Journal Donnerstag, 30. August 2018 – Zur Familienhochzeit nach Berlin

Freitag, 31. August 2018 um 8:48

Aufgewacht zu Regenrauschen. Wie hatten eine gemütliche Zugverbindung nach Berlin gebucht, die Zeit für Ausschlafen, gemütlichen Morgenkaffee, gemütliches Kofferpacken ließ. Der kräftige Regen war zwar auch bei den lediglich 15 Fußminuten zum Bahnhof doof, aber trocknet ja wieder.

Bahnfahren ist toll. Wenn man wie wir nicht auf Anschlusszüge angewiesen ist. Auf den ersten paar Kilometern holte sich unser ICE gut 20 Minuten Verspätung (noch im Bahnhof Warten auf zugebrachte Reisende, später Check eines möglichen Triebwerkschadens) – für die Reisenden mit Umstieg in Nürnberg saudoof. Doch bis zu unserer Ankunft in Berlin war alles bis auf fünf Minuten wieder reingefahren, wir kamen in den angekündigten viereinhalb Stunden von München Hauptbahnhof bis Berlin Hauptbahnhof – gemütlich lesend und brotzeitend, mit der ein oder anderen Greifvogel- und Rehsichtung vorm Fenster.

Neil Geimans American Gods ausgelesen, mir gefiel der Roman gut. Schon das Set-up als Hintergrund mochte ich: Die vielen Einwandererkulturen brachten alle ihre Götter mit in die USA, durch Glauben, Gedanken, seit vielen Jahrhunderten. Natürlich wurden sie durch die neue Umgebung verändert. Im Mittelpunkt der Handlung steht ein Mann, der gerade eine Gefängnisstrafe abgesessen hat, Shadow. Er muss erfahren, dass seine Pläne für die Zeit nach der Inhaftierung nichtig sind: Seine Frau ist bei einem Unfall ums Leben gekommen, ebenso der Freund, bei dem er einen Arbeitsplatz hatte. Statt dessen wirbt ihn ein seltsamer alter Mann als Faktotum an – der seine Namen und seine Vergangenheit kennt und sich Wednesday (*zwinker*) nennt. So gerät Shadow in die Welt der amerikanischen Götter. Mir gefiel gut, dass Realitätsebenen unzuverlässig sind, ohne dass das Ganze magic realism wird, ich mochte die Reisen durch verschiedene US-Landschaften und -Kulturen, und ich wurde immer wieder durch Wendungen überrascht – bis zum Schluss.

In Berlin war das Wetter bedeckt, aber trocken. Da wir Bedürfnis nach Luft und Bewegung hatten, gingen wir die knappe Stunde zu Fuß ins Hotel. Ich hatte in einem Haus auf meiner Wunschliste gebucht (die ich bestücke, wenn ich von interessanten Hotels lese, und mir für besondere Urlaube leiste), im ehemaligen Stadtbad Oderberger – die Schwimmhalle ist wieder in Betrieb.

Es stellte sich als wirklich besonderes und wunderschön renoviertes Hotel heraus.

Und zum erstes Mal im Leben beanspruchte ich in einem Hotel Zimmerservice: Ich ließ mir Bügelbrett und Bügeleisen bringen, weil die Festkleidung trotz aller Packungssorgfalt verknittert eingetroffen war. Und wenn ich schon mal dabei war, glättete ich auch die andere, nicht festliche Kleidung.

Über die Whatsapp-Gruppe der Familienenkel (Familienseite des Herrn Kaltmamsell) waren über die beiden Tage davor bereits Fotos von Unternehmungen mit der angereisten amerikanischen Verwandtschaft zu sehen gewesen. Wir schließen uns dem nach der Hochzeit am Freitag an, gestern Abend gingen wir noch zu zweit aus: Ich zeigte Herrn Kaltmamsell das Jolesch. (Auf dem Weg zur U-Bahn wurden wir nochmal angeregnet.)

Wie aßen Menü mit Weinbegleitung. Ich lernte, dass man Wassermelone lieber nicht braten sollte (wird zäh), und entdeckte einen sehr interessanten österreichischen Sauvignon Blanc: Der Weixelbaum Wahre Werte war der animalischste Sauvignon Blanc, den ich je im Glas hatte, die Würzigkeit hatte schon was von gekochtem Rosenkohl.

Zurück im Hotel sahen wir uns noch eine Weile um.

Riesige Außenbeschriftung an der Seite des Gebäudes.

An der Wand einer Sitzecke.

§

Die Ausschreitungen in Chemnitz sind lediglich ein Symptom. Den Hass, die Missgunst, die Aggression gab es schon vorher, sie suchten sich lediglich andere Ziele. Hier zwei Innensichten, die die Wurzeln und die Mechanismen dahinter in DDR-Vergangenheit sehen:

Rüdiger Jope, ein ehemaliger Pastor schreibt:
“Krawalle in Chemnitz: Was ist bloß los im Osten?”

Und Anke Gröner veröffentlicht in ihrem Blog die Zuschrift ihrer Leserin Beatrix:
“Leserinnenpost”.

Wir scheint es selbstverständlich, dass 40 Jahre unterschiedlicher Umgang mit der eigenen Vergangenheit als Drittes Reich eine grundsätzlich verschiedene politische Kultur hervorbringen: Im Westen 40 Jahre Ringen um Aufarbeitung, Streiten um Schuld (persönlich, kollektiv), um Verantwortung, um Vergebung, um Ursachen, um Konsequenzen, um Identifikation mit dieser Zeit vs. Distanzierung – immer und immer wieder um jedes Detail, und das vor den Augen der Weltöffentlichkeit. Im Osten komplette Auslagerung der Geschehnisse und Greuel an Andere-die-nicht-wir-waren und Erklärung als abgeschlossen per Dekret. Das macht was mit Gesellschaft und Einzelnen. Dass all das Streiten und Befassen im Westen nicht gegen eine neue rechtsradikale Welle immunisierte, erwies sich allerdings immer wieder, siehe Republikaner, siehe NPD, siehe AfD heute.

die Kaltmamsell

7 Kommentare zu „Journal Donnerstag, 30. August 2018 – Zur Familienhochzeit nach Berlin“

  1. adelhaid meint:

    Oooooh, der Weixelbaum. Wie schön! Gibt’s bei Walter&Benjamin, bzw gab’s den dort früher immer. Es freut mich sehr zu hören, dass die Qualität und der Ausdruck der Weine noch immer gut ist.

  2. Mechthild meint:

    Ein sehr schönes Hotel ist das! Viel Freude bei der Familienfeier!

    Danke für das Verlinken der Stimmen zur Stimmung in den östlichen Bundesländern. Zur Wendezeit, als Berufsanfängerin, war ich häufig in Thüringen und Sachsen gewesen, im ersten Jahrzehnt auch als Touristin, auch in den anderen Teilen. Ein Gefühl von dumpfer Gewalttätigkeit hatte ich von Anfang an erlebt, auch beherrschten Gruppen junger Männer aus dem rechten Spektrum lange den öffentlichen Raum kleinerer Städte. In Diskussionen fiel mir immer wieder auf, dass es grundlegende Missverständnisse zu Staat und Demokratie gab.

    Ich habe ein fremdes Land erlebt, auch als wäre die Zeit dort stehen geblieben (ähnlich wie bei einer Freundin, deren Familie in den 1930er Jahren nach Argentinien ausgewandert war). Wir treffen uns in einer für alle neuen Welt.

    Der Analyse der beiden Schreiber stimme ich zu, denke aber, das Wegschauen und Ignorieren des Westens sollte ebenso betrachtet werden. Ich denke es gab keine Anstrengungen zur politischen Bildung, Einüben demokratischer Prozesse, Diskussion um Werte…
    Auch der Westen wurde ein anderes Land durch den Fall der Mauer, der neoliberale Markt ersetzte den Staat in vielem… Es gibt viel zu tun.

  3. Vinni rabensturmig meint:

    Ich mochte American Gods auch. Ich hab allerdings irgendwann später mitgekriegt, dass ich völlig überlesen hatte, dass Shadow schwarz ist – und mich ob meiner Schubladigkeit geschämt.

    Zum Thema Osten: ich trau es mich bald nicht mehr zu sagen, aber: nicht alle Sachsen

  4. Neeva meint:

    40 Jahre Aufarbeitung im Westen? Also von 68 bis 89 komme ich da auf eine andere Zahl.
    Nichtsdestotrotz gab es eine Aufarbeitung im Westen, die es im Osten nicht gab.

  5. arboretum meint:

    @ Neeva: Die Aufarbeitung im Westen begann nicht erst 1968. Die Auschwitz-Prozesse begannen 1963, die Wanderausstellung “Ungesühnte Nazi-Justiz – Dokumente zur NS-Justiz” war von 1959 an zu sehen, das “Stuttgarter Schuldbekenntnis” der Evangelischen Kirche wurde am 19. Oktober 1945 veröffentlicht. Auch in Kunst und Literatur war das viel früher Thema, Wolfgang Staudtes Film “Die Mörder sind unter uns” aus dem Jahr 1946 war in West-Deutschland erstmals 1947 zu sehen, Wolfgang Koeppens Roman “Der Tod in Rom” erschien 1954, Hochhuths Theaterstück “Der Stellvertreter” feierte 1963 Premiere. Gerhard Richter malte in der ersten Hälfte der 1960er nicht nur “Tante Marianne” (seine Tante wurde aufgrund ihrer psychischen Erkrankung 1938 zwangssterilisiert und 1945 ermordet), sondern auch “Herr Heyde” (Professor für Psychiatrie, NSDAP-Mitglied seit 1933, SS-Hauptsturmführer seit 1936, er war der erste Obergutachter der “Aktion T4”, 1959 wurde er verhaftet).

  6. Trulla meint:

    @arboretum: und wieder einmal “chapeau!“

  7. arboretum meint:

    Die Zahl derer, die davon nichts wissen wollte – und erst recht nichts von eigener Mitschuld – war allerdings überwältigend.

    Bei jedem der heutzutage hetzt, gemeinsam mit Neonazis demonstriert oder AfD wählt frage ich mich im Stillen: Was habt Ihr, Eure Eltern, Großeltern oder Urgroßeltern damals getan?

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