Archiv für November 2018

Journal Donnerstag, 29. November 2018 – Schlecht terminierte Migränepause

Freitag, 30. November 2018

Die Uhr zeigte 4:30 an, als mich der Schmerz eines Beils quer durch die Stirn weckte. Nach einer halben Stunde meldete sich auch noch Übelkeit, jetzt war klar: Migräne. Ich nahm mein Triptan, wartete auf Nachlassen des Schmerzes, schickte kurz nach sechs eine Krankmeldung in die Arbeit – die mir gestern ausgesprochen schlecht in den Kram passte.

Die Migräne hätte schlimmer sein können: Gegen 11 Uhr konnte ich aufstehen, um zwei bekam ich sogar Appetit, nachmittags war ich in der Lage, von der Ferne Arbeitsmails zu bearbeiten, Termine zu verschieben und mich bei den Kolleginnen und Kollegen zu entschuldigen, die ich durch meine Abwesenheit in Schwierigkeiten gebracht hatte.

Abends war ich wieder fit genug für eine kleine Einkaufsrunde – ein Glück, dass meine Migräneattacken so kurz sind.

Die sechs Amaryllistengel, die ich am Samstag gekauft hatte, sind in unvermutet viele Blüten explodiert.

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Annette Ramelsberger hat für die Süddeutsche Zeitung den Prozess gegen Beate Zschäpe, vulgo NSU-Prozess, begleitet. Das von ihr und ihren Kollegen erfasste Protokoll des Prozesses erschien bereits ausschnittweise im SZ-Magazin, Teile wurden am Residenztheater vorgelesen, jetzt werden sie gesamt als Buch veröffentlicht. Der Spiegel hat Rammelsberger interviewt:
“Rechter Terror
‘Zehn Morde. Sind ihnen völlig egal'”.

Am Tag des Urteils hat sich gezeigt, dass die Angeklagten nicht allein waren. Auf der Besuchertribüne erschienen verurteilte Rechtsterroristen, alle in Schwarz gekleidet, wie auch die Angeklagten, das war abgesprochen. Manchen Kollegen wurde ihre Privatadresse zugeflüstert – eine glatte Bedrohung.

via @niggi

Auch das habe ich am Mittwoch in der Schöffeneinführung gelernt: Landgerichtsprozesse werden nicht wörtlich protokolliert – Amtsgerichtsprozesse übrigens schon.

Journal Mittwoch, 28. November 2018 – Erste Schritte in die Schöfferei, J.G. Farrell, Troubles

Donnerstag, 29. November 2018

Im Spätsommer erhielt ich ein Schreiben, dass ich für die Amtsperiode 2019 bis 2023 als Hilfsschöffin beim Amtsgericht München gewählt worden war. Über das Schöffenamt hatte ich mich ja ausführlich informiert und freute mich sehr – erst nach einiger Zeit begann ich mich zu fragen, wodurch sich das Amt der Hilfsschöffin wohl von der einer Schöffin unterschied. Die Details fand ich gestern heraus, nämlich in der Einführungsveranstaltung.

Bis dahin hatte ich genug Zeit gehabt, die bürokratischen Modalitäten mit meinem Arbeitgeber zu klären. Die Gesetzeslage nach § 45 Abs. 1a DRiG (Deutsches Richtergesetz): “Ehrenamtliche Richter sind für die Zeit ihrer Amtstätigkeit von ihrem Arbeitgeber von der Arbeitsleistung freizustellen.” Das heißt: Statt ins Büro gehe ich ans Gericht, das wird als Arbeitstag gezählt.

Ich war gestern schon ganz schön aufgeregt; das Gebäude des Strafjustizzentrums in der Nymphenburger Straße (Stil Hochbetonik der 70er, vertraut durch die Schulneubauten meiner Kindheit) passiere ich zwar seit 30 Jahren regelmäßig (schräg gegenüber liegt mein Lieblingskino seit Studientagen, das Cinema), aber drin war ich noch nie gewesen.1 Genau genommen wusste ich nicht mal, wo der Eingang liegt.

Den fand ich nach meinem Fußmarsch durch kalten Novembernebel problemlos, weil mit rot-weißen Sicherheitsabsperrungen gut sichtbar. Richterinnen und Richter (Schöffen und Schöffinnen sind halt genau das, huiuiui) müssen sich an der Sicherheitsschleuse auch lediglich ausweisen und nicht durchsuchen lassen. Auch den Schulungssaal fand ich zusammen mit anderen Neuschöffinnen, hoch oben im 7. Stock. Aussicht:

Sehr gut und sorgfältig strukturiert wurde unsere etwa 50-köpfige, sehr vielfältige Gruppe (insgesamt gibt es wohl 1.000 Schöffinnen und Schöffen an den entsprechenden Gerichten in München) drei Stunden lang von einem Amtsrichter und einer Angestellten darüber informiert, was auf uns zukommt – bis in die Details, wer in einem Gerichtssaal wo sitzt. Am neuesten war mir die Erkenntnis, dass nicht nur die Unabhängigkeit von Richterinnen und Richtern funamentaler Teil unserer Verfassung ist, sondern auch die Unabhängigkeit der Richterauswahl: Eine Richterin darf sich nicht aussuchen, welche Fälle sie richtet, auch die Schöffinnen und Schöffen werden neutral zugewiesen – nun verstand ich, warum die Auflagen für die Ablehnung auch nur von Verhandlungsterminen derart streng sind.

Und ich erfuhr, warum ich bislang keine Sitzungstermine zugeschickt bekommen hatte: Hilfsschöffinnen werden nach einer vorher ausgelosten Reihenfolge kontaktiert (“in der Regel kurzfristig telefonisch”), wenn eine Hauptschöffin oder ein Hauptschöffe ausfällt. Ich werde meinen Arbeitgeber also darauf vorbereiten müssen, dass ich sehr spontan wegmüssen könnte.

Weitere erste Male: Mittagssnack in der Cafeteria des Justizzentrums mit Ausblick auf den Innenhof, in dem sich nach dem Zschäpe-Urteil die Pressevertreterinnen geballt hatten.

Mittags brachte uns ein Bus nach Landsberg am Lech: Wir Neuschöffinen besichtigten die dortige Justizvollzugsanstalt. Ein sehr fotografables Gebäude mit vielen interessanten visuellen Details – doch aus nachvollziehbaren Gründen durften wir keine Fotoapparate, Handys (oder Autoschlüssel) hinein nehmen. Ausführliche Informationen der Gefängnisleitung über die Geschichte des Gebäudes und – was mir am meisten nachging – des Strafvollzugsrechts: Erst 1977 regelte die Bundesrepublik gesetzlich den Strafvollzug (angeschubst durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das diesen massiven Einschnitt in die Bürgerrechte bitteschön geordnet haben wollte). Mit der Föderalismusreform 2006 ging der Strafvollzug in die Zuständigkeit der Länder über, die enstprechenden Strafvollzugsgesetze unterscheiden sich.

Die vielen Daten über den Gefängnisalltag (das fiel mir sprachlich auf: es war ganz unbürokratisch von “Gefängnis” und “Gefangenen” die Rede) und der Rundgang durch die Gebäude schlugen die Tür in eine weitere Welt auf, über die ich mir noch nie so recht Gedanken gemacht hatte.

Ein Detail seines Vortrags baten uns der stellvertretende Gefängnisleiter und die Gefängnisleiterin ausdrücklich nach draußen zu tragen, und die Bitte erfülle ich gerne: Die JVA Landsberg sucht derzeit eine zweite Ärztin oder einen zweiten Arzt, der bisherige ist in Ruhestand gegangen und sie benötigen eine Nachfolge. Festanstellung mit Bezahlung nach Tarif Marburger Bund.

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Am Abend traf sich unsere Leserunde, um über J.G. Farrell, Troubles, zu sprechen. Der Roman hatte mir gut gefallen, auch die anderen waren angetan gewesen: Er spielt im Irland kurz nach dem Ersten Weltkrieg, vordergründig geht es um ein riesiges, altes und von Engländern geführtes Hotel in der Nähe von Dublin, das Majestic, das langsam aber energisch verfällt, im Mittelpunkt steht vordergründig der britische Major Brendan Archer, nach dem Krieg und Aufenthalt im Sanatorium frisch aus dem Militär entlassen. Hintergrund aber sind die vielen kleinen und mittelgroßen gewalttätigen Auseinandersetzungen der britischen Kolonialmacht mit den einheimischen Iren, die sich erst aus historischer Entfernung als Unabhängigkeitskrieg herausstellen.

Ich war sehr angetan von der dichten und detailreichen Handlung, in der sich das steigende Chaos im und am Hotel mit dem Verfall des britischen Empire verwebt, von den grotesken Einzelheiten, mit denen sich die Hotelbewohner abfinden und von der Erzählstimme, die indirekt die überhebliche Haltung der Briten und nur wenig Hellsicht spiegelt – unter anderem haben zwar alle britischen Bewohnerinnen und Besucher des Hotels Namen, aber aus dem zahlreichen einheimischen Personal des Komplexes nur zwei Personen.

Den Roman (der erste aus Farells “Empire Trilogy”) ist ein großartiges Stück Commonwealth Literature aus unerwarteter Richtung, Leseempfehlung.

Zu Essen gabe es köstliche gebratene Ente, an der ich mich komplett überfraß, dazu bestens passenden Spätburgunder aus Baden.

  1. Meine Amtsperiode wird auch die letzte Gelegenheit dafür sein: 2023 soll das Justizzentrum in einen Neubau am Leonrodplatz ziehen, für den im Mai dieses Jahres der Grundstein gelegt wurde. []

Journal Dienstag, 27. November 2018 – Schneebavaria und geschwungene Nudeln

Mittwoch, 28. November 2018

Verschlafen: Ich hatte vergessen, den Wecker zu stellen – um viertel nach sechs wunderte sich Herr Kaltmamsell genug darüber, dass sein Morgenkaffee ausblieb, um mal nach mir zu sehen, und weckte mich.

Es schneite nass.

Zum ersten Mal in der Saison: Die Bavaria im Schnee. Freundlicherweise hat man mir fürs Foto einen dekorativen Vordergrund augeschüttet und die Baggerschaufel draufgelegt. (Das ist nämlich das Einzige, was ich je übers Fotografieren gelernt habe, von einer Freundin, die zu Studienzeiten Fotografieren systematisch in Kursen und aus Büchern lernte: Immer einen Vordergrund suchen. Heute weiß ich, was ich wirklich können müsste, um die Fotos zu schießen, die ich gerne aufnehmen würde: Mich unsichtbar zu machen.)

Auf meinem Heimweg hatte es aufgehört zu schneien. Ich machte einen Umweg über die Blumenstraße, um im dortigen Kräuter- und Gewürzladen gemahlenen Kardamom zu bekommen – Herr Kaltmamsell, der sich beim Einkaufen viel Mühe gibt, hatte keinen gefunden.

Aushäusiges Abendessen. Auf meiner Einkaufsrunde am Samstag war mir an der Sonnenstraße kurz vor dem Sendlinger Tor aus einer Ladentür ein ganz kleines Kind entgegengestolpert, schnell eingefangen von einer alten Dame. Ich hob den Blick und sah im Schaufenster einen Mann mit Kochkappe Nudeln wirbeln, chinesische Nudeln. Eine spätere Recherche ergab: Wo ich seit vielen Jahren einen Running Sushi kannte, ist jetzt Max’s Beef Noodles.

Wir wurde von einem freundlichen und sehr eleganten älteren Herrn bedient, die Suppe war für das Schmuddelwetter genau das Richtige (ich beim Essen). Als Beilage hatte ich (offensichtlich geprügelten) Gurkensalat bestellt, sehr gut. Und wir guckten eine Weile Nudelschwingshow.

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“The trouble with talking”.
Im Merkur von Kathrin Passig ein kleiner Steinbruch an Argumenten, nicht nur zur Wertigkeit von mündlicher Kommunikation vs. schriftlicher, sondern auch zur (nicht haltbaren) Unterscheidung zwischen zwischenmenschlichem Austausch offline und online. Unter anderem mit Beobachtungen wie:

Naturgemäß kommt die Verteidigung der Mündlichkeit vor allem aus Gruppen, die durch physische Anwesenheit Vorteile genießen, also von Personen mit unproblematischen Körpern, die redegeübt und sozialkompetent sind und es sich leisten können, zur richtigen Zeit lange genug am richtigen Ort zu sein.

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Es gibt Themen, die ich mich inzwischen schäme anzusprechen: Zum Beispiel Antisemitismus. Vor lauter Scham und Fassungslosigkeit ertappe ich mich dabei, wie ich beim Anblick von Artikeln über Antisemitismus am liebsten wegsähe; Scham weil ich offensichtlich nicht genug getan habe, ihn zu verhindern. Das wäre natürlich das Allerschlimmste, denn als Nächstes sähe ich dann bei antisemitischen Äußerungen und Handlungen weg – wie es die Mehrheit im Deutschland der 30er tat. Also: Tief Luft geholt und besonders genau hingesehen, nämlich auf die Umfrage von CNN, treffend betitelt mit:
“A shadow over Europe.
CNN poll reveals depth of anti-Semitism in Europe”.

Ausschnitte:

A third of Europeans in the poll said they knew just a little or nothing at all about the Holocaust, the mass murder of some six million Jews in lands controlled by Adolf Hitler’s Nazi regime in the 1930s and 1940s.

More than a quarter of Europeans polled believe Jews have too much influence in business and finance. Nearly one in four said Jews have too much influence in conflict and wars across the world.
One in five said they have too much influence in the media and the same number believe they have too much influence in politics.

(…)

Nearly one in five said anti-Semitism in their countries was a response to the everyday behavior of Jewish people.

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Ein Lied über einen weißen Schmetterling, die Königin aller Schmetterlinge.

https://youtu.be/UoBGR8ZTi2o

(Mehr über Lole y Manuel.)

Journal Montag, 26. November 2018 – Darmsamba und Schneeregen

Dienstag, 27. November 2018

Eine weitere lustige Nacht, in der meine Därme Samba tanzten (ich musst an den schönen englischen Ausdruck “loose bowels” denken: Das heißt zwar eigentlich Durchfall, doch so fühlten sich meine Innereien an, als schwämmen sie durcheinander).

Auch am Vormittag in der Arbeit war mein Bauch komisch, ich blieb mal lieber bei ungesüßtem Schwarztee und ließ den Magen sonst leer. Mittags ging dann Birne mit Käse, nachmittags ein Granatapfel, ein paar Nüsse.

Für den Arbeitsweg im leichten Regen hatte ich nach Langem mal wieder meine Capa umgelegt (Nachtrag: Hier ein schönes Video, wie man eine Capa trägt und umlegt. Ich bin sicher, dass man nicht unbedingt dabei die Lippen lasziv geöffnet lassen muss.). Sie hielt auch den Schneeregen auf dem Heimweg gut ab, wurde nur langsam immer schwerer. Nach Feierabend erledigte ich noch Besorgungen in der Innenstadt, kam ziemlich nass heim.

Zum Nachtmahl verarbeitete Herr Kaltmamsell die nun wirklich allerletzten Reste vom Samstag: Pak Choi, Frühlingszwiebeln, Sojagehacktes. Mein Bauch hatte sich beruhigt.

Ich ging früh ins Bett, um weiter in Elizabeth Strout, My name is Lucy Barton lesen zu können: Vignetten, aus denen sich eine Geschichte zusammensetzt. Als Erzählung wunderbar gebaut, in Kleinen voller Klarsicht in Nebensätzen – sehr gut.

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Ich habe eine Gefahr erkannt: Dass ich zu wichtigen Themen schweige, weil ich schon so oft etwas dazu geschrieben habe. Fast wäre es mir so mit der vergangene Woche veröffentlichen Statistik zu häuslicher Gewalt in Deutschland gegangen. Weil: alles nicht neu. Doch leider kann man es, wie Alicia Lindhoff in der Frankfurter Rundschau, nicht oft genug schreiben:

Das kollektive Bild von Gewalt gegen Frauen ist nach wie vor verzerrt. Die aktuellen Zahlen aus dem Familienministerium sind keine Überraschung. Kriminalstatistiken zeigen seit Jahrzehnten, dass der gefährlichste Ort für Frauen ihr vertrautes Umfeld ist und dass die mit Abstand größte Gefahr von (Ex-)Partnern, Vätern, Verwandten, Nachbarn, Kollegen oder „Freunden“ ausgeht.

2017 wurden in Deutschland 351 Frauen getötet. In mindestens 275 Fällen war der Täter ein Bekannter. Trotzdem ist der plötzliche Überfall auf der Straße durch fremde – insbesondere „fremdländische“ – Täter nach wie vor das alles bestimmende Schreckensbild.

Diese Verkürzung der Debatte ist nicht nur oft rassistisch. Für Frauen ist sie auch gefährlich. Denn sie verleitet dazu, der Gewalt mit den falschen Strategien zu begegnen. Durch die Sozialisation als potenzielles Opfer lernen Frauen, ihren Aktionsradius immer weiter zu verkleinern: nicht nachts auf die Straße, öffentliche Verkehrsmittel meiden, keine Reisen alleine. Und sie lernen, Schutz zu suchen bei Männern aus dem eigenen Umfeld. Wenn die gewalttätig werden, haben Frauen ihnen oft nichts entgegenzusetzen – weil sie die Gewalt woanders erwartet haben.

Der ganze Artikel:
“Zweierlei Maßstäbe bei Gewalt gegen Frauen”.

via @miriam_vollmer

Journal Sonntag, 25. November 2018 – Isarlauf im Nebel

Montag, 26. November 2018

Ausgeschlafen. Derzeit brauche ich anscheinend neun Stunden Nachtschlaf.

Gemütliches Bloggen und Bettwäschewaschen. Große Lust auf eine Laufrunde an der Isar, trotz nassen Nebels. Ich nahm eine U-Bahn nach Thalkirchen, freute mich, dass ich Geld für den Akkordeonspieler am Ausgang dabei hatte.

Zum ersten Mal in der Saison ging ich durch eine Wolke Glühweinduft, nämlich am Kiosk 1917 an der Thalkirchner Brücke.

Der Lauf war sehr schön, nach Langem kam ich nach einer Stunde gemütlichem Traben in die körperliche und geistige Leichtigkeit, wegen der ich laufe. Dazu dieses seltsame Licht, das sofort Ideen für einen Spukfilm produzierte.

Diese Ansicht kennen sie mit Fluss.

Auf dem Heimweg besorgte ich Semmeln fürs Frühstück.

Den Nachmittag verbrachte ich mit Internetlesen, einem Telefonat mit meiner Mutter (u.a. zur Abklärung des Stollenversands nach Italien), Zeitunglesen, Teetrinken und Plätzchenessen (Frau Schwieger hatte bereits gebacken und ein Kistchen voll mitgebracht). Es dauerte eine Zeit, bis ich genug heißen Tee getrunken und genügend dicke Socken angezogen hatte, dass mir warm genug war.

Zum Abendessen gab es weitere Reste vom Vortag, nämlich die unverarbeiteten Auberginen und Sojabröckerl aus der Pfanne.

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Die Stadtwerke München hatten mich zu einer infas-Umfrage eingeladen, und ich habe fürs Techniktagebuch die Technikseite daran aufgeschrieben.

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Nachdem ich mir zwei Exemplare gesichert habe (mein erster Kelm!), gebe ich die Möglichkeit gerne weiter: Katia Kelm verkauft ihre Radierungen, deren Herstellung sie kürzlich in ihrem Blog beschrieben hat.

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Seit ich die ersten Fotos von Vivian Maier gesehen habe, war ich begeistert. Ihre Bilder hätten in die Magnum-Werke gepasst – jede Aufnahme eine Kurzgeschichte. Das Online-Magazin Lensculture zeigt 120 von Vivian Maiers Bildern und ein Interview mit der Kuratorin der großen Ausstellung von 2014 “Vivian Maier: A Photographic Revelation”, Anne Morin.
“Vivian Maier: Street Photographer, Revelation”.

Eine der Attraktionen ist sicher die Geschichte drumrum: Entdeckung des Oevres (zwischen 120.000 und 150.000 Fotos!) einer nie veröffentlichten Künstlerin, die ihren Lebensunterhalt als Kindermädchen verdiente. Doch auch ohne die unglaubliche Biografie und Entdeckungsgeschichte (ich habe den Film immer noch nicht gesehen…) sind die Bilder einfach der Hammer – Fachausdruck.

Mag jemand die Geschichte (Drehbuch?) schreiben, wie Vivian Maier von einer Magnum-Fotografin entdeckt wird und zwar weiterhin ein Doppelleben führt, aber eines, in dem ihre Fotos schon zu ihren Lebzeiten veröffentlicht werden?

Journal Samstag, 24. November 2018 – Chinesisches Schwiegerfamilienessen

Sonntag, 25. November 2018

Ausgeschlafen, zu Nieselregen und mit bösem Kopfweh aufgewacht. Ibu half nur temporär.

Für gestern Mittag hatte Herr Kaltmamsell seine Eltern und Tante/Onkel zum Essen eingeladen, Chinesisches mit Soja, ich übernahm die Besorgung von begleitendem Wein und ein paar Kleinigkeiten.

Den Wein (ich hatte mir zum Chinesischen einen Riesling vorgestellt) bekam ich nicht beim kleinen Weinhändler an belebter Innenstadtstraße, den ich angesteuert hatte – weil der erst um 11 Uhr aufmachte. Also weißt’, München: Ja, ich bin als Frühhaufsteherin eher die Minderheit. Und ja, du bildest dir etwas auf dein bissl Italienischsein ein, das zu Arbeitszeiten eher ab 9 Uhr denn ab 8 Uhr führt. Und kleine Läden dürfen in der Innenstadt meinetwegen am Samstag etwas später öffnen, deshalb hatte ich ja 10 Uhr einkalkuliert – ABER ELF? ERNSTHAFT?

Auf dem Viktualienmarkt ließ ich mir eine reife Mango aussuchen, den Wein suchte ich im Biosupermarkt eigenmächtig aus: rheinhessischen Riesling Spätlese vom vertrauten Weingut Keth, der sollte auch Szechuanpfeffer etwas entgegenzusetzen haben.

Ich kaufe zwar nur ein- bis zweimal im Jahr bei ihr Blumen, doch die Blumenstandlerin am Sendlinger Tor gab vor, mich wiederzuerkennen. Beim Einwickeln der Amaryllis (zack, Ohrwurm) meinte sie nur kurz: “Wasser wissn’S ja.” Ich riet: “Wenig, richtig?” und traf. Nur so viel – die Standlerin hielt Daumen und Zeigefinger etwa sieben Zentimeter weit auseinander – in die Vase, wenn’s mit der Zeit weniger wird, macht’s auch nichts.

Während meiner Einkaufsrunde war der Niesel zu größeren Tropfen angewachsen, die ein paar Stunden blieben – immer noch viel zu wenig.

Daheim wirblete Herr Kaltmamsell in der Küche, ich baute und deckte den Tisch, räumte die Wohnung auf (Einsatz der uralten Kulturtechniken Bügelwäscheverstecken und Krams-in-Schubladen-stecken).

Tischdeko kann ich nicht.
Herr Kaltmamsell hatte sich als Motto des Menüs Variationen von Soja gesetzt. Es gab also eine selbst erfundene Udon-Suppe, die neben viel Gemüse und etwas Rind auch gepressten, gebratenen Seidentofu (köstlich!) enthielt. Zum Hauptgang servierte er Auberginen mit Sojahack (auf der Basis von fish fragant aubergine) sowie Soja in würziger Soße (“pock-marked old woman’s tofu, vegetarian version” aus Fuchsia Dunlop, Every Grain of Rice).

Als Nachtisch hatte Herr Kaltmamsell den bewährten Kokospudding mit Mango gekocht, allerdings mit braunem Zucker (keine gute Idee, macht eine unangenehme Farbe) und deutlich weniger Tapioka – selbst dann wurde der Pudding fester als gewünscht.

Dazu angenehmste Geselligkeit. Den weiteren Nachmittag und Abend verbrachten wir mit Aufräumen, Abspülen, Internetlesen (ich), Lehrerarbeit (er) und abschließendem Resteessen. Erst am späten Nachmittag war ich die blöden Kopfschmerzen los.

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Erschütternde Nachrichten aus Spanien:
Der Gemeinderat des spanischen Orts Betanzos, der Tortilla-Hauptstadt, hat für den alljährlichen Tortilla-Wettbewerb die Verwendung von Zwiebeln untersagt.
Tortilla ohne Zwiebeln? Untergang der Zivilisation!

Werde ich also in künftigen Onlineprofilen “cebollista” hinterlegen. (Gnihi, auf Spanisch klingt das immer gleich nach politischem Aktivismus – ich grinse noch heute über das spanische Wort für Surfer, “surfista”.)

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Carolin Emcke für die Süddeutsche:
“Das Brexit-Chaos liefert die besten Argumente für Europa”.

Kaum jemand hat in der jüngeren Geschichte mehr für Europa geleistet als diejenigen, die Europa für überflüssig erklären wollten. All die Nationalisten, die gegen multilaterale Vereinbarungen zu Felde zogen, haben eindrücklich vorgeführt, dass es den autonomen Nationalstaat längst nicht mehr gibt. Es gibt ein Europa, das so eng miteinander verflochten ist, dass es nur transnational denken und handeln kann. Kontrolle gibt es im Zeitalter der Globalisierung nicht allein, sondern nur mit anderen Staaten zusammen.

(Wäre ich nicht eh schon ein Emcke-Fangirl gewesen, hätte mich der Einstieg dieses Artikels dazu gemacht: Sie kennt Gilbert & Sullivan-Operetten!)

Journal Freitag, 23. November 2018 – Echter Nebel und ethische Fragen der Schnäppchenjagd

Samstag, 24. November 2018

Das akzeptierte selbst ich gebürtige Ingolstädterin als ernsthaften Nebel: Ich konnte beim Kreuzen der Theresienwiese die Bavaria nicht sehen.

Davor hatte ich mich darüber gefreut, geradezu munter aufgewacht zu sein.

In der Arbeit wieder viel gelernt. Aber auch die Gewissheit erhalten, dass es über Weihnachten nur die Minimalfreizeit von Samstag, 22. Dezember, bis Dienstag, 1. Januar, geben wird weil Büroumstände. Gut, dass die freie Faschingswoche bereits gesichert ist.

In meinem Twitter gab es gestern indirekt Streit wegen Rabattaktionen des größten Online-Kaufhauses. Seit Tagen schon verbreiteten die einen Twitterinnen im Halbstundentakt Sonderangebote bei Amazon: Alkoholika, Elektrogeräte. Schon beim letzten Mal war mir das übel aufgestoßen, denn ich sehe darin das Verstärken des beabsichtigten Umsatzerhöhungsmechanismus’: Der Anbieter möchte dadurch diejenigen zum Kaufen bringen, die ohne Sonderangebothinweis gar nicht auf die Idee kämen, das Ding haben zu wollen. Ich sehe darin also die Verstärkung genau der Konsumhaltung, die meiner Meinung nach eine Hauptursache für Ressourcenausbeutung und ungleiche Verteilung von globalem Wohlstand ist.

Die Gegenseite ordnete diese Kritik auf Twitter als überheblich ein: Man müsse erst mal privilegiert genug sein, um auf Sonderangebote verzichten zu können. Das stimmt natürlich vordergründig, ich bin in einem Haushalt groß geworden, in dem meine Mutter Sonderangebotszettel akribisch auswertete und ihre Alltagseinkäufe darauf abstimmte; unter anderem damit haben sich meine Eltern ihr Eigenheim zusammengespart. Doch ich habe große Schwierigkeiten damit, die von Twitterinnen beworbenen Luxuslebensmittel und -geräte mit Geldnot in Verbindung zu bringen.

Teilt sich hier vielleicht die Gesellschaft in diejenigen, für die “Shoppen”, also der Kauf unnötiger Dinge, also Konsum, eine Freizeitbeschäftigung ist (zum Beispiel fester Programmpunkt auf Reisen: “Da kann man super Shoppen.” parallel zu: “Da kann man super Windsurfen.”), und diejenigen, für die das nicht attraktiv ist?

Kurzer Einkaufsstopp auf dem Heimweg. Aber sicher bin ich beim Einkaufen genauso bigott wie alle anderen: Im Vollcorner Biosupermarkt gab es Meyer-Zitronen, von denen ich sofort zwei in den Einkaufskorb legte – obwohl ich sie nicht brauchte. Ich verwendete sie daheim gleich mal für Gin&Tonic, was sehr gut schmeckt. Daheim war nämlich Herr Kaltmamsell endlich von seiner Dienstreise zurückgekehrt, ließ sich herzen und küssen – und briet mir zum Abendessen ein freitägliches Entrecôte, wunderbar marmoriert.

Unterhaltungsprogramm: Despicable Me 3, den mir mein Bruder ausgeliehen hatte, viel gelacht.

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Man ist uns draufgekommen: Selbstverständlich können wir Deutschen Small Talk. Er ist halt – anders.
“Germans don’t ‘do’ small talk, right? Well, not quite… ”

Aktivieren Sie JavaScript um das Video zu sehen.
https://youtu.be/539n0ahI0Ts

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Das Pharmazeutikum Adderall ist ein Stimulans des zentralen Nervensystems und wird ähnlich eingesetzt wie Ritalin, nämlich bei ADHS. Gestern twitterte Ritalin-Patientin @kathrinpassig den Link zu einem Artikel darüber und meinte, dass sie den “schon oft gebraucht hätte, um ihn meinen ‘wirkt gar nicht und ist außerdem sehr gefährlich’-Gesprächspartnern zu zeigen”.
“Adderall Risks: Much More Than You Wanted To Know”.

Der Artikel ist von Psychiater Scott Alexander geschrieben, der für sich herausfinden möchte, unter welchen Umständen es angebracht ist, jemandem Adderall zu verschreiben. Er ist sehr lang, aber ich empfehle die Lektüre nicht nur wegen der sachlichen Erkenntnisse: Lesenwert ist er auch wegen der argumentativen Grundhaltung, Bias-bewusst und reflektiert, die ich nur aus dem englischen Sprachraum kenne und außer bei Kathrin Passig und Aleks Scholz noch nie auf Deutsch gelesen habe (z.B. im Lexikon des Unwissens und Das neue Lexikon des Unwissens).

Most people will get some benefit from Adderall, but it’s a powerful drug with a lot of potential risks. Maybe I should figure out exactly how bad the risks are, and then I can figure out how bad people’s concentration problems would have to be for the risks to be outweighed by the benefits.

Trying to discover the risks of Adderall is a kind of ridiculous journey. It’s ridiculous because there are two equal and opposite agendas at work. The first agenda tries to scare college kids away from abusing Adderall as a study drug by emphasizing that it’s terrifying and will definitely kill you. The second agenda tries to encourage parents to get their kids treated for ADHD by insisting Adderall is completely safe and anyone saying otherwise is an irresponsible fearmonger. The difference between these two situations is supposed to be whether you have a doctor’s prescription.

(…)

What about addiction risk?
The data on this are really poor because it’s hard to define addiction.

Ich musste lachen, so selten ist diese schlicht differenzierte Haltung in deutschen Medien. Vielleicht hätte Autor Scott Alexander einfach Manfred Spitzer fragen sollen, der weiß ganz genau, was Sucht ist.

§

An diesem Thema denke ich ja auch schon eine Weile herum:
“Tourismusmanager warnt vor Overtourism
‘In zehn Jahren sind unsere Städte komplett zerstört'”.

Selbst erlebe ich ja beide Seiten: Als Innenstadtbewohnerin Münchens treffe ich immer wieder auf rein touristische Szenerien, zum Beispiel gehören Stachus und Kaufingerstraße im Sommer nachts und am Sonntag fast ganz jungen Menschen von außerhalb. (Die heimische Jugend trifft sich laut Eltern derselben an der Isar.) Anwohner des benachbarten Gärtnerplatzes leiden seit vielen Jahren unter der touristischen Beliebtheit ihrer Wohngegend. Gleichzeitig sind europäische Großstädte meine eigenen liebsten Reiseziele und ich wohne im Urlaub am liebsten mittendrin. Macht es genug Unterschied, dass ich eine sehr rücksichtsvolle Touristin bin und sicher keine Nachbarn mit Lärm störe oder Souvenirshops erwarte?