Journal Sonntag, 22. Dezember 2019 – Adventspaziergang 2019 und Saša Stanišić, Herkunft
Montag, 23. Dezember 2019 um 8:50Der Adventspaziergang der Familie Kaltmamsell fiel dieses Jahre auf den 4. Advent, einen düsteren, regnerischen Tag.
Herr Kaltmamsell und ich machten uns schwer bepackt zum Bahnhof auf, dieses Jahr hatte ich einen Rollkoffer zu Hilfe genommen. Wir trugen nicht nur die Geschenke für die Familie sowie Stollen und Plätzchen, sondern auch einen Stapel Kochbücher, den ich ausgemustert hatte: Ich kochte nie daraus, blätterte auch nicht darin – vielleicht hatte jemand aus der Familie dafür Verwendung.
Wegen schwerer Bepackung ließen wir uns auch von meinem Vater mit dem Auto abholen.
Weihnachtsdeko in Mutters Haus dieses Jahr sehr zurückhaltend.
Als die Bruderfamilie eintraf, machten wir uns auf den Weg: Dieses Jahr ohne Anfahrt, wir gingen gleich von meinem Elternhaus los.
Ich erfuhr, dass es hier einen Trimmdich-Pfad gab, mit dem Panther aus dem Ingolstädter Stadtwappen in 80-er Aerobic-Kleidung. Außerdem lernte ich viel über die verschiedenen Funktionen von Aufklebern mit politischer Botschaft.
Das Überraschungsziel (meine Eltern verheimlichen uns immer, wo wir essen werden) war der Kastaniengarten in Oberhaunstadt. Wir wurden sehr herzlich umsorgt, die vertrauenserweckend überschaubare Speisenkarte bot auch den vegetarisch essenden eine schöne Auswahl. Ich bestellte einen Wintersalat (mit Würfeln von Sellerie und Roten Beten) und geschmorte Ochsenschulter mit Wirsing, war mit beidem sehr zufrieden.
Zurück ging es über einen anderen Weg und in munterem Gespräch mit der Schwägerin und den Nifften. Im Elternhaus servierte meine Mutter zu Punsch, Tee und Kaffee nicht nur Plätzchen und Stollen, sondern auch einen eigens gebackenen Mohnstollen. Weiter munteres Geplauder.
Zum Zug zurück war unser Gepäck trotz Geschenkeeinsammeln leicht genug geworden, dass wir den Weg durch leichten Regen zu Fuß zurücklegen konnten.
Abend mit Häuslichkeiten. Im Bett las ich Saša Stanišić, Herkunft aus. Dieses hat mir am besten von den drei Büchern gefallen, die ich von Stanišić kenne (mit Vor dem Fest hatte ich sogar Probleme gehabt). Oft wird in den Rezensionen auf die Sprache verwiesen, zu Recht: Stanišić verwendet sie nicht nur angenehm frei von Klischee, sondern immer wieder in eigentlich nicht vorhergesehener Weise mit treffendem Effekt, macht scheinbar einfach Wörter dadurch sichtbar – das ist schön. Durch die eigentliche Geschichte, nämlich seine eigene Kindheit in Bosnien und seine Kindheit und Jugend in Heidelberg, wurde mir beschämend spät bewusst, welch fundamentaler Unterschied es ist, ob jemand freiwillig und gezielt in ein bestimmtes Land eingewandert ist, oder nur zufällig als Flüchtling, Hauptsache weg und in Sicherheit. (Mal wieder werde ich wütend über die unbrauchbare Kategorie “Migrationshintergrund” – sie wirft Menschen mit komplett unterschiedlichen Lebenswegen und Problemen in einen Topf.)1
Und dann das mit der titelgebenden Herkunft. Manchmal macht sich die Erzählerstimme über ihre eigenen intellektuellen Reflexionen lustig, indem sie diese als Antwort auf lediglich menschlich nett gemeinte Fragen der Verwandtschaft zitiert – wodurch sie völlig gekünstelt und irrelevant klingen. Dabei sind sie es doch nicht, möchte ich die Stimme trösten, mach dir die Gedanken ruhig weiter. Diese Weigerung, mich über Herkunft definieren zu lassen (oder über mein Gender oder meine Körperform etc. pp.), kenne ich selbst nur zu gut. Vielleicht kann ich es abkürzen: Die Weigerung, mich definieren zu lassen. Punkt.
Sehr gut gefielen mir:
– Die Beschreibung der Dynamik in der Gruppe Heranwachsender aus vielen verschiedenen Ländern.
– Die liebevollen und erzählerisch immer verzweifelteren Versuche, die Großmutter in Višegrad aufzufangen, die in Demenz versinkt.
– Die große Freundlichkeit und Güte, die aus der Erzählerstimme spricht, die sich auch bewusst ist, wie viel Glück sie mit zufälligem Wohnort, mit Schule, mit Lehrerinnen und Lehrern hatte – auch mit konkreten Menschen bei Behörden.
Ich kann mir vorstellen, dass man mit dem Roman im Deutschunterricht viel machen kann (das habe ich von Herr Kaltmamsell gelernt: dass sich für den Unterricht am besten Bücher eigenen, mit denen man Was Machen kann): Zum Beispiel Recherchieren über den jugoslawischen Bürgerkrieg, die Geschichte von Flucht nach Deutschland seit dem 2. Weltkrieg (angefangen mit den Vertriebenen), Emigrationsliteraturen der Welt im Vergleich, Untersuchen der oben beschriebenen sprachlichen Effekte.
Eine schöne Besprechung hier von Ijoma Mangold in der Zeit:
“Die Deutschen überholen”.
§
Autorin Isabel Bogdan wird nach ihren immateriellen Wünschen gefragt, ist ehrlich, bekommt sie erfüllt – und hat jetzt vielleicht ein Problem:
“Es ist eine Art Running Gag zwischen Rainer Moritz und mir, dass ich immer sage, das Literaturhaus Hamburg braucht eine lange Tischdecke für den Tisch auf der Bühne.”
§
Jetzt, wo keiner guckt, packe ich meine tiefsten Geheimnisse aus: Mein Faible für Burlesque (DITAAAA!). Über ein instagram-Bild der Blogess stieß ich auf diese Website mit den atemberaubendsten Negligees. Hier könnte ich stundenlang blättern und mich wie die Models fühlen. (Allerdings erstaunt mich die Lücke Schuhwerk: Dazu müssten dringend edle Seidenpantöffelchen mit Federpuschel anegboten werden.)
- Erst kürzlich erfuhr ich von einem jungen Burschen, der mit deutscher Herkunft und Staatsbürgerschaft in einem lateinamerikanischen Land aufwuchs und jetzt nach Deutschland kam, hier große Schwierigkeiten hat, sich auch im schulischen Leben zurecht zu finden. Im Gegensatz zu mir wird er nicht als “Migrationshintergrund” verzeichnet, wobei ich in Deutschland geboren und aufgewachsen bin, deshalb auch nie Schwierigkeiten hatte, mich zurecht zu finden. [↩]
7 Kommentare zu „Journal Sonntag, 22. Dezember 2019 – Adventspaziergang 2019 und Saša Stanišić, Herkunft“
Sie möchten gerne einen Kommentar hinterlassen, scheuen aber die Mühe einer Formulierung? Dann nutzen Sie doch den KOMMENTAROMAT! Ein Klick auf einen der Buttons unten trägt automatisch die gewählte Reaktion in das Kommentarfeld ein, Sternchen darüber und darunter kennzeichnen den Text als KOMMENTAROMAT-generiert. Sie müssen nur noch die Pflichtfelder "Name" und "E-Mail" ausfüllen und den Kommentar abschicken.
23. Dezember 2019 um 11:39
Absurditäten der Kategorie Migrationshintergrund: in der Kitagruppe meines Kindes hat ein Kind einen Platz bekommen aufgrund seines Migrationshintergrund. Seine Mutter ist Österreicherin, der Vater Deutscher. Integrationsplätze sind aufgrund der angeblich benötigten Sprachförderung teurer und werden hier vom
Berliner Senat daher auch höher bezuschusst. Die Kita macht damit also ganz gut Geld (es sei ihr gegönnt, die Bedingungen sind ohnehin schon hart genug), viel Sprachförderung fällt in dem Fall ja nicht an. Die Kategorie Migrationshintergrund ist eine bürokratische, die für die jeweiligen Spezifitäten keinen Raum lässt.
Burlesque, jaaa, hier auch ein Fangirl.
23. Dezember 2019 um 12:30
Der Link bezüglich Isabel Bogdan funktioniert (für mich?) leider nicht, auch mit Suchen finde ich per Google oder Facebook nichts dazu. Kann jemand helfen?
23. Dezember 2019 um 12:46
Gibt es noch ein anderes Schild für den TrimmDich-Pfad? Denn das Tier auf dem Bild würde ich eher für einen Drachen halten und nicht für einen Panther.
23. Dezember 2019 um 14:07
Die Ingolstädter, Sandra, bestehen darauf, dass das in ihrem Wappen ein blauer Panther ist:
https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Wappen_Ingolstadt.svg
Erklärung:
https://www.hdbg.eu/gemeinden/index.php/detail?rschl=9161000
Ist wohl nur sichtbar, Usul, wenn man bei Facebook eingeloggt ist.
23. Dezember 2019 um 17:55
Das ist ja total interessant! Danke für das unnütze Wissen! Hoffe, ich kann es bei Gelegenheit anwenden :)
23. Dezember 2019 um 20:21
Bin eingeloggt, Kaltmamsell, aber wohl nicht in einem erlauchten Kreis, nicht so schlimm. Hätte nur gedacht, wenn man nicht das Recht hat, etwas zu sehen, bekommt man eine andere Fehlermeldung.
23. Dezember 2019 um 22:08
bin auch eingeloggt und kann den link auch nicht öffnen