Archiv für Juli 2018

Journal Samstag, 7. Juli 2018 – Bachmanpreislesen 2018, Tag 3

Samstag, 7. Juli 2018

Zwischenfall am dritten Tag: Im Publikum kippte jemand um (Kreislauf), worauf eine Lesung unterbrochen wurde. Gelernt, dass Friedrich Torberg mal Jurymitglied beim Bachmannpreislesen war. Und dass mich drei Tage Sitzen körperlich deutlich mehr anstrengen als sechs Tage Wandern.

Literatur gab’s auch: Heute quer durch Genres, Themen und Mittel. Ich verfolgte wieder alles im Studio mit.

Es begann Jakob Nolte mit “Tagebuch einer jungen Frau, die am Fall beteiligt war”. Ich fand die Urlaubsgeschichte ganz nett, zuckte allerdings bei der Nennung von Markennamen zusammen (mein Kracht-Trauma ist tief), brachte den Text nicht so recht mit dem Titel zusammen, war irritiert durch sprachliche Fehler, die nicht erst eine Lektorin, sondern auch die liebe Tante Trudi korrigieren hätte können, mochte aber, dass immer wieder Vergleiche auftauchten, deren ausführliche Erklärung Hintergrundgeschichte erzählten.
(Das war die Lesung, die wegen einer umgefallenen Dame unterbrochen wurde. Nolte sehr souverän, fragte nach einem Arzt.)

Gmünder pickte sich zunächst den Bogen Sternenhimmel am Anfang – Versinken in diesem Himmel am Ende heraus, wies aber auch gleich darauf hin, dass niemand Tagebuch schreibe wie in diesem Text. Vielmehr sei er eine “Selbstvergewisserung”, ein “Umfassen der Realität, des Gesehenen”. Er habe das Geheimnisvolle gemocht, den Text aber insgesamt nicht recht fassen können. Weiter ging Keller: Sie sei “mit diesem Text nicht warm geworden”. Die Figuren hätten sie nicht angesprochen, auch kritisierte sie die vielen sprachlichen Fehler.

Die jederzeit enthusiastische Wilke äußerte ihren Eindruck, der Text sei ein Piranha, der darauf warte, “dass wir hineinspringen in seine Falle” (Preis für das biologisch am wenigsten korrekte Bild der drei Tage). Sie sah “tolle Stellen” und Formulierungen, eine “brillante Literatursimulation”, der es “jederzeit um ästhetische Positionierung” gehe.

Auf die sprachlichen Fehler ging Winkels genauer ein: Er sah hinter ihnen Absicht, der Text “dekonstruiert klassische Erzählformen”, sei ein “romantisches Großereignis”, “das Kaputte am Text großartig gestaltet” (Szenenapplaus im Publikum). Keller hätte gerne gewusst, wodurch man gewollte und ungewollte Fehler unterscheiden könne, bekam aber keine Antwort.

Kritisch äußerte sich Gomringer: Sie sah in der Schlussszene eine Avatar-Filmphantasie, eitel und selbstverliebt.

Kastberger lobte die Geschichte, mochte die “nachdenkliche Art”, war gefesselt durch die Sprache, verwies auf die literarische Tradition, über die eigenen Darstellungsmittel zu reflektieren. Allerdings mochte er nicht glauben, dass das eine weibliche Perspektive sei. Es folgte eine seltsame Diskussion, ob es sich um einen langsamen oder einen schnellen Text handelte, in der das vorkommende Kokain eine Rolle spielte.

Wiederstein sah sich positiv gelangweilt und lobte das Motiv des Ennui.

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Stephan Groetzner las “DESTINATION: AUSTRIA”. Schon sein Vorstellungsfilm hatte es vermuten lassen: Österreichbeschimpfung als absurdes Sprachkunstwerk an der Grenze zur Lyrik. Das Wort “Brabantbuntbarsch” spielte seine Hauptrolle souverän, ich fühlte mich gut unterhalten. (Und freute mich, dass auch ohne Burkhard Spinnen ein Burkhard-Spinnen-Text dabei war.)

Wilke nahm das Werk als “Parodie auf die Situation hier”, sogar verschiedene Parodien: James Bond, der Wettbewerb, Provinz, Ineinanderdrehung von Verhältnissen. Wiederstein hatte recherchiert und festgestellt, dass kaum etwas in dem Text erfunden war, selbst die Wundermaschine gebe es. Für ihn behandelte er die Suche nach Identitäten, den Zustand einer Gesellschaft.

Gomringer lobte die extreme Präzision, die durch die getragene Sprache unterstrichen werde; sie sei gar nicht mitgekommen, weil so viel drin stecke. Winkels assoziierte Sacha Baron Cohen-Satire, äußerte Respekt vor der Sammlung an Elementen aus vielen Jahrhunderten, doch der Text bleibe “in der plakativen Aufmachung stecken”.

Keller hingegen fand ihn “toll gemacht”, eine Groteske, eine “K.u.K.-Kollage mit Knalleffekten”, sprach von einem “traurigen Clown”. Kastberger wieder war überhaupt nicht unterhalten: “Dieser Text ist blöd.” Er “basiert auf einer Drogenerfahrung, die Droge heißt Österreich.” Als Österreicher habe er all diese Schmähungen schon zu oft gehört, und meistens auch noch besser.

Ja, stimmte Gmünder zu, das sei ein Tripp, “ein Sprachtripp”, eine Reise ins wilde Österreich. Der ihm aber gefalle.

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In der Mittagspause Begegnung mit Friedrich Torberg, nämlich in einem satirischen Bachmannpreis-Zusammenschnitt, der seit zwei Tagen durch mein Internet gereicht wird und nun in der Übertragung gezeigt wurde:

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https://youtu.be/_AjxZZyYfVs

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Vorletzte Kandidatin: Özlem Özgül Dündar und ihr Romanauszug “und ich brenne”. Ich lese ja nie mit und lasse mir nur vorlesen, sehe erst jetzt, dass der gedruckte Text ein Wörtermeer in Kleinbuchstaben und ohne Interpunktion ist – das muss anstrengend gewesen sein für die Jury.

Ich mochte die Geschichte, vor allem wie sie sich indirekt durch die mündliche Rede von vier Müttern entfaltet. Dass Dündar aus Solingen kommt, hatte ich vorher gelesen, das in Kombination mit dem türkischen Namen und dem Titel der Geschichte ließ mich an den Brandanschlag vor 25 Jahren denken, bevor ich auch nur ein Wort gehört hatte. Die Geschichte vertiefte diese Verbindung. Rausgerissen wurde ich lediglich durch sprachliche Inkonsistenzen in der Mündlichkeit: Wer zum Beispiel spricht wie Mutter 2, sagt nicht “hitziger Teenager”.

Gomringer nannte den Text “furios”, lobte das mündliche Erzählen, bezeichnete es als “Sprachwucht”. Keller äußerte sich begeistert von dem “Verschwimmen von innen und außen”, auch der verschiedenen Mütter, Mütter der Opfer und der Täter. Auch Medienkritik sei eingebaut, “unbequemerweise” in der Perspektive der Opfermutter.

Wiederstein hob die alltägliche Begegnung hervor, die zweimal auftaucht, die Sprachlosigkeit, die Entscheidung für Nichtreden – und kannte zu meiner Verblüffung offensichtlich den Solinger Brandanschlag nicht als historisches Ereignis. Winkels informierte ihn. Für Winkels war der Text eine Trauerlitanei in bedrängender Schleifenform; die Gleichförmigkeit ent-differenziere.

Kastberger warnte, der Bezug zum Anschlag sei nicht im Text selbst, er habe das Netz Mütter-Töchter beim Lesen auch so gebildet, und da die Geschichte lediglich ein Auszug sei, hoffe er auf mehr. Wilke äußerte sich überrascht, dass der Text nicht auf Widerstand stoße, weil er schließlich sehr riskant sei: durch die Anschläge von Solingen und Mölln im Hintergrund, durch die Komplexität, die aus so etwas schlichtem wie einem Gruß durch Nicken geholt werde.

An den Redundanzen störte sich Wiederstein, außerdem sei die Geschichte “an vielen Stellen zu explizit”, und die Figur von Mutter 4 eine zu viel. Ein wenig ging es dann noch um die Rolle der Mutterschaft: Für Gomringer hätte es auch einfach “Frau” lauten können, Winkels, Wilke und Keller beharrten aber auf dem Pietá-Motiv.

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Der nächste Autor, Lennardt Loß, schüttete mir leider mit seinem Vorstellungsfilm das Kraut aus. Ihn interessieren “die kleineren Leute”, “die Boxer”, “die Arbeiter”, weil er in seinem Akademiker-Milieu keine Geschichten findet. Herr Akademiker geht also zum Geschichtenfinden in den Kleine-Leute-Zoo. Ich stellte mir diese Aussagen sofort umgekehrt vor: Eine Fleischerin, die sagt, sie interessiere sich viel mehr für studierte Leute, am besten reiche. Deren Geschichten fände sie einfach viel spannender als die ihrer Fleischereikollegen.

Und dann kam mit “Der Himmel über 9A” auch noch feinste Testosteronliteratur. Eine klassisch geschriebene Abenteuergeschichte auf zwei Zeitebenen, sauber gemachte Flughafenlektüre (Unterschied vielleicht, dass die Abenteuer-Frau einige Chuck-Norris-Moves draufhat) mit RAF-Flüchtling, Flugzeugabsturz, BRD- und DDR-Geschichte im Hintergrund. Für Klagenfurt eher selten.

Wilke war auch davon sehr angetan, sah Schuld und Sehnsucht nach Buße, freute sich über den gut recherchierten Hintergrund zu den genannten Berufen, interessierte sich für die Personen. Letzteres tat Winkels ausdrücklich nicht, er sprach auch von “Räuberpistole” – außer, bot er an, das sei keine realistische Geschichte, sondern die Phantasie von jemandem mit großer Flugangst, der darin mal kurz 80 Jahre deutsche Geschichte unterbringe. Denn “als realistische Geschichte geht die gar nicht”.

Klassisches Erzählen diagnostizierte Kastberger, das “ein außergewöhnliches Ereignis spezifisch gestaltet” – hier seien es allerdings ein paar außergewöhnliche Ereignisse zu viel. Und dann auch noch die Schlusszene als Mischung aus Titanic und Life of Pi: “Völlig unglaubwürdig.”

Gmünder mochte den Humor in existenziellen Situationen (ich hatte hard boiled-Lakonik assoziiert), führte die Überfrachtung darauf zurück, dass der Erzähler seiner Geschichte nicht genug vertraue. Keller freute sich daran, wie diese “aberwitzige” Geschichte aus der ganzen Welt Dinge zusammengesucht hatte, fleißig recherchiert, aber “unheimlich zusammengezwungen”.

Die “lässige Erzählhaltung” gefiel Gomringer, auch dass “so viel anzitiert” werde; für sie hatte die Schlussszene etwas von Loriot. Sie fand die Geschichte “gut und bündig zusammengesetzt”. Wiederstein sah einige schöne Bilder, fand sich an den Typus des 68er-Machos erinnert, der derzeit zum Jubiläum oft beschrieben werde. Eine politische Lesart sei für ihn im Shoppingkatalog am Anfang und dem absurd teuren Stift am Ende enthalten: Die Hauptfigur lasse den Schweinekapitalismus hinter sich.

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Draußen ein echter Sommertag, ich entschied mich dennoch für Bloggen statt Strandbad (erinnern Sie mich daran, dass ich für Klagenfurt vielleicht doch kein Leihrad brauche).

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Die Sicht von Andrea Diener auf den dritten Lesetag: “Räuberpistolen aus der Arbeiterkneipe”.

Freitag, 6. Juli 2018 – Bachmannpreislesen 2018, Tag 2

Freitag, 6. Juli 2018

Das Wichtigste vorweg: Bov Bjergs Text, auf den ich sehr hingefiebert hatte, war nicht nur sehr gut, sondern in einer anderen Liga als der Rest – auf fast schon unfaire Art. Und die Jury bemerkte die Qualität. @demhoferseikatz hat mich beim Zuhören eingefangen:

Doch auch insgesamt war das ein erntereicher Lesetag mit einigem Bemerkenswerten, den ich durchgehend und frei von Kopfweh im Fernsehstudio verbrachte.

Das größte Wagnis bisher ging die erste Autorin des Tages ein: Corinna T. Sievers zeigte sich im Vorstellungsfilm als Zahnärztin der bösartigsten Klischees, als sehr schlanke Blondine in der Praxis, am Klavier, im teuren Geländewagen – es fehlte nur, dass sie an einem FDP-Wahlplakat mit ihrem eigenen Konterfei vorbeifuhr. Und las dann eine Geschichte vor, in der eine sehr schlanke, langhaarige Zahnärztin in ihrer Praxis eine Männer-Pornophantasie auslebte: “Der Nächste, bitte!” Ein so aggressives Verwirrspiel mit den Rollen Autorin/Erzählerin habe ich schon lange nicht mehr erlebt. Der pornografische Text hingegen befremdet mich wie alle platte Pornografie das tut.

Auch die Jury äußerte im Lauf der Diskussion die Sorge, ob Sievers am Montag ihre Praxis wieder in Betrieb würde nehmen können. Doch erst mal sprach Winkels von einem “ungewöhnlichen Text” und verdutzte mich damit, der “sehr explizit das Begehren einer Frau benennt”. Er warf die Frage nach dem Adressaten auf: die Sachlichkeit und die szientistische Sprache weise auf eine Akademie hin. Keller bemerkte die klinische Sorgfalt, doch ihr war der Text nicht radikal genug: Er bleibe stecken “in der Pose der Provokation”. Auch Gmünder hatte sich mehr gewünscht als “pornografische Kälte”, die Wilke als “mit Handschuhen und Mundschutz geschrieben” bezeichnete. Letztere interessierte sich mehr für den Ekel, der am Anfang thematisiert wurde. Auch sie sah die Provokation, insgesamt aber eine nachgeschriebene Männerphantasie.

Gomringer hatte die Geschichte als Erfahrung einer ungewöhnlich liebenden gelesen, sie interessierte sich für die Seitenfiguren und hätte gerne gewusste, wie es mit ihnen weitergeht. Ihr zufolge wurden die Motive Tierisches, Ärztin und Märtyrergedanke behandelt. Kastberger erzählte den Schwank, wie er vergangenes Jahr in Klagenfurt zum Zahnarzt musste, an der Geschichte war ihm die Form sehr aufgefallen: Klassisches pornografisches Setting, Kammerspiel mit Regieanweisungen, doch nur eine Verschiebung der Perspektive auf die Frau war ihm zu wenig. Diese Pespektive bezeichnete Wiederstein als “womansplaining”, in dem der Mann nur “herumliegen und abladen” dürfe.

Als ringsum Vergleiche mit erotischer Literatur durch die Nationen und Jahrhunderte fielen, nahm Keller das als Beweis, dass dem Text zu viel fehle, sonst bräuchte es beim Reden darüber nicht so viel “literaturwissenschaftlichen Stützbeton” (mein Postkartenausdruck des Tages). Innertextlich ging es noch um Männer/Frauen (Gomringer: “mit männlicher Kraft erzählt”), Schmutz und Macht.

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Selbst hatte ich ganz andere Sorgen: Ich wusste nicht, woher ich atmen sollte. Meine Sitznachbarin verströmte eine ultrapenetrante Parfumwolke, die auch nach einer Stunde nicht schwächer geworden war. Sollten Sie mich bei den ersten beiden Lesungen also hinter Sievers und dann Ally Klein mit seltsam weggedrehtem Kopf gesehen haben: Ich versuchte irgendwie an parfumarme Atemluft zu kommen. Deshalb und weil ich im Büro ein ähnliches Problem habe: Bitte, bitte gehen Sie sparsam mit Parfum um. Wenn Sie einen Duft schon etwas länger verwenden, das heißt mehr als einen Monat, nehmen Sie ihn selbst kaum mehr wahr: Bitte verwenden Sie nicht so viel, bis Sie ihn selbst wieder riechen, Sie belästigen Ihre Umgebung.

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Ally Klein las “Carter”. Wieder hörte ich sehr Körperliches, doch jetzt in noch mehr Details und praktisch ohne Handlung: Reines Setting zur minutiösen Schilderung zweier Panikattacken – die auch in einem Panik-Crescendo vorgetragen wurden. Aus meiner Sicht eine gelungene schreiberische Etüde, doch mich würde das Ergebnis der Übungen mehr interessieren als die Übung.

Winkels thematisierte eingangs die Vortragsweise, hatte in dem langsamen Finden von Sinneswahrnehmungen eine Kosmogonie entdeckt. Für Gmünder hatte der Text einen “Sog von Anfang an”, er mochte das Präzise. Gomringer zählte einige der vielen Fragen auf, die der Text offen ließ (Gefangenschaftszenario?), fand ihn beklemmend. Für Kastberger erzeugte der Titel “Carter” einen Spannungsbogen, den dorthin führe der Text, für Keller hatte er “die Sprache zum Labor gemacht”. Wiederstein sprach von einem “Adoleszenztext”, der geradezu organisch funktioniere.

Kritik äußerte Winkels an der Unterkomplexität, Wilke an der Ungenauigkeit: Das sei ein Theatertext, der den Vortrag brauche. Genau diese Ungenauigkeit bezeichnete Wiederstein als “Schwungmasse” – und damit hatte mich die Diskussion verloren. Am ehesten verstand ich dann noch die Hinweise auf das Motiv des Unheimlichen.

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Während Tanja Maljartschuk ihre Geschichte “Frösche im Meer” las, entspannte sich das Publikum sichtlich. Ich unter anderem, weil ich mich aus der Parfumwolke wegsetzen hatte können, aber ebenso wie der Rest des Studios, weil wir jetzt eine richtige, klassische Geschichte hörten.

Gomringer machte sich über diese Erleichterung möglicherweise ein wenig lustig, als sie dem Publikum den Gedanken unterstellte: “Endlich Literatur.” Wilke wies darauf hin, wie das Innenleben der Figuren nicht erzählt, sondern gezeigt werde, lobte das Fehlen von Gefühlsduselei. Kastberger zählte die positiven Aspekte auf: Einfache Geschichte, Motivation klar, Hintergrund sehr hart, Einsamkeit der alten Frau und des Migranten, “die Verlage werden sich darum reißen”.

Nun entspann sich eine Diskussion, ob der Hauptcharakter Petro eine Verliererfigur sei oder nicht – kommt halt sehr darauf an, was man als Erfolg definiert. Wiederstein kehrte zurück zu literarischen Aspekten, indem er darauf hinwies, dass der Text eine große Nähe zu seinen Figuren herstelle, was zu Empathie und Demut führe.

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In der Mittagspause setzte ich mich um: Von den beiden Nachmittagslesern wollte ich beim Lesen nicht nur die Hinterköpfe sehen.

Bov Bjerg las “Serpentinen”. Und mei: Er kann’s halt. Vom irreführenden Einstieg über das Motivsetzen und Erzählen durch Dialoge bis zum Schließen von Verbindungen zwischen Innen und Außen ohne Vorspiegelung von erzählerischer Unschuld. Bov versteht sein Handwerk meisterlich. Ich war sehr gerührt und dann freute ich mich wie bescheuert.

Wilke sprach von einem “spektakulär unspektakulären” Text, Winkels sah die Parallelen zwischen Erdgeschichte und Genealogie, sah die Schnitte und Risse in beidem. Die kurzen Einheiten gäben dem Text “etwas Freies”, das Ende sei ein utopischer Ausblick. Er lobte auch die spezielle Kunst, mit Dialogen zu erzählen.

Gmünder gestand seine grundsätzliche Sympathie für Texte mit Vätern und Kindern, er benannte auch die gut eingebauten Leerstellen: Fehlen der Mutter, mögliche Flucht. Wilke arbeitete heraus, wie zentral der Begriff “Versteinerungen” sei, unter denen der Vater in mehrfacher Hinsicht leide, wie sehr ihn belaste, dass er seinem Kind schaden könne. Keller wies auf die zwei Ebenen der Kommunikation hin, die äußere mit dem Kind und die innere der Erzählerfigur, nannte die Geschichte einen “radikalen Text”.

Wiederstein war die Rolle der Provinz wichtig, die als Katalysator wirke, Schauplatz von Brüchen und Veränderungen. Winkels sah die Verzweiflung über den Zustand der Zivilisation wiedergegeben, und das mit lyrischen Mitteln. Kastberger war das Motiv der Wurzeln aufgefallen, die tief in die deutsche und österreichische Nachkriegszeit reichten, und der innere Konflikt des Vaters. Auch für Gomringer war die Geschichte “ein ausgezeichneter Text”.

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Zuletzt las Anselm Neft “Mach’s wie Miltos!”, sehr dynamisch und dramatisch mit Rollen. Ich mochte die verschiedenen Zeitstränge, die Detailarmut in der Beschreibung eines Obdachlosenlebens, das Verwirrspiel der Realitätsebenen.

Die Jury schien erstmal überfahren, Winkels äußerte sich verstimmt über die “Massivität”, mit der er zu Mitleid gebracht werden sollte, er fühle sich “erpresst” und nannte den Text “überinstrumentiert”. Auch Wilke fand die Geschichte “überfrachtet”: Obdachloser, Verlust, Miltos, Kritik an Angestelltengesellschaft – und dann auch noch der Hund. Außerdem habe die Schnitttechnik bei ihr Skepsis erzeugt: Damit würden oft Schwächen verdeckt. Gmünder sah nicht Schnitte, sondern Stationen und lobte die Exposition; doch auch er sah einen Text, der zu viel wolle. Gomringer fand hingegen diese “Fülle gut orchestriert”.

Eine spannende Lesart bot Wiederstein an: Was, wenn nicht Miltos der unsichtbare, halluzinierte Freund sei, sondern alles andere erfunden? Keller sah sehr viele Stellen in der Geschichte als offen an und gab zu, dass sie Anselm Neft gerne fragen würde, was er von der Diskussion der Jury halte. (Winkels: Das wäre dann eine andere Veranstaltung.)

Kastberger vermutete, dass der Text für die Bühne gemacht sei und dort mit seinen plakativen Effekten und Stilfiguren besser gewirkt hätte.

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Kurzer Austausch mit Bekannten, vage Verabredung zum Abendessen.

Hier trage ich weitere #tddl-Berichte nach, zum Beispiel
Andrea Diener, “Probebohrungen bei der Pornozahnärztin”.
Modeste, “Der dritte Tag (tddl)”.

Journal Donnerstag, 5. Juli 2018 – Bachmannpreis 2018, Tag 1 Nachtrag abends

Freitag, 6. Juli 2018

Nach sieben tröpfelte es gestern nur noch, also nahm ich die Einladung der Klagenfurter Bürgermeisterin ins Schloss Maria Loretto (Vorsicht Ton!) an. Der Wohungsvermieter hatte mir auf meine Bitte ein Fahrrad bereit gestellt, erst bei näherer Betrachtung stellte es sich als Spielzeug heraus statt als Verkehrsmittel: Keine Schutzbleche, kein Licht. Jetzt war es allerdings zu spät für ein Umschwenken. Ich hatte mich wegen des Wetters ohnehin nicht abendfein umgezogen, das Sommerkleid würde den Spritzwasserstreifen am Rücken aushalten müssen, nachts würde ich die fünf Kilometer zurück ohne Licht halt auf Nebenstraßen und sehr, sehr vorsichtig fahren.

Wir wurden ausgezeichnet und großzügig bewirtet (die Sparzeiten mit Nudelbuffet sind vorbei), ich tauschte mich mit einer fröhlichen Tischrunde über die Texte des Tages aus, plauderte dabei unter anderem auch mit dem Bachmannpreiskandidaten Anselm Neft.

Eine meiner Tischdamen erzählte von einem Telefonat mit ihrem sechsjährigen Sohn, dem sie diesen Lesewettbewerb erklärt habe. Er habe zunächst an Vorlesewettberwerb gedacht, doch in Klagenfurt gewinne ja die beste Geschichte. Enttäuscht sei er lediglich gewesen, dass bislang keine Drachen vorgekommen seien. Anselm Neft äußerte daraufhin die Einschätzung, sein Text könnte einem Sechsjährigen durchaus gefallen, und jetzt bin ich noch gespannter als ohnehin schon auf den Freitagnachmittag.

Ich verabschiedete mich wieder früh und kam heil zurück in die Innenstadt. Mehr noch als das fehlende Licht irritierten mich die schwimmenden breiten Reifen dieses eventuell Mountainbikes.

Journal Donnerstag, 5. Juli 2018 – Bachmannpreis 2018, Tag 1

Donnerstag, 5. Juli 2018

Wegen zeitlicher Koordination noch am selben Tag veröffentlicht, wegen aktuellen Studioaufbaus ohne Fotos weil praktisch nicht machbar.

Zum Schluss bekam sich die Jury doch noch in die Haare – die Lager teilten sich zwar nicht, wie ich es erwartet hätte, aber sonst wäre der Tag zu harmonisch geworden.

Textqualität heute akzeptabel, nur mit zwei Geschichten konnte ich nicht recht etwas anfangen, nur bei einer davon wand ich mich in Schmerzen.

Ich vermisse die automatische Literaturkritik und ihre Menschen. Roter Motivfaden bislang höchstens viel Wikipediainhalte sowie komplettes Fehlen von Tieren oder Kindheitserinnerungen.

Eine halbe Stunde vor Beginn war ich an der Studiotür, die sich da gerade öffnete – und bekam keinen Sitzplatz mehr (mag mit den beiden Schulklassen zu tun gehabt haben).

Mitschreiben im Stehen ist anstrengend, außerdem fühlte ich mich nicht wohl (siehe unten), dennoch beschloss ich, an der Wand auf einen Sitzwechsel nach dem ersten Text zu warten. Ein kleine alte Frau drängelt sich kurz vor Beginn vor mich und den Herrn vor mir, lächelt uns an: “Stört sie des?” Ja, aber nur weil sie dadurch eine bessere Startposition als wir für freiwerdende Sitzplätze bekam – die sie selbstverständlich bei erster Gelegenheit nutzte.

Start mit Raphaela Edelbauer, “Das Loch”. Verführt durch die weibliche Lesestimme sah ich das Ich lange als weibliche Geologin/Technikerin vor mir und freute mich schon, doch ich hatte mich geirrt. Mich interessierte die Geschichte, nur fand ich die Erzählinstanz misslungen: Die Figurenzeichnung des Technikers passte nicht zum Tonfall der historischen Erzählabschnitte, er sollte aber auch hier der Sprecher sein.

Das neue Jurymitglied Insa Wilke äußerte sich gleich mal begeistert, weil die vielen Möglichkeiten von Körper-Berg-Kollektivverdrängung bearbeitet worden seien; sie kritisierte allerdings den Mittelteil mit historischer Erzählung und das Tempo, das der Text danach vorgelegt habe.

Hubert Winkels hatte den Text als Darstellung einer Unheilsgeschichte gelesen, mochte, wie darin der “Technizismus der Vernichtung von Menschen” in Zahlen gefasst worden sei. Doch auch er war über den Ich-Erzähler als Absender des Berichts über die Geschichte des Orts gestolpert.

Das Bild des verpeilten Akademikers sah Nora Gomringer in der Hauptfigur, auch sie legte den Finger auf die unpassende Gattung der historischen Einschübe. Sie hob den feministischen Blick der Geschichte hervor und landete den ersten Postkartensatz der Veranstaltung: Eigentlich “sind ja alle Männer Auffüllungstechniker”. Stefan Gmünder arbeitete das Motiv des Kontrollverlusts heraus, Hildegard Keller und Michael Wiederstein kritisierten eine Überfrachtung der Geschichte mit Details und Information als Füllmaterial.

Sehr angetan äußerte sich Klaus Kastberger über die “Intensitäten, die der Text herstellt”, angefangen mit den Anfangsbild der geblendeten Pferde im Bergwerksbetrieb. Er assoziierte zentrale Traditionen der deutschsprachigen Literatur vor allem aus Österreich (Hans Lebert), die hier in aktueller, dichter Form weitergeführt würden. Überladen sei der Text keineswegs, sondern er führe eigentlich sehr komplexe Dinge zusammen.

Uneinig war sich die Jury auch über den Aspekt der Erotik: Spielte sie eine Rolle oder nicht?

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Mir ging’s wirklich nicht gut; da ich mich nur mühsam auf den Beinen hielt, zog ich um ins Café des ORF-Theaters und verfolgte im Sitzen die nächsten beiden Lesungen/Diskussionen auf den Bildschirmen.

Martina Clavadetscher las “Schnittmuster”. Die Geschichte aus der Perspektive einer eben verstorbenen 92-Jährigen entpuppte sich schnell als erster #metoo-Beitrag, hatte interessante Motive, war nicht-realistisch erzählt. Aus der könnte man was machen, doch kam mir einiges unrund vor (und leider weiß ich halt durch das Lesen von Bestatterblogs, dass man keineswegs Toten die Knochen bricht, um sie in den Sarg zu bekommen; man muss lediglich das Verschwinden der Totenstarre nach 24-48 Stunden abwarten, dann geht das ganz geschmeidig).

Die Jury ordnete die Geschichte schnell in die #metoo-Debatte ein (wobei Wilke darauf hinwies, dass keine Front Männer-Frauen gezogen werde), verortete sie aber zeitlich in der Generation, die verdrängte und schwieg. Kastberger spannte den Bogen zur literarischen Tradition der Totenrede, die bis in die Antike reiche: dort sei sie klassisch ein Dialog mit den Lebenden (Keller ergänzte: mit dem Appell “carpe diem”), im vorliegenden Fall ein Monolog.

Als Kritik fiel der Hinweis auf ein Fehlen jedes Auflehnens, jeder Härte im Text, Winkels nante ihn “quietistisch” und eigentümlich distanziert. Kastberger hielt den für ihn zentralen Satz dagegen: “Ich richte mir in meinem Sterben ein Arbeitszimmer ein.” Er begrüßte, dass die Totenperspektive hier eben nicht in einen Zombiefuror führe.

Weitere Motive, die der Jury wichtig waren: Protestantisches Arbeitsethos und Metamorphose.

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“Lumumbaland” hieß die Geschichte von Stephan Lohse. Ich hörte gerne zu, die Handlung um zwei junge Burschen interessierte mich und entfaltete sich schön, wir bekamen erstmals Humor, vor allem in Dialogen – doch ich hörte im gesamten Tonfall ständig Herrndorfs Tschick durch. Dass ein weißer Kerl aus armen Verhältnissen sich heute nach einem afrikanischen Widerstandskämpfer nennt und sich mit ihm identifiziert, hätte meiner Ansicht nach allerdings eine erzählerische Reflexionsebene gebraucht.

Wilke lobte die Qualität des Erzählens: Setting, Figuren und Dialoge, sah die Geschichte aber als Overtüre zu einer längeren Erzählung. Gmünder mochte den Umgang mit Zeit: Der Text dauere einen erzählten Joint lang, bringe aber Kolonialgeschichte und zwei Liebesgeschichte im Hintergrund unter. Auch Gomringer war angetan, sah aber die Fallen in der Konstellation weißer Junge will Schwarzer sein und wünschte sich eine Fortsetzung, die das verarbeiten würde. Die Lässigkeit in der Erzählhaltung war Winkels positiv aufgefallen, Wiederstein mochte die Gegenüberstellung der deutschen Bauruine eines Einkaufszentrum mit den Zuständen im heutigen Kongo.

Gegenwind kam von Kastberger: Er fand die historischen Passagen langweilig und fühlte sich belehrt, Wilke jedoch sah die Berechtigung im Interesse heutiger junger Menschen an Kolonialgeschichte.

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Auf dem Bildschirm hatte ich gesehen, dass sich die Sitzreihen im Studio gelichtet hatten (die zwei Schulklassen vom Morgen waren verschwunden) und suchte mir bereits einen Platz aus. In der Mittagspause begab ich mich direkt dort hin, lernte als Nachbarin eine zauberhafte Bachmannpreisveteranin kennen und tauschte mit ihr Erfahrungen aus.

Jetzt hatte ich endlich den Blick und die Atmosphäre, wegen derer ich überhaupt vor Ort bin. Die schönste Aussicht war die auf das Gesicht von Nora Gomringer während der Lesungen: Ihre lebhafte Mimik ließ nie Zweifel daran, wie sie das Gehörte gerade fand.

Anna Stern las “Warten auf Ava”, eine Geschichte mit sehr vielen Personen und sehr wenig Handlung, Schauplatz Schottland, Hintergründe wurden nur angedeutet. Dafür sprachen die Figuren meist Deutsch, manchmal aber auch den einen oder anderen Satz Englisch. Und wir hatten einen Treffer für Informationsvermittlung der Sorte “Hans, der wie du weißt dein Vater ist”:

Wie konntest du bloß auf die Idee kommen, bei diesem Wetter allein zum Coire Mhic Fhearchair aufzusteigen und von da aus weiter, um das Loch herum und die Flanken der Triple Buttresses hinauf.

Die Jury teilte meine Ratlosigkeit: Winkels bat gleich mal um Erklärung, er habe nichts verstanden, Wilke argumentierte flugs, um genau dieses Dazwischen gehe es und landete den zweiten Postkartensatz des Tages: “Auf den Berg gehen ist ja auch eine Metapher fürs Lesen.” Kastberger meinte lapidar, er habe “keinen Grund gefunden, warum mich das interessieren soll”. Auch Gomringer mochte hier keine Rätsel lösen.

In der Folge stocherte die Jury nach Brauchbarem: Es gehe um Unwahrscheinlichkeiten (Wiederstein), ums Eingeschlossensein (Gmünder), das Spiel mit der Zeit (Keller), Umgang mit dem Tod (Wilke) – doch Kastberger meinte, zu allem gebe es produktiveren Umgang als den der Geschichte.

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Den Abschluss bildete “Flexen in Miami” von Joshua Groß, und hier entgleisten mir die Züge mehrfach so wie Nora Gomringer. Dass ein Thermomix für eine kurze Metapher herhalten musste, erkläre ich mir mit einer verlorenen Wette des Autors – die ohnehin auch so manch anderen Fehlgriff im Vokabular erklären könnte: “Ich hatte lange vor meiner Geburt damit aufgehört, irgendwelche Ficks zu geben”, “Die darkness, mein alter Freund”, “leichte Mädchen” oder “fragte Charlotte halbseiden” deuten auf einen sehr elaborierten Scherz hin. Im besten Fall.

Doch siehe da: Keller war begeistert, mochte den “Sound”, hatte einen “Text mit Groove” gehört, Winkels sogar einen “Text von großer Klarheit” (schallendes Gelächter von Nora Gomringer), in der eine “Kette medialer Vermittlungen” durchgespielt werde. Als Gomringer ausführen wollte, sie habe wohl einen komplett anderen Text gehört, nämlich den eines Millenial-Menschs, dem es einfach schlecht geht, unterbrach Wilke energisch: Es handle sich um einen artifiziellen Text, der bewusst artifiziell sei (spricht man im Feuilleton so “Scherz” aus?), sie prophezeite, der werde in 15 Jahren in Schullesebüchern stehen wie heute expressionistische Gedichte als Zeugen ihrer Zeit,1 nämlich als Zeugnis für die heutige “metaphysische Obdachlosigkeit”. Auch Gmünder schwärmte von dem Text, der “meine Emotionalität” getroffen habe, Kastberger sah in ihm den “jazzrockigen Bruder von Clemens Setz”, einen “Text einer gewissen Generation”.

Neben Gomringer war auch Wiederstein fassungslos: Das sei doch einfach Popliteratur aus den 90ern. Doch Winkels und Wilke schwärmten weiter, konnten sich nur nicht einigen, ob die Gesellschaftskritik zeitgenössisch sei (Wilke) oder dann doch zu Blade Runner, Bourdieu und den 80ern passe (Winkels). Zumindest bremste Keller ein wenig und warf ein, vielleicht gehe es ja einfach nur um Drogen, nicht um Gesellschaftskritik.

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Sonst: Migränöses Kopfweh ab 5 Uhr (wegen EINEM Schluck Weißwein?!), Ibu half kaum, überm Morgenkaffee spielte ich mit dem Gedanken, den Bachmannpreisvormittag ausfallen zu lassen. Doch das hätte mich derart gewurmt, dass ich mich doch aufraffte. Bis zur Nachmittagsschicht war ich immer wieder kurz davor, ins Bett zu gehen, dann ließ die Qual langsam nach.

Zum Abend hin begann es zu donnern und zu regnen – mal sehen, ob ich überhaupt zum Bürgermeisterinnenempfang nach Maria Loretto radle.

Nachtrag: Hier die Zusammenfassung von Andrea Diener, die wegen Verletzung von Daheim aus gucken muss.

  1. Sollen wir ihr das Schicksal des Lesebuchs an deutschen Schulen verraten? []

Journal Mittwoch, 4. Juli 2018 – Reise nach Klagenfurt

Donnerstag, 5. Juli 2018

Früh zog ich zum Bahnhof, es war überraschend warm in München (vermutlich sogar genug für Balkonkaffee).

Ereignislose Fahrt im Railjet (ich möchte jetzt aber doch mal den Jet-Antrieb gezeigt bekommen), interessiert Zeitung gelesen, stirnrunzelnd Buch, die Sitzhaltung immer wieder millimeterweise nachjustiert wegen Bandscheiben-induzierter Hüft- und Beinschmerzen.

Am Bahnhof Klagenfurt zerplatzte meine Hoffnung auf Kofferunterstellung in einem Schließfach:

(Aber the Kipferl are alright). Also rollkofferte ich an den Neuen Platz, ich war hungrig. Das gleichnamige Café war leider kein Kaffeehaus, ich bekam nichts zu essen. Dafür wurde ich zu meinem Cappuccino rundum zugeraucht. Das Wetter war warm und sonnig, ich zog weiter an den Domplatz und ließ mich auf einer schattigen Bank nieder. Bis sich ein Frau neben mich setzte und eine Zigarette anzündete. Die restliche Zeit bis zur Schlüsselübergabe verbrachte ich unberaucht in einer Grünanlage.

Meine Unterkunft ist die kleine echte Wohnung eines jungen Manns mit Hanteln unterm Wohnzimmertisch und wenigen Büchern, über die Hälfte davon christlich. Passt schon. Lebensmitteleinkauf bei Billa, die Selbstzahlerkasse durchgespielt (fast perfekt, nur hatte ich mein Obst nicht abgewogen).

Abends Eröffnung der Tage der deutschsprachigen Literatur im ORF-Theater, einige vertraute Bloggerinnen getroffen, Bov Bjerg die Hand geschüttelt und ihn ermahnt, sich zu benehmen. Vor den Studioeingang im Obergeschoß konnte man sich nicht mehr setzen, der Bereich war abgesperrt. Wie ohnehin alles deutlich reglementierter und abgesperrter war als bei meinem letzten Besuch vor drei Jahren (sichtbare Sicherheitskräfte!).

Ich verfolgte die Reden, die Auslosung der Lesereihenfolge, die “Rede zur Literatur” von Feridun Zaimoglu im Garten des ORF-Theaters auf Bildschirmen, hin und wieder regnete es. Zaimoglus Rede beeindruckte mich sehr, hier ist sie nachzulesen. Überraschenderweise ist sie nicht als Gedicht gesetzt: Er hatte sie so klar rhythmisch vorgetragen, ihr Takt unterstrichen mit der rechten Hand, das ich das erwartet hatte.

Am Tisch unterhielten wir uns noch eine ganze Weile darüber, dazu ein Glas Wein. Später als sonst verabschiedete ich mich, heim zu einem Butterbrot (ans Essens-Angebot im ORF-Theater war praktisch kein Durchkommen) und zum Bett.

1000 Fragen 61-80

Mittwoch, 4. Juli 2018

61. Glaubst du an ein Leben nach dem Tod?
Ja und nein.
Ja: Alles und alle haben Auswirkungen und Folgen, leben also in irgendeiner dinglichen und nicht-dinglichen Weise fort, auch nach Ende des individuellen Lebens.
Nein: An ein Weiterleben als Individuum, wie es Religionen als Leben nach dem Tod erzählen, glaube ich nicht.

62. Auf wen bist du böse?
Es gibt einige hass-schürende Politikerinnen und Politiker, denen ich böse bin.

63. Fährst du häufig mit öffentlichen Verkehrsmitteln?
Absolut gezählt: Nein. Relativ ist der Anteil von öffentlichen Verkehrsmitteln an meinen Langstreckenfahrten aber fast 100 Prozent.

64. Was hat dir am meisten Kummer bereitet?
Sein.

65. Bist du das geworden, was du früher werden wolltest?
Nein.
(Wenn “früher” Kindheit bedeutet: Das einzige konkrete Ziel, das ich für die erwachsene Kaltmamsell hatte, war schlank zu sein.)

66. Zu welcher Musik tanzt du am liebsten?
Was mit Groove drin.

67. Welche Eigenschaft schätzt du an einem Geliebten sehr?
Dass er mich meint.

68. Was war deine größte Anschaffung?
Die Häfte einer neuen Küche.

69. Gibst du Menschen eine zweite Chance?
Ja. (Ich stelle gerne mal erst bei der fünften bis zehnten vermasselten fest, wie oft ich ihnen eine zweite gegeben hatte.)

70. Hast du viele Freunde?
Nein.

71. Welches Wort bringt dich auf die Palme?
Digitalisierung.

72. Bist du schon jemals im Fernsehen gewesen?
Ja.

73. Wann warst du zuletzt nervös?
Als ich in einer größeren Arbeitsrunde Widerspruch beschloss, aber noch ein paar andere Wortmeldungen bis dahin abwarten musste.

74. Was macht dein Zuhause zu deinem Zuhause?
Dass darin nur ich und Herr Kaltmamsell wohnen.

75. Wo informierst du dich über das Tagesgeschehen?
Twitter, Tagesschau, Süddeutsche Zeitung (in absteigender Aktualität).

76. Welches Märchen magst du am liebsten?
Mir fällt kein besonders liebes ein.

77. Was für eine Art von Humor hast du?
Die deutsche.

78. Wie oft treibst du Sport?
Im Schnitt dreimal die Woche.

79. Hinterlässt du einen bleibenden Eindruck?
Ja.

80. Auf welche zwei Dinge kannst du nicht verzichten?
Sauerstoff, Nahrung.

Quelle: Flow-Magazin.

Zu den Fragen 41-60.
Zu den Fragen 81-100.

Journal Dienstag, 3. Juli 2018 – Sich gehen lassen

Mittwoch, 4. Juli 2018

Plan für den zweiten Urlaubstag war ein Schwumm im Einzelbad1 mit anschließendem Herumlungern. Damit mich die wettervorhergesagte Sonne dabei nicht verbrannte, musste ich früh aufstehen: Herr Kaltmamsell konnte mir nur bis 6:15 Uhr den Rücken eincremen, dann musste er in die Arbeit.

Soweit schaffte ich auch meine Pläne, doch überm Morgenkaffee ging’s mir immer schlechter: Menstruationskrämpfe, bleierne Müdigkeit, allgemeine Unpässlichkeit. (Zumindest hatten die prämenstruellen Brustschmerzen aufgehört, die zwei Wochen lang jede Schwelle beim Radeln zur Folter hatten werden lassen.) Sonne schien auch keine, ich fror im Bademantel. Alles nicht schlimm, an einem normalen Werktag hätte ich das wegingnoriert und wie geplant weitergemacht. Doch wozu hatte ich frei? Ich ließ mich einfach mal in die Unpässlichkeit fallen und ging um zehn für zwei Stunden zurück ins Bett.

Danach ging’s mir tatsächlich besser: Frühstück, Duschen, Spaziergang durch die Fußgängerzone (dann doch keinen mittelgroßen Koffer gekauft, nach Klagenfurt muss wieder der Familienkoloss mit – außer bei Lebensmitteleinkäufen bin ich super darin zu beschließen, dass ich etwas doch nicht brauche), Balkonlesen, Maniküre, Bügeln.

Auf dem Balkon hatte ich Oskar Maria Grafs Das Leben meiner Mutter ausgelesen. Im letzten Drittel des Buchs hatte ich wieder den Eindruck, die passende Lektüre zur politischen Situation in der Hand zu halten: Schilderungen der ersten Republik- und Demokratieversuche auf bayerischem und deutschem Boden sowie ihr Scheitern, weil sich nicht an Abmachungen und an die Verfassung gehalten wurde, weil mit den Nazis die ultimativen Bullys gewannen. Beim Erstarken der Republikaner in den 80ern, bei den Anfängen der AfD war ich noch zuversichtlich, dass unsere heutige Verfassung, unsere heutige Demokratie das abkann, dass sie stark genug ist. Die Unvorstellbarkeiten um Brexit und Trump haben dieses Urvertrauen angenagt, die Selbstverständlichkeit rechtsradikaler Aggression in Ostdeutschland, die Machenschaften der AfD im deutschen Bundestag, der irrlichternde Seehofer und ein trumpischer Söder erschüttern es tief. (Wenn die Aigner Ilse dachte, den Söder behalte sie aus der zweiten Reihe schon im Griff, hat sie sich ziemlich geschnitten: Sie kommt einfach nicht mehr vor.)

Herr Kaltmamsell kam abends so rechtzeitig heim, dass wir vor dem 20-Uhr-Fußballspiel in den Schnitzelgarten gehen konnten. Na ja fast, hinter uns wurde dann doch schon auf der Großleinwand gespielt (auch neben uns am Tisch, allerdings spielten die vier jungen Männer Karten – und lästerten über Fußball).

Ein wenig Hin und Her wegen der Ferienwohnung in Klagenfurt. Ich komme kurz nach eins am Bahnhof an, Wohnungsübergabe war laut Annonce um 14 Uhr – perfekt. Das verschob sich schon am Sonntag auf 16 Uhr (deshalb die Frage nach Zeitvertreib), nun sollte es 18 Uhr werden. Viereinhalb Stunden mit Gepäck totschlagen ist dann doch etwas strapaziös, ich fasste mir ein Herz (making a fuss!) und handelte auf 16 Uhr runter.

Koffer fertig gepackt, dabei die eher regnerische Wettervorersage weitgehend ignoriert.

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Bayerische Landwirtschaft in den 60ern – hilft einige heutige Probleme zu verstehen:

https://youtu.be/htK12MlFDiM

via Bauerwilli

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Auf den Spuren meiner Abwehr gegen meine Geburtsstadt (Selbstironie wächst einer Stadt vielleicht erst, wenn’s ihr mal richtig schlecht geht):

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https://youtu.be/EM8l5lM31S0

via Papa per Whatsapp

  1. Naturbad Maria Einsiedel []