Journal Freitag, 27. Juli 2018 – Ausflug in die Sommerfrische und französische Weinerlichkeitsliteratur
Samstag, 28. Juli 2018 um 8:18Wieder zu früh aufgewacht, aber nicht so schrecklich früh, und in einen wundervollen Hochsommermorgen.
Zum dritten Mal hatte sich meine Leserunde in der Sommerfrische verabredet, also im Feriendomizil zweier Mitlesender am Chiemsee (in der Lokalzeitung stünde jetzt “fast schon zur Tradition geworden” – ab dem vierten Mal lautet die Pflichtformulierung “zur traditionellen Sommerfrische”). Dazu trafen sich die anderen Mitlesenden kurz nach Mittag (jahaha, ich kann auch mal richtig früh Feierabend machen!) am Münchner Hauptbahnhof und stiegen mit einem gemeinsamen Bayernticket in einen Zug nach Salzburg. Es stellte sich heraus, dass viele hundert Menschen dasselbe Ziel hatten, der Zug war knallvoll. Ab Rosenheim teilten wir den Stehplatz in den Gängen mit einer bayerisch-schwäbischen Theatergruppe auf Sommerausflug – Wattenscheider Kegelclub Dreck dagegen. Als wir in Prien ausstiegen, brummte mir der Kopf vor lautstark geäußerten alkoholisierten Dummheiten aller Schattierungen in hinteraugsburger Dialekt.
Doch auf uns warteten Kaffeundkuchen mit sensationeller Aussicht auf Alpenpanorama inklusive Kampenwand – alles war gut.
Dann musste es nochmal nicht so gut werden: Wir sprachen über die Lektüre, Pierre Michon, Anne Weber (Übers.), Leben der kleinen Toten. Ich hatte den in vielen Tönen berühmten Band (unter anderem von Iris Radisch als “eines der großartigsten Bücher überhaupt”) auf dem Weg nach Klagenfurt gelesen, unter immer lauterem Schnauben: Da interessierte sich jemand keineswegs für das Leben kleiner Leute, sondern nur für sich selbst, seine romantische Herkunft, seine tsetsetse wilde und verkommene Drogenjugend – und brauchte ein paar Leute als interessante Staffage dafür, notfalls halb erfunden. Die Sprache vor lauter konstruierter Vergleiche und unter Schmerzenslauten an den Haaren herbeigezogenen Bildern nahezu undurchdringlich – kein Torbogen, kein Baum ist vor Michons Metapherorhoe sicher. (Beispielsatz: “Welches alte Familiendrama lebt weiter in der Kehle der Hähne?”) Wenn das die Krone französischsprachiger Erzählkunst ist, kann sie mir gestohlen bleiben.
Zunächst aber wartete ich ab, was die Mitlesenden der Runde über die Lektüre zu sagen hatten – immer wieder kommen in unseren Gesprächen komplett konträre Rezeptionen auf, die mich sehr bereichern. In diesem Fall waren wir uns aber einig: Aufgeplusterter, überinstrumentierter (den Begriff aus Klagenfurter Jury-Diskussionen bot ich an), weinerlicher und selbstverliebter Schmarrn. So schnell kommt uns kein französisches Buch mehr auf den Tisch.
Zurück zum guten Leben: Mit dem Bauch voll warmem Käsekuchen fuhr der Großteil mit offenem Verdeck zum wundervollen Langbürgner See (ich hatte morgens noch schnell einen Badeanzug in die Arbeitstasche geworfen) sprang hinein und drehte eine Runde. Ich war schon sehr lange nicht mehr in einem See geschwommen und genoss es sehr.
Mehr Alpenpanorama, diesmal mit Cremant, Käse und Auberginensalat, zentrales Gesprächsthema: Die anstehende Mondfinsternis, Verlauf, Zeiten, Richtung.
Die Rückfahrt nach München verlief deutlich einsamer und ruhiger.
Die Mondfinsternis erlebte wir dann doch nicht mit: Herr Kaltmamsell war ebenso erschlagen wie ich, wir hätten zu einem Aussichtspunkt gehen müssen – und wären ja dann doch vor lauter Erschöpfung nicht aufnahmefähig gewesen.
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Wenn Sie in Deutschland wohnen und keinen erkennbaren Einwanderungs-Hintergrund haben: Lesen Sie bitte auf Twitter unter #metwo nach, was andere an Ausgrenzung im Alltag erleben. (Und seien Sie sehr, sehr vorsichtig mit der Ansicht, Sie könnten beurteilen, ob diese Erlebnisse ausgrenzen oder nicht.) Wenn Sie zu den anderen gehören: Lesen Sie unter #metwo nach, dass Sie nicht allein sind oder sich “bloß anstellen”.
Warnung: Der Hashtag wird selbstverständlich längst von Rassisten verwendet, um darunter mehr Rassismus zu veröffentlichen. (Noch sind diese Tweets aber in der Minderheit.)
Irgendwo müsste ich noch die Absage der Hans-Seidl-Stiftung auf meine Bewerbung um ein Promotionsstipendium haben. Begründung: Nur deutsche Staatsangehörige kämen für dieses Stipendium in Frage.
(Die ich auch damals schon lange war. Was man mir dort offensichtlich allein angesichts meines Namens absprach.)
12 Kommentare zu „Journal Freitag, 27. Juli 2018 – Ausflug in die Sommerfrische und französische Weinerlichkeitsliteratur“
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28. Juli 2018 um 8:57
Krass, die Seidl-Stiftung
Und inzwischen könnte man sie (wenn man wollte) wegen sowas verklagen
28. Juli 2018 um 9:14
Haben Sie auf die Absage der Seidl-Stiftung reagiert?
28. Juli 2018 um 9:25
Ja, arboretum: Ich schrieb ihnen, dass ich seit 5.6.1979 deutsche Staatsbürgerin bin und drei Zeugen dafür benennen kann, dass ich “Oachkatzlschwoaf” akzentfrei ausspreche.
Jetzt dürfen Sie raten, ob ich damit das Stipendium bekam.
28. Juli 2018 um 9:46
Wobei das von Ihnen schon recht opportunistisch war, sich dort überhaupt zu bewerben. Wahrscheinlich waren Sie jung und brauchten das Geld …
28. Juli 2018 um 9:53
Mir wurde bei #metwo bewusst, wie entscheidend der Migrationsausgangspunkt ist: Mit einem österreichischen Vater (und entsprechendem langem, steirischen Nachnamen) kann ich mich zwar an interessiertes Nachfragen wegen eben dieses Namens erinnern – an anderes aber nicht. Mein Vater war/ist den üblichen (?) H*tler-Bermerkungen ausgesetzt.
Ich erinnere mich aber an Diskussionen im deutschen mütterlichen Familienzweig, wo in den frühen 80er oft über „die Italiener“ geschimpft wurde; unbeachtet, dass Italien damals im Gegensatz zu Österreich schon in der EG war: die politischen Rahmenbedingungen haben das Verhalten nicht beeinflusst.
28. Juli 2018 um 13:22
“… schon recht opportunistisch… ”
H., der gewiss kein Freund der CSU ist, sieht das anders. Bei der Stiftung arbeiten viele anständige Menschen und sie macht durchaus parteiferne Angebote.
28. Juli 2018 um 18:37
Bin ich genug eingedeutscht, wenn ich weiß (oder besser vermute), dass “Oachkatzlschwoaf” Eichhörnchenschwanz bedeutet?
Oder ist es etwas anderes?
28. Juli 2018 um 18:57
Exakt, allegra – einmal Zugang zu einem Hans-Seidl-Stipendium für die Dame bitte.
28. Juli 2018 um 21:29
Ich vermute ja, die von der Seidl-Stiftung haben nicht einmal geantwortet.
28. Juli 2018 um 21:47
Who’s the hell is Hans Seidel?
29. Juli 2018 um 22:52
R. selbst hat als CSU-ferner Student an mehreren Seminaren im Kloster Banz teilgenommen, H., es gab eine Koop mit der Uni. Hätten Sie das Stipendium bei einer Zusage dann noch angenommen, Kaltmamsell? Wie wäre Ihr Leben wohl mit dem Stipendium verlaufen, ganz oder nur ein wenig anders?
30. Juli 2018 um 6:33
Ich hätte damals alles angenommen, Robert, ich bewarb mich bei jeder Einrichtung, die das Vorlesungsverzeichnis der Uni Augsburg aufführte. Es gab dort keine Doktorandenstellen, und ich wollte wirklich sehr gerne promovieren. Ob ich es letztlich wirklich zu meinem Traumberuf Professorin für Englische Literaturwissenschaft geschafft hätte, kann man nicht wissen.