Als ich spät und ausgeschlafen aufstand, schimmerte das Licht draußen rosa. Ich zog den Rollladen hoch und sah, dass der 1. Advent einen Regenbogen gespannt hatte.
Es begann zu regnen, das soll auch die nächsten Tage zu bleiben. Doof, weil nass und grau, aber so bitter nötig.
Ich hatte große Lust auf eine Runde Schwimmen, musste ich halt mit der U-Bahn zum Olympiabad fahren statt zu radeln. Vor der Olympiahalle standen Menschenschlangen, plakatiert waren “Jürgen Höller Powerdays”. Daheim fand ich heraus, dass man hier lernen sollte “Wie auch Du alles in Deinem Leben verändern, alles verbessern, alles aufbauen und erfolgreich und glücklich leben kannst”. Naheliegend, dass sich dafür Schlangestehen im Regen lohnt. (Andererseits hätte man am Sonntagvormittag gradsogut in die Kirche gehen können, da wird in etwa dasselbe versprochen.)
Schwimmen war entspannt und schön, zum ersten Mal seit ewig hatte ich keine Probleme mit dem eingeklemmten Nackennerv, nicht mal auf den letzten 1.000 Metern. Und ich war so erwachsen, daraus nicht gleich eine Verlängerung meiner Schwimmrunde abzuleiten.
Daheim kochte ich zum nachmittäglichen Frühstück Porridge und genoss ihn sehr.
Internetlesen, zweite Runde Stollenbacken, Wochenendzeitung lesen, zum Abendbrot machte ich aus Ernteanteilrüben Rote-Bete-Gratin.
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Erste Folge einer neuen Kolumne im SZ-Magazin übers Dicksein:
“Natürlich darf ich glücklich sein”.
Ich kenne das ja auch: Von Kindesbeinen an auf Diät gesetzt zu werden und unauslöschlich eingebimst zu bekommen, dass mein Aussehen eigenverschuldet deutlich suboptimal ist. Das Tückische in meinem Fall: Ich war gar nicht dick (auch wenn die Schulärztin mich als “pyknisch” einordnete). Weder wurde ich in der Schule gehänselt noch sprachen mich Nachbarn auf der Straße an, ich passte auch in ganz normale Kleidung. Fassungslosigkeit kenne ich im Gesicht der Nachbarin, der ich als Grundschulkind beim Draußenspielen wichtigtuerisch erzählte, dass ich gerade FÜNF KILO abnehmen sollte! Ich erinnere mich, wie sie das murmelnd in Prozent meines vermutlichen Gesamtgewichts umrechnete und den Kopf schüttelte.
Letzthin startete eine Twitterin die Umfrage, was unsere schönsten Erinnerungen an die eigenen Kindergeburtstage waren. Meine: Ich durfte an diesem einen Tag im Jahr soviel essen wie ich wollte. Durfte zum Frühstück Teelöffel um Teelöffel Kakaopulver in die Milch rühren, und meine Mutter bekam lediglich schmale Lippen. Durfte noch ein Stück Kuchen nehmen ohne ihr “Du hattest schon eines!”. Kann sich jemand vorstellen, welches Drama für mich der eine Geburtstag war (zehnter?), an dem ich Magen-Darm hatte? Weinend vor der endlich erlaubten Schachtel Pralinen saß und keine Lust darauf hatte? Zumindest bin ich recht sicher, dass meine Mutter fair genug war, mich das Allesessen nachholen zu lassen.
Das weiterhin Tückische: Glücklichseindürfen ist ziemlich sicher auch für mich mit Dünnsein verbunden. Obwohl ich ein paar Jahre lang Größe 36-38 dünn war und selbstverständlich auch nicht glücklich.
Hier 1995 mit 27 (das Foto schmeichelt mir).
Im Nachhinein erscheint mir absurd, welchen Preis ich dafür zu zahlen bereit war: Fünfmal die Woche Sport, ein- bis zweimal die Woche Abendessen ausfallen lassen (wenn ich nachts vor Hunger aufwachte, aß ich halt ein Stückchen Käse, dann ging’s), kontinuierliches Kalorienzählen und fast immer Wahl kalorienärmerer Alternativen (Milch 1,5%, Magerjoghurt, Süßstoff statt Zucker, Frischkäse statt Butter, Magerquark etc.).
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Das zweite Mal an diesem Wochenende erzählte mir jemand, welchen persönlichen Erkenntnisgewinn der direkte Austausch mit Menschen ganz anderer Kulturen bewirkt. Dieses zweite Mal war es schriftlich:
Astronom Dalcash Dvinsky wohnte in Schottland ein paar Monate zusammen mit einem Astronomenkollegen aus dem Irak.
“Leaving Scotland by the pound”.
Er lernte viel – unter anderem dass das verbindende gemeinsame Interesse nicht etwa Himmelskörper waren.
While astronomy was not the expected common denominator, we found a shared interest in war, religion, and dictatorships.
For him this interest was admittedly more first-hand than for me. But at least I grew up in a militaristic oppressive undemocratic one-party system (East Germany), although my dictator was a feeble man (Erich Honecker) whereas Laith’s dictator (Saddam Hussein) was so strong that he could swim across the Tigris, twice (an anecdote I learned from Laith). I learned how to throw a fake hand grenade in middle school, just like Laith. I had pictures of dictators and mass murderers in my class rooms, just like Laith. Dictatorships are, after all, fairly similar, all over the world, we found out. There seems to be a standard set of rules how to run a tyranny, maybe a Wiki or a textbook or a university course that every tyrant has to take.
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Mir war nicht klar, welche Rolle die Fernsehserie Holocaust für die deutsche Aufarbeitung der Judenverfolgung spielte. Hier der Spiegel-Artikel von 1979 mit ausführlichem Hintergrund:
“‘Holocaust’: Die Vergangenheit kommt zurück”.
Eine amerikanische Fernsehserie von trivialer Machart schaffte, was Hunderten von Büchern, Theaterstücken, Filmen und TV-Sendungen, Tausenden von Dokumenten und allen KZ-Prozessen in drei Jahrzehnten Nachkriegsgeschichte nicht gelungen war: die Deutschen über die in ihrem Namen begangenen Verbrechen an den Juden so ins Bild zu setzen, daß Millionen erschüttert wurden. Im Haus des Henkers wurde vom Strick gesprochen wie nie zuvor, “Holocaust” wurde zum Thema der Nation.
Auch, wie anders, für deren Nationalisten. Schon vor Wochen hatten Anonyme mit Vergeltung gedroht, vorletzten Donnerstag flogen die Fetzen: Um 20.40 Uhr zerriß ein Zehn-Kilo-Sprengsatz die Leitungen zum Südwestfunk-Sender Waldesch bei Koblenz. 21 Minuten später detonierte eine Bombe in der Richtfunkstelle Nottuln bei Münster und zerstörte ein Antennenkabel.
Auf Hunderttausenden von Bildschirmen erlosch das Erste Programm, in dem gerade das schlimmste Kapitel deutscher Geschichte noch einmal dokumentarisch durchleuchtet wurde: “Endlösung”.
In den Funkhäusern wurden eilends die Eintrittskontrollen verschärft. Polizei bezog Posten vor freistehenden Sendeanlagen. Das Bundeskriminalamt ließ am Koblenzer Tatort tonnenweise Schnee abtragen und dessen Tauwasser an geheimer Stelle nach Beweisstücken durchsieben.
Eine Gruppe namens “Internationale revolutionäre Nationalisten” bekannte sich inzwischen telephonisch zu den Attentaten und bestätigte damit den Verdacht von Bundesanwalt Rebmann, “daß der Anschlag aus Anlaß des Fernsehfilms “Endlösung” mit rechtsradikaler Zielsetzung geplant und ausgeführt worden ist”.
Der Knall in Hunsrück und Münsterland indes machte das bundesdeutsche TV-Publikum erst richtig hellhörig für das Medienereignis “Holocaust”, dem der Bericht “Endlösung” nur als Vorspiel diente und dessen Nachhall noch nicht annähernd abschätzbar ist.
Vor kurzem noch mußte den Deutschen das amerikanische Fremdwort, das sich aus den griechischen Wörtern “holos” (vollständig) und “kaustos” (verbrannt) zusammensetzt, als exotische Vokabel vorkommen, letzte Woche war es in aller Munde, bis hinauf zu Helmut Schmidt und Helmut Kohl, die “Holocaust” sogar in die Parlamentsdebatte warfen.
(…)
Den stärksten Zuspruch fand die Serie im Sendebereich des WDR, den geringsten bei Saar- und Hessenfunk. Am Dienstag schaute, trotz ungünstig später Sendezeit, jedes neunte Berliner Kind unter 13 Jahren dem Drama zu, in Nordrhein-Westfalen immerhin noch jedes 17. Überall registrierten Pädagogen ein “äußerst großes Bedürfnis der Schüler, darüber zu sprechen”. Und so, beispielsweise, sprachen sie: Jürgen Knipprath, 13, hatte “früher mal geglaubt, daß die Juden vorher irgendwelche Verbrechen begangen haben. Aber die hatten ja überhaupt nichts getan”.
(…)
Die CSU-nahe “Schüler Union Bayern” forderte vom Bayerischen Rundfunk eine Nachfolgeserie über die Vertreibung Millionen Deutscher aus ihrer Heimat: Einseitige Schuldbekenntnisse wie in “Holocaust” seien der Jugend nicht zuzumuten.
Ein anonymer Anrufer drohte, Heinz Galinski, der Leiter der Jüdischen Gemeinde Berlin, werde umgebracht, wenn man die Serie nicht schleunigst absetzt.
Doch weit mehr noch, wie nicht erwartet, meldeten sich Irritierte, Betroffene, Überlebende. Manche schämten sich, klagten sich selbst an, einige weinten. Häufig wurden neue Dokumente, Prozeßakten, Tagebücher und Gedichte angeboten.
via @sixtus
(Ich war zwölf und durfte noch lange nicht nach der Tagesschau fernsehen, sah die Serie also nicht – wäre auch noch nichts für mich gewesen.)