Dieses Jahr hatte ich es geschafft, meine Eltern und die Familie meines Bruders für unseren lange traditionellen Adventsspaziergang nach München zu locken. Mein Plan: Ein Spaziergang auf meiner Joggingstrecke Thalkirchen-Pullach, am Ende Einkehr in den Rabenwirt.
Vor ein paar Wochen hatte ich mich noch versichert, dass die Nifften, die in einem nicht gerade spazierfreudigen Alter sind, keine zu großen Widerstände gegen den Plan haben: Sie waren so freundlich, ihr Einverständnis auch auf direkte Nachfrage zu geben.
Morgens räumte ich Wohnung, kochte Chai sowie Gewürzsirup für Glühwein (wieder das mittlerweile Standardrezept von Stevan Paul, allerdings mit halb so viel Zucker und Honig) und deckte schon mal die Adventskaffeetafel für den Abschluss des Nachtmittags, stellte fest, dass wir nicht über die Ausstattung verfügen, eine Kaffeetafel für neun mit einheitlichem Geschirr zu bestücken (was in den über 20 Jahren unseres Zusammenlebens auch nie nötig war) – aber wir waren ja unter uns.
Zum Glück blieb der angekündigte Regen vorerst aus: Als wir in Thalkirchen aus der U-Bahn stiegen (die Familie hatte sich gefreut, dass wir ein Originalmodell von 1972 erwischt hatten), war es mild und grau. In gemischtem Geplauder spazierten wir anderthalb Stunden an der Isar bis zur Großhesseloher Brücke, stiegen dann auf zum Hochuferweg, gingen über Waldwirtschaft und an den größtenteils leer stehenden BND-Gebäuden vorbei hinein nach Pullach.
Im Rabenwirt wurden wir sehr herzlich empfangen und aßen ausgezeichnet. Der schöne, kleine Gastraum mit Fenstern hinaus aufs Isartal war belebt, aber nicht voll, wir saßen gemütlich. Weitere Attraktion: Der alte Berner Sennenhund, der quer über dem Gang zum Klo lag und sich streicheln ließ.
Richtig gutes Wiener Schnitzel.
Zurück nahmen wir die S-Bahn, für die Nifften Gelegenheit zu lustigen Gleichgewichtsspielen. Bei uns daheim: Glühwein, Chai, die Plätzchen, die ich über die vergangenen Wochen gebacken hatte, Stollen und den Kölner Mohnstollen, den meine Mutter mitgebracht hatte.
Mittlerweile regnete es heftig, Bruder und Schwägerin knickten ihre Pläne, das Tollwood zu besuchen.
Erste Male: Am Steuer des Wagens, mit dem die Familie nach München gekommen war, saß Neffe 1 mit frischem Führerschein.
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Der Spiegel-Skandal beschäftigt weiter die Welt des Journalismus auf durchaus interessante Weise. Holger Starl analysiert in der Zeit:
“Ein Fall für die Lehrbücher”.
Die Relotius-Affäre ist nicht das Ende der Reportage. Aber die Kunstform der makellosen, überparfümierten Reportage, die den Leserinnen und Leser vorgaukelt, die ganze Welt im Schicksal einer Person erzählen zu können und mit der Figur des allwissend-autoritären Erzählers dabei ist, wenn es knallt und raucht und funkt – diese cineastische Kunstform muss spätestens jetzt am Ende sein.
Genau diesen Tonfall der Allwissenheit mochte ich im Journalismus noch nie: Wenn die Reporterin oder der Reporter sich anmaßten, in die Köpfe der Menschen zu sehen, über die sie berichten, konnte das nicht stimmen – und schon misstraute ich auch dem Rest der Geschichte. Das ging mir ganz persönlich als Leserin schon lang so mit dem Spiegel, noch während des Studiums wandte ich mich anderen Quellen zu. “Überparfümiert” trifft es sehr gut. Ich sprang seinerzeit zum Beispiel sofort auf brandeins an: Diese Texte bewiesen, dass man auch Berichte fesselnd schreiben kann, dass in einer spannenden Geschichte die Fakten tragen – viel Text, wenig Bilder, brandeins arbeitete in der ersten Zeit sogar mit Fußnoten!
Guter investigativer Journalismus als unerlässliches Korrektiv einer freiheitlich demokratischen Gesellschaft ist nicht unterscheidbar von geisteswissenschaftlicher Forschung: Transparenz in der Methodik, Belastbarkeit aller verwendeten Daten und Quellen, Beharrlichkeit in der Recherche auch gegen Widerstände. Dazu kommen präzise und nahbare Formulierung der Ergebnisse, klare Markierung von Interpretationen und Lücken – und Reflexion des eigenen Bias.
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Zu Recht wird in der aktuellen Journalismus-Diskussion auf den Lokaljournalismus als vorbildliches Gegenstück verwiesen.
Im Landlebenblog berichtet eine Lokaljournalistin, warum sie trotz vielfältiger, als renommierter angesehener Möglichkeiten genau das macht:
“Lügenpresse, die zweite.”
Sie verlinkt den Artikel einer jungen Schweizer Kollegin:
“Eine Liebeserklärung”.
Passiert im Nachbardorf ein Vierfachmord, belagert die ganze Medienmeute Gemeindehaus und Stammtisch. Zwei Monate später sitzen wir alleine an der Gemeindeversammlung und ermöglichen Lokaldemokratie, selbst wenn die Schlagzeilen nicht mehr so gross sind. Dabei sind wir extrem nahe dran. Es kommt vor, dass ich nach der Urteilsverkündung in die Migros gehe und bei den Joghurts den Angeklagten wiedertreffe, vor der Kasse die Gerichtspräsidentin. Den Kommentar-Zweihänder bei jeder Gelegenheit auspacken? Ist nicht drin. Hell hath no fury like a… beleidigter Gemeindepräsident.
(Die Gummistiefel hat man nicht nur für Spatenstiche, sondern auch für Feuerwehreinsätze: Löschwasser ist nass und steht auch mal höher.)
In den vergangenen Tagen dachte auch ich immer wieder: Im Lokalen wäre das nie passiert. Dass Leserinnen und Leser fast alle glauben, ihre Lokalzeitung sei ein “Käseblatt” (interessanterweise mit genau diesem Wort seit mindestens 35 Jahren), da stünden ja täglich Fehler drin – das liegt daran, dass sie sie dort bemerken. Und meist sind es ja eh Lässlichkeiten, die der Taktzahl einer Tageszeitung und mangelnder Fachkenntnis von Generalisten geschuldet sind. Meine Damen und Herren, setzen Sie sich hin: Die Fehleranteil ist im Mantelteil und in den großen Magazinen etwa genauso hoch – Sie merken es nur nicht. Und, ganz wichtig: Praktisch keiner davon ist Absicht, böse oder gute. Sondern der Fehlbarkeit von Menschen geschuldet. Weswegen der Spiegelskandal ja so ein Skandal ist.
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Nachtrag: Ich bin Ihnen noch ein Weihnachtsfilmchen schuldig! Heute nehmen wir das der Cerebral Palsy (Zerebralparese) Foundation.
(Ja, nee – ich kann mir beim besten Willen keine deutsche Version davon vorstellen.)