Archiv für September 2018
Journal Samstag, 29. September 2018 – Westerwaldsteig 2: Herborn nach Breitscheid
Sonntag, 30. September 2018Vom Wecker geweckt, ich hatte ja noch was vor an diesem Urlaubstag. Draußen sah ich Frost auf den Dächern, doch die Sonne schien.
Duschen, Bloggen, Frühstück – ich aß aus Vernunft, genoss aber wirklich den überraschend guten Cappuccino des Hauses.
Abschied vom hübschen, kalten Herborn.
Die Tagesetappe sah nur 15,5 Kilometer vor, bot aber einen Abstecher nach Dillenburg an. Nach nur der Tagesetappe wäre ich selbst mit Bummeln um 15 Uhr am Zielort gewesen – was sollte ich so früh in einem Westerwalddorf? Spazierengehen? Das machte ich doch lieber unterwegs mit dem Abstecher. Gerade bei diesem herrlich sonnigen Wetter.
Seltsam fand ich allerdings die unterschiedlichen Streckenangaben für den Abstecher in Wanderbüchel und auf Schildern: Sie reichten von acht Kilometer Wanderung hin und zurück bis zu 6,2 Kilometer einfach.
Das Ergebnis für die Nachwelt: Ich war zusätzliche drei Stunden nach Dillenburg hin und zurück unterwegs, plus einem Päuschen. Das stellte sich als länger heraus als gedacht; da ich die B&B-Zimmerwirtin am Zielort nicht unnötig warten lassen wollte (ihre Telefonnummer hatte ich ungeschickterweise im Koffer und nicht bei mir), geriet ich ein wenig in Eile.
Doch die Wanderung war sehr schön, gerade die Strecke nach Dillenburg und zurück. Der Abstecher lohnte sich auch wegen eines fliehenden Kaninchens von hinten und zwei aufgeschreckten Rehböcklein an einem Buchenwald am Hang: Ich hatte mich um einen umgestürzten Baum überm Weg ins Holz schlagen müssen und hatte sie damit aufgestöbert.
In Dillenburg steuerte ich das nächstbeste Café für Cappuccino und Klo an. Es war ein italienisches Eiscafé, und der stark akzentuierte Kellner wurde am Nebentisch von einer alten Dame niedergebabbelt (es ging um Wespenstiche und um Antibiotika im Schweinefleisch). Überhaupt machen die Menschen hier bislang einen sehr geselligen und freundlichen Eindruck, grüßen bei Begegnung („Hallo“ scheint hier Standard, ich brauche meine Fremdsprachenkenntnisse mit „Guten Tag“ gar nicht), lächeln.
Es ging sanft bergauf und bergab, meist begleitet von Autogeräuschen der umliegenden Schnellstraßen. Immer wieder schöne Ausblicke auf angeherbstelte Waldhügel. Ich hörte und sah Eichelhäher, auch Elstern, eine Mönchsgrasmücke, Bachstelzen, einen rüttelnden Falken, Termik-kreisende Greifvögel (zu weit weg für eine Identifikation), dazu Krähen, Amseln, Spatzen, Meisen, Wildtauben.
Die Luft war ein wenig zu kalt für ideales Wanderwetter: In der Sonne ging’s ab Mittag ohne Jacke, doch in schattigen Waldstücken brauchte ich die Wanderjacke, schwitzte vor allem bergauf aber, begann gleich darauf bei weniger anstrengenden Abschnitten in der kühlen Luft zu frösteln.
Brotzeitpause machte ich nicht (siehe Eile, außerdem hatte ich keinen Hunger) und kam nach gut sieben Stunden am Zielort Breitscheid an, mit ganz schön schweren Beinen. Die Bewegungsapp hatte 29,6 Kilometer gemessen. Upsie.
Meine späte Ankunft hatte zum Glück keine Probleme bereitet, ich wurde in eines von zwei vermieteten Gästezimmern im Souterrain eines neuen Einfamilienhauses gebracht, gemeinsames Bad, und lernte gleich den anderen Gast kennen, der zu einer Geburtstagsfeier in der Nähe angereist war.
Koffer war angekommen, WLAN vorhanden, doch nun erlebte ich digitales Dorfleben: elend langsames Internet. (Plus Edgeborn. Und Pokéstopleere.) Diesen Post schrieb ich besser mal offline vor.
Aber ich bekam das Zimmer warm.
Abendessen: Eine Packung gesalzene Erdnüsse, ein Apfel und ein Eiweißriegel, ich wollte nirgendwohin mehr gehen. (JAHA, ich habe mich verschätzt.) Hätte ich gewusst, dass der Gästekeller auch eine Gästeküche umfasste, hätte ich wie vor zwei Jahren am Moselsteig eine Dose Linsen eingepackt.
Meine Bandscheiben hatten schon am Morgen gezickt und mir das rechte Bein weggerissen, kamen aber zum Glück erst am Schluss der Etappe nochmal auf die Idee. Um sich abends mit Schmerzen zu rächen. (600 mg Ibu)
Abschied von Herborn:
Gleich hinter Herborn: Die Farbvorgaben für den Tag.
Der oberen Markierung folgte ich.
Diesen Ausguck hat man über Dillenburg gebaut,
damit man darauf runterschaun kann.
Dabei ist Dillenburg, soweit ich das auf einen Blick sehen konnte, wirklich hübsch. Hier das Hessische Landgestüt Dillenburg.
Warm genug für ohne Jacke.
Idyllisches Forsthaus Neuhaus links, etwas weniger idyllische Autobahnbrücke rechts.
§
Dieser Twitter-Faden hat mich nachdenklich gemacht: Woran es liegt, wenn eine Frau nicht vergewaltigt oder missbraucht wird (Tipp: an den Männern).
Meine Geschichte: Ich war Studentin Anfang 20, auf einer Party und betrunken, saß auf dem Schoß eines jungen Manns, der mir schon eine ganze Weile sehr gut gefiel und der ebenfalls betrunken war. Wir küssten uns, er kam mit zu mir, ich bat ihn herein, er stand schon in meinem Flur, als ich das sehr plötzlich sehr gar nicht wollte und sagte: “ICH gehe jetzt ins Bett.” Woraufhin er kurz ein wenig schwankte, mir eine gute Nacht wünschte und ging. Ein wenig hatte ich wegen meines Verhaltens ein schlechtes Gewissen, seines hielt ich für keiner Erwähnung wert.
§
Eine etwas andere Krankengeschichte einer MS-Patientin:
“Losing Touch, Finding Intimacy”.
via @raulde
1000 Fragen 281-300
Samstag, 29. September 2018281. Malst du oft den Teufel an die Wand?
Nein, ich neige nicht zu apokalyptischer Weltsicht.
282. Was schiebst du zu häufig auf?
Weniger zu essen.
283. Sind Tiere genauso wichtig wie Menschen?
Für eine Antwort bräuchte ich mehr Zusammenhang.
284. Bist du dir deiner selbst bewusst?
Zu sehr.
285. Was war ein unvergesslicher Tag für dich?
Mir fallen nur unvergessliche Erlebnisse ein, nicht Tage.
286. Was wagst du dir nicht einzugestehen?
Das weiß ich nicht – sonst gestünde ich es mir ja bereits ein.
287. Bei welcher Filmszene musstest du weinen?
Bei fast allen, in denen es um heftige Emotionen zwischen Töchtern und Vätern ging. Oder zwischen Freundinnen/Freunden.
288. Welche gute Idee hattest du zuletzt?
Kofferanhänger für jede Station meiner Wanderung zu basteln.
289. Welche Geschichten würdest du gern mit der ganzen Welt teilen?
Hahaha – das fragen Sie eine Bloggerin? Ich teile seit 15 Jahren Geschichten mit der ganzen Welt, wenn ich möchte. (Ausnahme: Anderer Leut’ Privatsphäre.)
290. Verzeihst du anderen Menschen leicht?
Wenn sie mich wirklich gekränkt haben, dann nicht.
291. Was hast du früher in einer Beziehung getan, tust es heute aber nicht mehr?
Mich klein machen lassen. Die Lösung war bessere Partnerwahl.
292. Was hoffst du, nie mehr zu erleben?
Nochmal 51 Jahre.
293. Gilt für dich das Motto „Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß“?
Nicht grundsätzlich. Ich interessiere mich sehr nicht für Gerüchte und Getratsche, aber wenn es um Wichtiges bei lieben Menschen geht, sollen sie mich nicht schonen wollen.
294. Wie wichtig ist bei deinen Entscheidungen die Meinung anderer?
Kommt darauf an, ob die Entscheidung diese anderen betrifft.
295. Bist du ein Zukunftsträumer oder ein Vergangenheitsträumer?
Ich erträume mir nie eine alternative Vergangenheit, also bin ich wohl eine Zukunftsträumerin.
296. Nimmst du eine Konfrontation leicht an?
LAUF, FORREST! (Nein.)
297. In welchen Punkten unterscheidest du dich von deiner Mutter?
Ich konnte noch nie nähen, ich war noch nie ohne Anstrengung schlank, ich habe viel Oberweite, ich wollte noch nie Kinder, mir ist finanzielle Autarkie enorm wichtig, ich habe keine Schwester, ich wurde weder wegen unehelicher noch wegen polnischer Herkunft diskriminiert, ich bin nicht gläubig, mir fehlt jedes Interesse an Inneneinrichtung – unter anderem.
298. Wo bist du am liebsten?
Bei mir.
299. Wirst du vom anderen Geschlecht genug beachtet?
Ja.
300. Was ist dein Lieblingsdessert?
Aromatisches Obst.
Quelle: Flow-Magazin.
Journal Freitag, 28. September 2018 – Westerwaldsteig 1: Anreise nach Herborn
Samstag, 29. September 2018Früh aufgestanden, um mich von Herrn Kaltmamsell verabschieden zu können. Gemütlich gebloggt, Kaffee getrunken, fertig gepackt.
Beim Spaziergang zum Bahnhof in warmer Sonne stellte sich der neue Koffer als sensationell leichtgängig heraus. Unterwegs Frühstück und Brotzeit für die Reise besorgt.
Auf der Fahrt musste ich zweimal Umsteigen, in Nürnberg und Frankfurt, lief alles glatt (“… werden alle planmäßigen Anschlüsse erreicht” gehört zu den schönsten Aussagen der deutschen Sprache). Verspätung gab es erst mit dem abschließenden Regionalzug, der an jedem Ort unterwegs hielt, manchmal auch anscheindend ohne Ort weit und breit, lediglich an einem blauen Schild mit einem Wort, das eventuell ein Ortsname war. Diese Verspätung (ca. 10 Minuten bei meinem Ausstieg in Herborn) wurde nicht mal durchgesagt – ich nehme an, die Passagiere kennen das und haben nach dem Aussteigen auch keine Termine.
Ich rollkofferte unter grauem Himmel mit Regendrohung zu meiner Unterkunft, einem gesichtslosen Neubau, der allerdings auch Festräume vermietet. Freundlicher Empfang, kurzes Räumen, ich zog los zu einer Besichtigung. Es war zapfig kalt, ich beschleunigte meinen Schritt.
Herborn also:1 Wirklich niedlich und sehr lebendig mit seinen Fachwerkhäusern und Märkten, einen Fluss (Dill) haben sie auch. Aber auch übersichtlich: Man muss für einen knapp einstündigen Spaziergang schon die eine oder andere Gasse und Straße doppelt gehen. Es waren viele Menschen unterwegs, gesellig und gut gekleidet, das mag aber am gestrigen Markt gelegen haben, der gegen 18 Uhr erst abgebaut wurde. Und der an einem Stand auch eine riesige, weiße zahme Gans umfasste, die Passanten freundlich anquakte.
Schloss. Enthält ein theologisches Seminar.
Ja, so klingt der Dialekt dort, den ich ja von meinem besten Studienfreund kenne: Englisches R.
Zum Abendessen folgte ich einer Empfehlung der Hotelangestellten (die natürlich zuerst auf die beiden Gaststätten des Restaurants hingewiesen hatte) und kehrte bei einem kleinen Italiener ein, der auf einer Tafel Tagesgerichte anbot. Ich aß den Teller mit gebratenem Seeteufel, Spaghetti, Salat (also die umgekehrte Reihenfolge des italienischen Menüs) und war zufrieden.
Zurück im Hotelzimmer Internet gelesen, Tagesschau geguckt, der Empfehlung von Croco folgend in der arte-Mediathek die Doku Vererbte Narben.
§
Feministinnen im Osten und im Westen scheinen sich immer noch nicht angenähert zu haben. Auch hier ist in der hektischen Wiedervereinigung einiges schief gegangen. Simone Schmollack schreibt für die Zeit:
“Sind Ostfrauen emanzipierter?”
- In meinem Alter ist die erste Assoziation immer noch das schreckliche Tanklasterunglück von 1987 – vielleicht weil ich damals in einer Zeitungsredaktion arbeitete. [↩]
Journal SamstagDonnerstag, 27. September 2018 – Reisevorbereitungen
Freitag, 28. September 2018
Wecker gestellt, damit ich Herrn Kaltmamsell noch vor der Arbeit sehen konnte.
Nachdem ich mich am Vorabend so gehetzt gefühlt hatte, strich ich für den Tag alle weiteren Nutzenspläne (ich hatte noch einen Besuch der Residenz auf der Liste, die habe ich nämlich noch nie von Innen gesehen), um Raum für Reisevorbereitungen und blöd Schauen zu haben.
Nach gemütlichem Bloggen nahm ich mir endlich mal wieder Zeit für ein Stündchen Kraftsport. Draußen schien die Sonne, ich konnte die Fenster dazu öffnen.
Meine Reisevorbereitungen verliefen ausgesprochen unsortiert, vielleicht sollte ich wieder Listen machen (was ich vor ein paar Jahren aus Gelassenheit und Routine aufgehört habe). Ich räumte und kruschte in der Wohnung – und vermasselte gleich mal den ersten Handgriff am neuen Koffer: Beim Einstellen des Zahlenschlosses scheiterte ich trotz scheinbaren Einhaltens der Spielanleitung und bekam den Koffer nicht mehr auf. Ein Glück, dass der Kofferhändler so nah lag (der Hertie am Bahnhof wäre allerdings auch nicht viel weiter weg gewesen).
Nochmal Sommerfarben.
Erstes Ziel meiner Einkaufsrunde wurde also der schraddlige Laden, wo man mir kurz angebunden und mit ziemlich eindeutigem “Idiotin!”-Gesichtsausdruck weiterhalf: Es stellte sich heraus, dass ich noch gar nichts eingestellt hatte, das Zahlenschloss ließ sich mit der Werkseinstellung (übrigens 000) öffnen.
Nach heimgebrachtem Koffer Lebensmitteleinkäufe, vor allem Wanderproviant.
Daheim Frühstück (Frittata aus letzter Ernteanteil-Zucchini), dann einige Stunden sehr durcheinander Zeitunglesen, Nägel lackieren, Taube vom Balkon vertreiben, Kofferzettel drucken (für jede Station einen mit meinem Namen und der nächsten Unterkunft, damit er möglichst zielsicher transportiert wird), Gepäck zusammenstellen. Wenn ich mal saß, sprang ich alle paar Minuten auf, weil mir wieder etwas einfiel. Check der Wettervorhersage: Sieht aus, als dürfte sich meine superduper Wanderregenjacke nächste Woche im Einsatz bewähren.
Damit Herr Kaltmamsell sich nicht hetzen musste, erledigte die Abolung des neuen Ernteanteils ich, dann machte ich mich an den traditionellen Urlaubsprogrammpunkt Rechnungsablage (diesmal schön übersichtlich und damit flott).
Langsam begann ich zu entspannen. Als Herr Kaltmamsell am späten Nachmittag heim kam, setzte er sich gleich an den Schreibtisch zum Arbeiten, ich ging raus auf einen Spaziergang. In der Sonne war es herrlich warm, doch nur ein Schritt in den Schatten machte klar, welche Jahreszeit wir haben. Es war überraschend viel Polizei zu sehen, nicht nur an den Einfallskreuzen zum Oktoberfest, kleinbusweise.
Ein wunderbarer Spaziergang, ich kam entspannt und in guter Stimmung zurück.
Zum Nachtmahl (wieder durfte ich) gab es aus dem aktuellen Ernteanteil eine riesige Schüssel Salat mit Tomaten und grünen Paprike, ich mischte frisch gekochte Kartoffelstücke aus dem letztwöchigen Ernteanteil unter (inspiriert von Salade niçoise) – gute Idee.
Journal Mittwoch, 26. September 2018 – Neuer Koffer und wahlhilfegeschult
Donnerstag, 27. September 2018Unruhiges Ausschlafen, ich erwachte mit dumpfem Hirn (und sollte wohl ab sofort wieder das abendliche Glas Wein meiden, das ich in den vergangenen zwei Wochen so problemlos vertragen hatte).
Ausführliches und emotionales Bloggen. Ich habe da eine Idee, wen ich fragen könnte, ob er nach meiner polnischen Großmutter recherchieren möchte – er interessiert sich für Ahnenforschung, steht mir nahe, hat aber keine direkte Verbindung zu ihr.
Erst nach drei Stunden knickte ich ein und drehte erstmals in der Saison die Heizung auf – statt einen zweiten Wollpullover überzuziehen.
Dann war es bereits so spät, dass ich alle Sportpläne strich: Urlaubsprogramm für Nachmittag war nämlich die Wahlhilfeschulung für die Landtagswahl. (Nur deshalb in den Urlaub gerutscht, weil ich versäumt hatte, mich rechtzeitig um einen der Samstagstermine für die Schulung zu bemühen und sehr froh war, dass Urlaub und passender Schulungstermin noch zusammenfielen.)
Statt desse Einkaufsrunde in kühler Sonne: Zum einen kaufte ich nun doch einen mittelgroßen Koffer. Da ich wusste, was ich wollte (die Nummer kleiner aus der Serie, aus der ich einen großen Koffer habe und sehr schätze), ging ich in einen kleinen Nachbarschaftsladen statt in das Kaufhaus, in dem ich vor acht Jahren den großen erwarb. Mein Ideal “Support your local dealer” hatte diesmal einen unangenehmen Preis: In dem schraddligen, vollgestellten Laden wurde ich erst mal ignoriert, als man mich endlich mit einem freundlichen “Kann ich Ihnen helfen?” ansprach, wandte sich der Frager mitten in meinem ersten Antwortsatz zu seiner vorherigen Gesprächspartnerin und sagte etwas zu ihr. Ich bin stolz darauf, dass ich trotz Blitzwut nicht wortlos den Laden verließ,1 sondern nur den Satz mitten im Wort abbrach. Den Koffer kaufte ich dort (im vollgestapelten Schaufenster hatte ich eine Sonderfarbe reduziert gesehen), bekam allerdings außer “10 Jahre Garantie” keine weiteren Informationen und werde den Laden sicher nicht empfehlen.
Fürs Abendessen besorgte ich zum anderen Zutaten in der Lebensmitteabteilung des Kaufhof.
Daheim gab’s Frühstück. Als ich dabei die Route zum Wahlschulungsort recherchierte, geriet ich in Hektik: Ich hatte auf der Einladung die Adresse vor Monaten nur überflogen, “Ruppertstraße” gelesen und mit “Ah, im KVR wie letztes Mal” abgehakt. Jetzt stellte ich fest, dass da tatsächlich “Rupert-Mayer-Straße” stand – und schlagartig wurden aus 20 Minuten Fußweg in der Nachbarschaft 30 Minuten Radeln in fremde Gegenden.
Ich kürzte das Frühstück ab, packte hastig und stieg aufs Rad. Ganz hatte ich mir den langen Weg nicht merken können, hielt also immer wieder an, um auf dem Smartphone die Route zu checken. Registrierte aber sehr wohl, dass ich durch die Tumblingerstraße radelte: Am Vortag hatte ich im NS-Dokumentationszentrum einen Zeitzeugen gehört, der als junger Bursche vom Fenster der Elternwohnung in dieser Straße gesehen hatte, wie nach der Niederschlagung der Räterepublik gegenüber am Schlachthof an der Viehrampe Anhänger der Republik erschossen wurden.
Außer Atem gelangte ich an das Firmengelände, in dem die Schulung stattfand – und musste herausfinden, in welchem der vielen Gebäude dort, die Einladung hatte nur den Namen des Schulungsraums aufgeführt. Zum Glück stieß ich auf weitere Wahlhelfenden, die einen Plan dabei hatten (war wohl an städtische Angestellte ausgeteilt worden).
Hochinteressante und informationsdichte dreieinhalb Stunden Schulung.
(Mit diesem Ausblick, im Original inklusive deutlichem Alpenpanorama.)
Es wurden nochmal Gesetze und Verordnungen durchgenommen, außerdem der genaue Ablauf der Auszählung, an den auch das Programm des Computerkoffers zur Eingabe und Übertragung der Ergebnisse angepasst worden war. Hier sind die Unterlagen der Schulung für den engeren Wahlvorstand im Wahllokal einsehbar. Neuer Inhalt unter anderem: “Umgang mit Wahlbeaobachtern” – zu dieser “Wahlbeobachtung” fordern rechte Kräfte seit einiger Zeit auf (kein Link, leicht zu finden).
Diesmal bestand die Gruppe nur aus sachorientierten Menschen (also keine Geschichtenerzähler und G’schaftlhuberinnen wie bei der letzten Runde), es ging flott durch, so dass wir nur wenig überzogen. Es löste Erstaunen (und ein wenig Unglauben) aus, dass ich weder städtische noch staatliche Angestellte bin, somit das Wahlhelfen wirklich echt ehrlich freiwillig mache und nicht mal einen freien Tag dafür bekomme.
Behindert wurde meine Aufnahmefähigkeit durch Schwindel und eine lange Müdigkeitsattacke, ich werde die Unterlagen vor dem 14. Oktober nochmal gründlich durchgehen.
Heimradeln auf einfacherem Weg ohne Anweisungen – heim finde ich in München immer. (Für eine Innenstadtbewohnerin nicht schwierig.)
Zum Nachtmahl versuchte ich die köstlichen Muscheln von vergangenem Freitagabend in Oldenburg nachzubauen. Ganz so frisch waren sie nicht (vielleicht sollte man in München Muscheln den Profis überlassen), aber die Kombination mit Zwiebel-Speck-Sahne-Petersiliensoße schmeckte.
Jetzt ist aber mal Zeit für Ruhe – am Abend fühlte ich mich richtig urlaubsreif.
§
Stella Hindemith schreibt für die Zeit:
“Rechtspopulismus:Es begann nicht auf der Straße”.
Ihre These:
Im Umgang mit der deutschen Nazivergangenheit markierte Martin Walsers Rede in der Paulskirche eine Wende: Vor 20 Jahren verschob er die Grenzen des Sagbaren nach rechts.
Denn:
Die Rede suggeriert den Bruch eines Tabus, welches von einem mächtigen Gegner geschützt wird. Einzig Walser, der mutige Einzelkämpfer, bringt die Kraft auf, sich dem vermeintlichen Erwartungsdruck der Mächtigen zu widersetzen und die unbequeme Wahrheit auszusprechen. Mit dieser Selbstinszenierung gerät jede/r KritikerIn seiner Aussagen in die Position der UnterdrückerIn ebenjener Wahrheit – eine rhetorische Finesse, der sich RechtspopulistInnen auch heute gern bedienen.
(…)
Der Rechtspopulismus wurde nicht auf der Straße erfunden, auch nicht von den viel zitierten Wutbürgern. Er kommt auch nicht allein aus dem Osten oder von den Wendeverlierern, auch wenn er hier vielleicht besonders viel Resonanz erfährt. Der Rechtspopulismus ist lange und hartnäckig erdacht, nicht zuletzt von Intellektuellen und Politikern aus dem Westen. Seine bürgerlichen ArchitektInnen heißen Walser, Hohmann, Möllemann, Sarrazin oder Steinbach. Und er ist verwurzelt in der Abwehr der Verantwortung für den Nationalsozialismus und dem damit einhergehenden Antisemitismus. Der Erfolg des Rechtspopulismus – auf der Straße wie in den Parlamenten – wird nicht verstehbar werden, wenn seine Entstehung nicht beachtet wird.
Im Gegenteil: Solange die Debatte auf das Jahr 2015 fokussiert ist, geht sie dem rechtspopulistischen Mythos auf den Leim, der behauptet, das “Volk” würde sich wehren.
- Ich fürchte, ich bin generell am stolzesten auf Taten und Worte, die ich mir verkneife – ziemlich armselig. [↩]
Journal Dienstag, 25. September 2018 – Münchens NS-Vergangenheit vor Käseverkostung
Mittwoch, 26. September 2018Urlaubsprogrammpunkt war das NS-Dokumentationszentrum.
Doch davor standen Ausschlafen, Morgenkaffee mit Bloggen, zwei Maschinen weiße Wäsche.
Dann war es schon Vormittag und ich hatte großen Frühstückshunger. Über den Josephsplatz (Bücher abholen) spazierte ich in knackig kalter Sonne in die Türkenstraße, um im verlässlichen Café Puck zu frühstücken – in dem ich an einem Wochentag bislang immer einen Tisch dafür bekommen habe.
Renovierung legte in der Schillerstraße Vergangenheit frei.
Käsefrühstück.
Es war immer noch wundervoll sonnig und immer noch wunderlich kalt, als ich die zehn Minuten hinüber ins NS-Dokumentationszentrum ging. Die letzten Jahre seiner Entstehung hatte ich aufmerksam mitverfolgt, die Diskussionen über Ort, Form, Architektur, Konzept. München hat schwer erträglich lang gebraucht, sich systematisch und kommunikativ mit seiner NS-Vergangenheit zu befassen. Bezeichnenderweise waren es Bürgerinitiativen, die das Thema vorantrieben. Aber jetzt steht es endlich da, eröffnet 2015, in meinen Augen am perfekten Ort, nämlich auf dem Platz der damaligen NSDAP-Zentrale, des “Braunen Hauses”.
Im Aufzug in den 4. Stock: Dort beginnt die Ausstellung.
Die fast drei Stunden, die ich in der Ausstellung verbrachte, drehten mich durch den Fleischwolf – vor allem durch die geschilderten gesellschaftlichen Mechanismen, die mir so gar nicht zeitgebunden und einmalig erschienen. Ich fragte mich immer wieder, wie die Forschenden es wohl schaffen, die erforderliche Distanz zu ihrem Forschungsthema zu bewahren. Dabei strebt die Ausstellung ganz offensichtlich Sachlichkeit und Nüchternheit an – auch bei der Behandlung der wichtigen Ebenen Emotion, Manipulation, Terror.
Was ich bereits wusste: Das hier ist kein Museum, ganz betont nicht. Also keine Exponate, keine Originalstücke, keine Szenerien – das hätte einen Pilgerort für Nazis erzeugt. Als ich mich kürzlich aus gegebenem Anlass erinnerte, wie oft und gründlich die Greuel der Nazi-Gesellschaft 1933-1945 in der Schule besprochen wurden, die Auswirkung von Rassismus und völkischem Denken, musste ich erkennen, dass dieser Unterricht wohl nicht bei allen ein “Nie wieder!” hervorgerufen hatte: Es mehren sich die Anzeichen, dass ein gewisser Anteil Schülerinnen und Schüler mit “Prima Idee” reagiert hatte.
Die zweisprachige Ausstellung auf vier Stockwerken, deutsch und englisch, besteht aus Stellwänden mit chronologischen Informationen, aufgehängt jeweils an einem großen Bild. Jede Stellwand besteht aus einem längeren Text und einer Bilderklärung. Auf weiteren Stellwänden laufen Filme oder Bildreihen, dazwischen stehen Tische mit thematischen Infos und Quellen. Ich holte mir auch den Audioguide, der die Stellwände mit Erklärungen und O-Tönen von Zeitzeugen ergänzt – eingeleitet von dem Hinweis, dass Einzelstimmen immer subjektiv gefärbt sind und Erinnerungen unzuverlässig.
Gleich am Anfang erlebte ich den architektonischen Kunstgriff, über den ich bereits gelesen hatte: Von innen ist das äußerlich so trutzig wirkende Bauwerk völlig durchlässig und öffnet sich aus jeder Perspektive nach außen. Die Dokumentation findet nicht in einem abgeschlossenen Raum statt, sondern als Teil Münchens, das man durch die Fenster sieht.
Es war dann wenig überraschend der Abschnitt über Zwangsarbeit während der NS-Zeit, der mich voll erwischte.
Erinnerungen an die Erzählungen meiner polnischen Großmutter, als junges Mädchen als Zwangsarbeiterin aus Südpolen verschleppt: Wie sie ein gelbes P auf jedes außen getragene Kleidungsstück hatte nähen müssen, wie sie sich heimlich im Wald mit anderen Zwangsarbeitern getroffen hatte, um gemeinsam zu singen, wie sie einem “bese Baure” (bösen Bauern) zugeteilt war, ihre Schwester zum Glück einem “gute Baure”, der sie mit durchfütterte. Meine Mutter wurde ihr wohl nur deshalb nicht gleich nach der Geburt weggenommen, weil eine gutherzige Einheimische sie als ihr Kind ausgab.
Wider besseres Wissen ertappte ich mich dabei, wie ich auf den Fotos der Ausstellung nach meiner Oma in jung Ausschau hielt – wider besseres Wissen, da sie ja nicht in München, sondern im schwäbischen Burlafingen eingesetzt worden war und obwohl die Zwangsarbeiterinnen auf den Fotos kein P, sondern einen Aufnäher “OST” für Ostarbeiter trugen. Was vielleicht in der Architektur fehlt: Ecken, in denen man ungestört weinen kann. Aber dafür gibt es ja viele Fenster zum scheinbaren Rausschauen.
Nein, ich schaffe es immer noch nicht, dem Leben dieser Großmutter systematisch hinterher zu recherchieren. Vor Jahren hatte mich ein Experte auf das NS-Zwangsarbeiter-Dokumentationszentrum in Berlin hingewiesen, doch alles in mir will nur wegrennen. Vielleicht ist die nächste Generation weit genug davon entfernt.
Ich war froh, dass daheim Bügelwäsche auf mich wartete und mir ein wenig Raum zur Verarbeitung bot. Zum Nachdenken, wie einfach es aus zeitlichem Abstand ist, einen roten Faden in historischen Abläufen zu finden, sie in Ursache und Wirkung zu strukturieren. Wie unmöglich das in der Gegenwart ist. Und darüber, dass mein schönes München für mich jetzt erst mal aus vergifteten Orten besteht: In der Innenstadt gibt es ja schier keine Ecke, die nicht belastet ist.
SCHNITT
Abends radelte ich mit Herrn Kaltmamsell zu einer lange gebuchten Veranstaltung in Neuhausen: Er hatte schon vergangenes Jahr eine Käseverkostung beim Tölzer Kasladen geschenkt bekommen, die nahmen wir jetzt wahr. Chefin Susanne Hofmann führte mit ungeheurer Kundigkeit durch Käse und Weine, ich lernte eine Menge. Brauchte allerdings eine Weile und ein Glas Wein, bis ich über das Gefühl der Frivolität nach den Erlebnissen des Nachmittags hinweg kam.
Wir hatten reizende Tischnachbarn, ich probierte 18 Käsesorten, habe neue Lieblinge, bin im Zusammenspiel mit Stinkekäse mit buttrig-holzigem Chardonnay (Pfalz, Borell-Diehl) versöhnt, habe Zweigelt als wunderbaren Begleiter von Hartkäse kennengelernt.
Nächtliches Heimradeln unter riesigem Mond in noch knackigerer Kälte.
Für einen Tag war das insgesamt ein wenig viel.