Im Spätsommer erhielt ich ein Schreiben, dass ich für die Amtsperiode 2019 bis 2023 als Hilfsschöffin beim Amtsgericht München gewählt worden war. Über das Schöffenamt hatte ich mich ja ausführlich informiert und freute mich sehr – erst nach einiger Zeit begann ich mich zu fragen, wodurch sich das Amt der Hilfsschöffin wohl von der einer Schöffin unterschied. Die Details fand ich gestern heraus, nämlich in der Einführungsveranstaltung.
Bis dahin hatte ich genug Zeit gehabt, die bürokratischen Modalitäten mit meinem Arbeitgeber zu klären. Die Gesetzeslage nach § 45 Abs. 1a DRiG (Deutsches Richtergesetz): “Ehrenamtliche Richter sind für die Zeit ihrer Amtstätigkeit von ihrem Arbeitgeber von der Arbeitsleistung freizustellen.” Das heißt: Statt ins Büro gehe ich ans Gericht, das wird als Arbeitstag gezählt.
Ich war gestern schon ganz schön aufgeregt; das Gebäude des Strafjustizzentrums in der Nymphenburger Straße (Stil Hochbetonik der 70er, vertraut durch die Schulneubauten meiner Kindheit) passiere ich zwar seit 30 Jahren regelmäßig (schräg gegenüber liegt mein Lieblingskino seit Studientagen, das Cinema), aber drin war ich noch nie gewesen. Genau genommen wusste ich nicht mal, wo der Eingang liegt.
Den fand ich nach meinem Fußmarsch durch kalten Novembernebel problemlos, weil mit rot-weißen Sicherheitsabsperrungen gut sichtbar. Richterinnen und Richter (Schöffen und Schöffinnen sind halt genau das, huiuiui) müssen sich an der Sicherheitsschleuse auch lediglich ausweisen und nicht durchsuchen lassen. Auch den Schulungssaal fand ich zusammen mit anderen Neuschöffinnen, hoch oben im 7. Stock. Aussicht:
Sehr gut und sorgfältig strukturiert wurde unsere etwa 50-köpfige, sehr vielfältige Gruppe (insgesamt gibt es wohl 1.000 Schöffinnen und Schöffen an den entsprechenden Gerichten in München) drei Stunden lang von einem Amtsrichter und einer Angestellten darüber informiert, was auf uns zukommt – bis in die Details, wer in einem Gerichtssaal wo sitzt. Am neuesten war mir die Erkenntnis, dass nicht nur die Unabhängigkeit von Richterinnen und Richtern funamentaler Teil unserer Verfassung ist, sondern auch die Unabhängigkeit der Richterauswahl: Eine Richterin darf sich nicht aussuchen, welche Fälle sie richtet, auch die Schöffinnen und Schöffen werden neutral zugewiesen – nun verstand ich, warum die Auflagen für die Ablehnung auch nur von Verhandlungsterminen derart streng sind.
Und ich erfuhr, warum ich bislang keine Sitzungstermine zugeschickt bekommen hatte: Hilfsschöffinnen werden nach einer vorher ausgelosten Reihenfolge kontaktiert (“in der Regel kurzfristig telefonisch”), wenn eine Hauptschöffin oder ein Hauptschöffe ausfällt. Ich werde meinen Arbeitgeber also darauf vorbereiten müssen, dass ich sehr spontan wegmüssen könnte.
Weitere erste Male: Mittagssnack in der Cafeteria des Justizzentrums mit Ausblick auf den Innenhof, in dem sich nach dem Zschäpe-Urteil die Pressevertreterinnen geballt hatten.
Mittags brachte uns ein Bus nach Landsberg am Lech: Wir Neuschöffinen besichtigten die dortige Justizvollzugsanstalt. Ein sehr fotografables Gebäude mit vielen interessanten visuellen Details – doch aus nachvollziehbaren Gründen durften wir keine Fotoapparate, Handys (oder Autoschlüssel) hinein nehmen. Ausführliche Informationen der Gefängnisleitung über die Geschichte des Gebäudes und – was mir am meisten nachging – des Strafvollzugsrechts: Erst 1977 regelte die Bundesrepublik gesetzlich den Strafvollzug (angeschubst durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das diesen massiven Einschnitt in die Bürgerrechte bitteschön geordnet haben wollte). Mit der Föderalismusreform 2006 ging der Strafvollzug in die Zuständigkeit der Länder über, die enstprechenden Strafvollzugsgesetze unterscheiden sich.
Die vielen Daten über den Gefängnisalltag (das fiel mir sprachlich auf: es war ganz unbürokratisch von “Gefängnis” und “Gefangenen” die Rede) und der Rundgang durch die Gebäude schlugen die Tür in eine weitere Welt auf, über die ich mir noch nie so recht Gedanken gemacht hatte.
Ein Detail seines Vortrags baten uns der stellvertretende Gefängnisleiter und die Gefängnisleiterin ausdrücklich nach draußen zu tragen, und die Bitte erfülle ich gerne: Die JVA Landsberg sucht derzeit eine zweite Ärztin oder einen zweiten Arzt, der bisherige ist in Ruhestand gegangen und sie benötigen eine Nachfolge. Festanstellung mit Bezahlung nach Tarif Marburger Bund.
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Am Abend traf sich unsere Leserunde, um über J.G. Farrell, Troubles, zu sprechen. Der Roman hatte mir gut gefallen, auch die anderen waren angetan gewesen: Er spielt im Irland kurz nach dem Ersten Weltkrieg, vordergründig geht es um ein riesiges, altes und von Engländern geführtes Hotel in der Nähe von Dublin, das Majestic, das langsam aber energisch verfällt, im Mittelpunkt steht vordergründig der britische Major Brendan Archer, nach dem Krieg und Aufenthalt im Sanatorium frisch aus dem Militär entlassen. Hintergrund aber sind die vielen kleinen und mittelgroßen gewalttätigen Auseinandersetzungen der britischen Kolonialmacht mit den einheimischen Iren, die sich erst aus historischer Entfernung als Unabhängigkeitskrieg herausstellen.
Ich war sehr angetan von der dichten und detailreichen Handlung, in der sich das steigende Chaos im und am Hotel mit dem Verfall des britischen Empire verwebt, von den grotesken Einzelheiten, mit denen sich die Hotelbewohner abfinden und von der Erzählstimme, die indirekt die überhebliche Haltung der Briten und nur wenig Hellsicht spiegelt – unter anderem haben zwar alle britischen Bewohnerinnen und Besucher des Hotels Namen, aber aus dem zahlreichen einheimischen Personal des Komplexes nur zwei Personen.
Den Roman (der erste aus Farells “Empire Trilogy”) ist ein großartiges Stück Commonwealth Literature aus unerwarteter Richtung, Leseempfehlung.
Zu Essen gabe es köstliche gebratene Ente, an der ich mich komplett überfraß, dazu bestens passenden Spätburgunder aus Baden.