Journal Donnerstag, 5. Juli 2018 – Bachmannpreis 2018, Tag 1
Donnerstag, 5. Juli 2018 um 18:43Wegen zeitlicher Koordination noch am selben Tag veröffentlicht, wegen aktuellen Studioaufbaus ohne Fotos weil praktisch nicht machbar.
Zum Schluss bekam sich die Jury doch noch in die Haare – die Lager teilten sich zwar nicht, wie ich es erwartet hätte, aber sonst wäre der Tag zu harmonisch geworden.
Textqualität heute akzeptabel, nur mit zwei Geschichten konnte ich nicht recht etwas anfangen, nur bei einer davon wand ich mich in Schmerzen.
Ich vermisse die automatische Literaturkritik und ihre Menschen. Roter Motivfaden bislang höchstens viel Wikipediainhalte sowie komplettes Fehlen von Tieren oder Kindheitserinnerungen.
Eine halbe Stunde vor Beginn war ich an der Studiotür, die sich da gerade öffnete – und bekam keinen Sitzplatz mehr (mag mit den beiden Schulklassen zu tun gehabt haben).
Mitschreiben im Stehen ist anstrengend, außerdem fühlte ich mich nicht wohl (siehe unten), dennoch beschloss ich, an der Wand auf einen Sitzwechsel nach dem ersten Text zu warten. Ein kleine alte Frau drängelt sich kurz vor Beginn vor mich und den Herrn vor mir, lächelt uns an: “Stört sie des?” Ja, aber nur weil sie dadurch eine bessere Startposition als wir für freiwerdende Sitzplätze bekam – die sie selbstverständlich bei erster Gelegenheit nutzte.
Start mit Raphaela Edelbauer, “Das Loch”. Verführt durch die weibliche Lesestimme sah ich das Ich lange als weibliche Geologin/Technikerin vor mir und freute mich schon, doch ich hatte mich geirrt. Mich interessierte die Geschichte, nur fand ich die Erzählinstanz misslungen: Die Figurenzeichnung des Technikers passte nicht zum Tonfall der historischen Erzählabschnitte, er sollte aber auch hier der Sprecher sein.
Das neue Jurymitglied Insa Wilke äußerte sich gleich mal begeistert, weil die vielen Möglichkeiten von Körper-Berg-Kollektivverdrängung bearbeitet worden seien; sie kritisierte allerdings den Mittelteil mit historischer Erzählung und das Tempo, das der Text danach vorgelegt habe.
Hubert Winkels hatte den Text als Darstellung einer Unheilsgeschichte gelesen, mochte, wie darin der “Technizismus der Vernichtung von Menschen” in Zahlen gefasst worden sei. Doch auch er war über den Ich-Erzähler als Absender des Berichts über die Geschichte des Orts gestolpert.
Das Bild des verpeilten Akademikers sah Nora Gomringer in der Hauptfigur, auch sie legte den Finger auf die unpassende Gattung der historischen Einschübe. Sie hob den feministischen Blick der Geschichte hervor und landete den ersten Postkartensatz der Veranstaltung: Eigentlich “sind ja alle Männer Auffüllungstechniker”. Stefan Gmünder arbeitete das Motiv des Kontrollverlusts heraus, Hildegard Keller und Michael Wiederstein kritisierten eine Überfrachtung der Geschichte mit Details und Information als Füllmaterial.
Sehr angetan äußerte sich Klaus Kastberger über die “Intensitäten, die der Text herstellt”, angefangen mit den Anfangsbild der geblendeten Pferde im Bergwerksbetrieb. Er assoziierte zentrale Traditionen der deutschsprachigen Literatur vor allem aus Österreich (Hans Lebert), die hier in aktueller, dichter Form weitergeführt würden. Überladen sei der Text keineswegs, sondern er führe eigentlich sehr komplexe Dinge zusammen.
Uneinig war sich die Jury auch über den Aspekt der Erotik: Spielte sie eine Rolle oder nicht?
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Mir ging’s wirklich nicht gut; da ich mich nur mühsam auf den Beinen hielt, zog ich um ins Café des ORF-Theaters und verfolgte im Sitzen die nächsten beiden Lesungen/Diskussionen auf den Bildschirmen.
Martina Clavadetscher las “Schnittmuster”. Die Geschichte aus der Perspektive einer eben verstorbenen 92-Jährigen entpuppte sich schnell als erster #metoo-Beitrag, hatte interessante Motive, war nicht-realistisch erzählt. Aus der könnte man was machen, doch kam mir einiges unrund vor (und leider weiß ich halt durch das Lesen von Bestatterblogs, dass man keineswegs Toten die Knochen bricht, um sie in den Sarg zu bekommen; man muss lediglich das Verschwinden der Totenstarre nach 24-48 Stunden abwarten, dann geht das ganz geschmeidig).
Die Jury ordnete die Geschichte schnell in die #metoo-Debatte ein (wobei Wilke darauf hinwies, dass keine Front Männer-Frauen gezogen werde), verortete sie aber zeitlich in der Generation, die verdrängte und schwieg. Kastberger spannte den Bogen zur literarischen Tradition der Totenrede, die bis in die Antike reiche: dort sei sie klassisch ein Dialog mit den Lebenden (Keller ergänzte: mit dem Appell “carpe diem”), im vorliegenden Fall ein Monolog.
Als Kritik fiel der Hinweis auf ein Fehlen jedes Auflehnens, jeder Härte im Text, Winkels nante ihn “quietistisch” und eigentümlich distanziert. Kastberger hielt den für ihn zentralen Satz dagegen: “Ich richte mir in meinem Sterben ein Arbeitszimmer ein.” Er begrüßte, dass die Totenperspektive hier eben nicht in einen Zombiefuror führe.
Weitere Motive, die der Jury wichtig waren: Protestantisches Arbeitsethos und Metamorphose.
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“Lumumbaland” hieß die Geschichte von Stephan Lohse. Ich hörte gerne zu, die Handlung um zwei junge Burschen interessierte mich und entfaltete sich schön, wir bekamen erstmals Humor, vor allem in Dialogen – doch ich hörte im gesamten Tonfall ständig Herrndorfs Tschick durch. Dass ein weißer Kerl aus armen Verhältnissen sich heute nach einem afrikanischen Widerstandskämpfer nennt und sich mit ihm identifiziert, hätte meiner Ansicht nach allerdings eine erzählerische Reflexionsebene gebraucht.
Wilke lobte die Qualität des Erzählens: Setting, Figuren und Dialoge, sah die Geschichte aber als Overtüre zu einer längeren Erzählung. Gmünder mochte den Umgang mit Zeit: Der Text dauere einen erzählten Joint lang, bringe aber Kolonialgeschichte und zwei Liebesgeschichte im Hintergrund unter. Auch Gomringer war angetan, sah aber die Fallen in der Konstellation weißer Junge will Schwarzer sein und wünschte sich eine Fortsetzung, die das verarbeiten würde. Die Lässigkeit in der Erzählhaltung war Winkels positiv aufgefallen, Wiederstein mochte die Gegenüberstellung der deutschen Bauruine eines Einkaufszentrum mit den Zuständen im heutigen Kongo.
Gegenwind kam von Kastberger: Er fand die historischen Passagen langweilig und fühlte sich belehrt, Wilke jedoch sah die Berechtigung im Interesse heutiger junger Menschen an Kolonialgeschichte.
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Auf dem Bildschirm hatte ich gesehen, dass sich die Sitzreihen im Studio gelichtet hatten (die zwei Schulklassen vom Morgen waren verschwunden) und suchte mir bereits einen Platz aus. In der Mittagspause begab ich mich direkt dort hin, lernte als Nachbarin eine zauberhafte Bachmannpreisveteranin kennen und tauschte mit ihr Erfahrungen aus.
Jetzt hatte ich endlich den Blick und die Atmosphäre, wegen derer ich überhaupt vor Ort bin. Die schönste Aussicht war die auf das Gesicht von Nora Gomringer während der Lesungen: Ihre lebhafte Mimik ließ nie Zweifel daran, wie sie das Gehörte gerade fand.
Anna Stern las “Warten auf Ava”, eine Geschichte mit sehr vielen Personen und sehr wenig Handlung, Schauplatz Schottland, Hintergründe wurden nur angedeutet. Dafür sprachen die Figuren meist Deutsch, manchmal aber auch den einen oder anderen Satz Englisch. Und wir hatten einen Treffer für Informationsvermittlung der Sorte “Hans, der wie du weißt dein Vater ist”:
Wie konntest du bloß auf die Idee kommen, bei diesem Wetter allein zum Coire Mhic Fhearchair aufzusteigen und von da aus weiter, um das Loch herum und die Flanken der Triple Buttresses hinauf.
Die Jury teilte meine Ratlosigkeit: Winkels bat gleich mal um Erklärung, er habe nichts verstanden, Wilke argumentierte flugs, um genau dieses Dazwischen gehe es und landete den zweiten Postkartensatz des Tages: “Auf den Berg gehen ist ja auch eine Metapher fürs Lesen.” Kastberger meinte lapidar, er habe “keinen Grund gefunden, warum mich das interessieren soll”. Auch Gomringer mochte hier keine Rätsel lösen.
In der Folge stocherte die Jury nach Brauchbarem: Es gehe um Unwahrscheinlichkeiten (Wiederstein), ums Eingeschlossensein (Gmünder), das Spiel mit der Zeit (Keller), Umgang mit dem Tod (Wilke) – doch Kastberger meinte, zu allem gebe es produktiveren Umgang als den der Geschichte.
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Den Abschluss bildete “Flexen in Miami” von Joshua Groß, und hier entgleisten mir die Züge mehrfach so wie Nora Gomringer. Dass ein Thermomix für eine kurze Metapher herhalten musste, erkläre ich mir mit einer verlorenen Wette des Autors – die ohnehin auch so manch anderen Fehlgriff im Vokabular erklären könnte: “Ich hatte lange vor meiner Geburt damit aufgehört, irgendwelche Ficks zu geben”, “Die darkness, mein alter Freund”, “leichte Mädchen” oder “fragte Charlotte halbseiden” deuten auf einen sehr elaborierten Scherz hin. Im besten Fall.
Doch siehe da: Keller war begeistert, mochte den “Sound”, hatte einen “Text mit Groove” gehört, Winkels sogar einen “Text von großer Klarheit” (schallendes Gelächter von Nora Gomringer), in der eine “Kette medialer Vermittlungen” durchgespielt werde. Als Gomringer ausführen wollte, sie habe wohl einen komplett anderen Text gehört, nämlich den eines Millenial-Menschs, dem es einfach schlecht geht, unterbrach Wilke energisch: Es handle sich um einen artifiziellen Text, der bewusst artifiziell sei (spricht man im Feuilleton so “Scherz” aus?), sie prophezeite, der werde in 15 Jahren in Schullesebüchern stehen wie heute expressionistische Gedichte als Zeugen ihrer Zeit,1 nämlich als Zeugnis für die heutige “metaphysische Obdachlosigkeit”. Auch Gmünder schwärmte von dem Text, der “meine Emotionalität” getroffen habe, Kastberger sah in ihm den “jazzrockigen Bruder von Clemens Setz”, einen “Text einer gewissen Generation”.
Neben Gomringer war auch Wiederstein fassungslos: Das sei doch einfach Popliteratur aus den 90ern. Doch Winkels und Wilke schwärmten weiter, konnten sich nur nicht einigen, ob die Gesellschaftskritik zeitgenössisch sei (Wilke) oder dann doch zu Blade Runner, Bourdieu und den 80ern passe (Winkels). Zumindest bremste Keller ein wenig und warf ein, vielleicht gehe es ja einfach nur um Drogen, nicht um Gesellschaftskritik.
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Sonst: Migränöses Kopfweh ab 5 Uhr (wegen EINEM Schluck Weißwein?!), Ibu half kaum, überm Morgenkaffee spielte ich mit dem Gedanken, den Bachmannpreisvormittag ausfallen zu lassen. Doch das hätte mich derart gewurmt, dass ich mich doch aufraffte. Bis zur Nachmittagsschicht war ich immer wieder kurz davor, ins Bett zu gehen, dann ließ die Qual langsam nach.
Zum Abend hin begann es zu donnern und zu regnen – mal sehen, ob ich überhaupt zum Bürgermeisterinnenempfang nach Maria Loretto radle.
Nachtrag: Hier die Zusammenfassung von Andrea Diener, die wegen Verletzung von Daheim aus gucken muss.
- Sollen wir ihr das Schicksal des Lesebuchs an deutschen Schulen verraten? [↩]
8 Kommentare zu „Journal Donnerstag, 5. Juli 2018 – Bachmannpreis 2018, Tag 1“
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5. Juli 2018 um 20:59
*Gerne gelesen* – wie jedes Jahr! Vielen Dank!
Und gute Besserung!
5. Juli 2018 um 22:51
Vielen Dank für die Texte ! “Flexen in Miami” hielt ich zunächst für humoristisch ….. naja zum Glück muss ich ja dort nichts beurteilen
5. Juli 2018 um 23:23
Danke für die Zusammenfassung. H. verfolgt die Tage online und war von den ersten beiden Beiträgen sehr angetan. Der Text von Frau Edelbauer ist ein politisches Statement und tut Österreich recht gut.
Der zweite Text über das Sterben von Frau Clabvadetscher hat berührt.
Die anderen drei Beiträge – na ja.
H. ist gespannt auf die nächsten Tage (und entzieht sich germanistischem Getue).
6. Juli 2018 um 8:14
******************KOMMENTAROMAT**********************
Gerne gelesen
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6. Juli 2018 um 10:39
Ich glaube, im Nachtrag fehlt der Link. War dieser hier gemeint?
http://blogs.faz.net/buchmesse/2018/07/05/prekaerer-hustle-der-sahara-1689/
6. Juli 2018 um 13:32
******************KOMMENTAROMAT**********************
Gerne gelesen
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6. Juli 2018 um 15:39
Ich hab dich gesehen, im bildhübschen Sommerkleid. Und bei den Texten hätte ich auch Migräne gekriegt. Literaturkritik ist wie Bergsteigen ( um die genannte Metapher weiterzuspinnen).
6. Juli 2018 um 15:58
Genau, Usul, vielen Dank für Hinweis und Nachtrag!