neu gefassten Entschluss, die Flugreisen in Zukunft zu vermeiden, habe ich mich ein wenig umgeschaut, wie man denn nach Lissabon, beispielsweise, käme und fand diesen doch recht verlockenden Reisebericht mit Hinweis auf Reisebüros, die sich auf Bahnreisen spezialisiert haben und auch ausländische Kursbücher beherrschen. Früher bin ich oft Nachtzug gefahren und habe beste Erinnerungen daran, inklusive Geknutsche mit hübschem jungen Schlafwagenschaffner (erst nach dem Dienst, dafür auf der Spanischen Treppe).

  3. Joe meint:

    Ich weiss nicht ob man beruflich und privat so trennen kann, ökologisch gesehen. Viele Dienstreisen sind Blödsinn, für ein 2 Stunden Meeting mal kurz nach Paris und so. Aber anscheinend immer noch statusrelevant. Ich fliege 6-8 mal im Monat dienstlich, darunter alle 6 Wochen in die Zentrale nach Boston. Ob da meine Urlaubsflüge noch den ökologischen Unterschied machen???

  4. Georg meint:

    Ja, die “für ein Wochenende nach”-Flugreisen irritieren mich auch.

    NB, München-Brighton klappt per Bahn prinzipiell in etwa 11 Stunden: TGV um 6:28 ab München nach Paris, dort eine Stunde für den Metro-Transfer vom Ost- zum Nordbahnhof, Eurostar um 13:13 von Paris nach London, dort gegen 14:45 in St. Pancras, weiter nach Brighton, frühestmögliche Ankunft zwischen vier und halb fünf. So ähnlich mit zusätzlichem Umstieg in Stuttgart auch zwei und vier Stunden später.

    Im Vergleich zur Einfachst-“One Click”-Buchung für den Billigflug ist das Ganze allerdings nur aufwendig als Stückwerk zu buchen – und im Vergleich teuer, ab 250 Euro pro Person und Richtung.

  5. die Kaltmamsell meint:

    Stimmt, Joe, bei den Unternehmen müsste man ganz anders ansetzen und tiefer umdenken.
    Soweit ich weiß, ist die CO2-Bilanz von Dienstreisen noch kein Teil der CSR/Nachhaltigkeitsberichterstattung – das wäre ein Anfang, inklusive der Anforderung, jedes Jahr eine Reduzierung nachzuweisen (und zwar nicht durch Gegengeschäfte, sondern wirklich).

  6. Elisabeth Merz meint:

    Bin immer wieder begeistert davon, wieviele spannende Themen sich in Ihrem Blog und den Kommentaren offenbaren, liebe Frau Kaltmamsell. Da ich neben Englisch auch Ethik unterrichte, habe ich das Ergebnis des Abtreibungsreferendums ebenso gefeiert wie bei uns letztes Jahr die Homo-Ehe in good ol’ Germany. Dass man sich durch Reisen in die betreffenden Länder deren aktuellen Themen stärker verbunden fühlt, kann ich bestätigen: nach meiner Indonesien-Reise sorgte ich mich nach der Nachricht über den letzten großen Vulkanausbruch auf Java um die netten Menschen, die ich dort kennenlernen durfte. Dennoch war das halt auch eine lange Flugreise mit entsprechend großem carbon footprint. Und da beißt sich halt die Katze moralisch in den Schwanz: wir wissen alle, dass persönliche Begegnungen verbindlicher und nachhaltiger sind als reine Bild-/Videokonferenzen. Somit werden Flugreisen zumindest für politisch-diplomatische Ämter langfristig eine Notwendigkeit bleiben. Bis uns dafür global eine richtig kluge Lösung einfällt, halte ich es wie Sie und die anderen KommentatorInnen: eigenen Flugkonsum auf ein Mindestmaß runterschrauben und neue weiße Flecken auf der persönlichen Weltkarte von Bus und Zug aus bestaunen und erwandern. Zudem ist es dann ja sinnvoll, die finanzielle Ersparnis in kulinarische Genüsse zu investieren, ist es nicht;-)?

  7. Ferrer meint:

    Lustig, bei Mademoiselle liest sich die Speiseauswahl etwas anders an :-) Wenn zwei dasselbe erleben, erzählen sie es doch anders!

  8. die Kaltmamsell meint:

    Sie lesen hier wahrscheinlich beim falschen Tag, Ferrer, hier der Linkservice:
    https://www.vorspeisenplatte.de/speisen/2018/05/journal-dienstag-29-mai-2018-durch-dublin-mit-dem-fraeulein-und-ein-abendessen-im-winding-stair.htm

  9. Ulrike meint:

    Was diesen ganzen Fliegerei-Wahnsinn angeht, würde ich mir wünschen, dass all jene, die so begeistert mehrmals im Jahr mit dem Billigflieger unterwegs sind, auch mal an die Teile der Bevölkerung denken, die unter dem Ausbau von Start- und Landebahnen zu leiden haben.

    Von den extrem kurzen Sommernächten, in denen man es bei geschlossenen Fenstern vor lauter Hitze nicht aushält und der erste Flieger schon wieder um fünf Uhr morgens übers Haus donnert, gar nicht erst zu reden.

    Außerdem finde ich es schade, dass viele in die Ferne schweifen müssen, wo doch das Gute so nah liegt.

    LG
    Ulrike

  10. Ferrer meint:

    Oh, falscher Eintrag erwischt, Frau Kaltmamsell? Wie lustig! Wäre nicht schlecht, aufmerksamer zu lesen. Jetzt verstehe ich es besser, danke für den Link. Soll mir eine Lehre sein. ;-)

  11. Alexander meint:

    Ich kenne und setze seit Jahren ein: https://www.arktik.de

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