Journal Donnerstag, 2. Januar 2020 – Venedig 2, Ghetto und Cicchetti

Freitag, 3. Januar 2020 um 8:28

Warum ausgerechnet diese Nacht von Hüftschmerzen zerhackt wurde und ich erst morgens ein paar Stunden Schlaf am Stück zuwege brachte, wüsste ich schon gern. Außerdem war mir kalt, ich musste eine Zusatzdecke holen.

Aber ich war ja im Urlaub und konnte ausschlafen. Das Frühstücksangebot des Hotels umfasste zu meiner Freude auch weißen Joghurt und Obst. Der Cappuccino allerdings war Hotel-üblich traurig, ich brauchte am Vormittag einen weiteren in einem Café auf dem Weg.

All die sehenswerten Kirchen und Museen Venedigs überforderten mich erst mal, außerdem strahlte herrliche Sonne: Ich hatte Lust auf ausgiebiges Rumlaufen. Als Ziel legte ich das Ghetto fest. Große Überraschung: Auf unserem Meanderweg durch das Viertel San Polo entdeckten wir auf dem Campo San Polo eine Eislaufbahn, inklusive begleitender Glühweinhütte. Wäre ich nur ein wenig abenteuerlustiger, könnte ich jetzt von mir sagen, ich sei in Venedig schon mal Schlittschuh gelaufen. Aber so jemand bin ich halt nicht.

Viele, viele Touristen, an den wenigen Brücken über den Canal Grande war schier kein Durchkommen. Und das, wo doch derzeit die nebenste Nebensaison ist und keine Kreuzfahrtschiffen anliegen. Korrektur: Laut Italien-Touristik-Expertin Vinoroma ist derzeit trotz der niedrigsten Übernachtungspreise des Jahres nicht Nebensaison, sondern Hochsaison. Aber hier ist es halt wirklich außergewöhnlich schön. Das könnte unter anderem damit zu tun haben, dass es keinen Autoverkehr gibt.

Im neuen Ghetto stand noch der große Chanukka-Leuchter, wir besuchten das Museum über die Geschichte der Juden in Venedig, sahen in den Auslagen umliegender Läden herrlichen Chanukka-Kitsch.

Gehen war bereits seit einiger Zeit anstrengend; ich fürchte, mehr als eine Stunde kann ich nur noch mit eben Anstrengung. Also ließen wir uns vom Vaporetto zum nächsten Ziel fahren: Wir leisteten uns einen Wochenpass, um jederzeit in einen der Wasserbusse springen zu können – auch wenn das wahrscheinlich nicht billiger wird als Einzelfahrscheine.

Ziel war Zattere, wir wollten Cicchetti (Schnittchen) und ein Glas Wein. Das einzige offene Lokal dafür war proppenvoll, die Schlange am Tresen stand bis auf den Gehweg. Ich war schon dabei entmutigt abzudrehen, als ich Herrn Kaltmamsell bat, mich doch bitte zu etwas Heldinnentum zu zwingen, über das ich mich anschließend sicher freuen würde. Und so fasste ich mir ein Herz und stürzte mich ins Gewimmel. Das lange Schlangestehen hatte den Vorteil, dass ich durch Zuhören und Zusehen lernen konnte. Ich kam dann mit den abgehörten Brocken Italienisch durch – oder halt dem, was ich mir als solches ausdenke. Ich rechne es meinen bisherigen Kontakten unter Einheimischen in Venedig hoch an, dass sie nicht entnervt auf eine andere Sprache umschwenkten, sondern das langsame Meucheln ihrer Muttersprache erduldeten.

Ausruhen im Hotel, für den Abend hatte ich ums Eck einen Tisch reserviert: Hier hatte ich vor sieben Jahren mit meiner Mutter gut gegessen und hoffte, dass das immer noch möglich sein würde. War tatsächlich ok.

Herr Kaltmamsell stellte wie so gerne im Ausland ethnologische Studien anhand des Fernsehprogramms an, ich las noch Internet.

Blick vom Hotelzimmer-Balkon.

Mauerkrokodil.

San Barnaba.

FEUERWEHRBOOT!

Campo San Polo.

Der Bahnhof Venedig Santa Lucia mit Wasserbushaltestellen.

Chanukkakitsch.

Zattere.

Abendessen: Erster Gang Sarde saor für mich, Baccalà für ihn, beides mit Polenta.

Nudeln mit (ganz hervorragendem) Hummer für mich, Frittura mista für ihn.

Zum Nachtisch Birne in Crème anglais, Crème caramel mit Amaretti.

§

Nancy Mitford, The Pursuit of Love ausgelesen. Ich war von Anfang an sehr angetan von dieser nach Judith Kerr weiteren und ganz anderen Sicht auf die Zeit Ende der 30er, Anfang der 40er in Europa. Nancy Mitford hat nach eigenen Angaben viel von ihrer eigenen Familiengschichte für diesen Roman genutzt, in dem der Landadel noch ungebildeter und blasierter dargestellt wird als bei P.G. Wodehouse. Und doch spricht die Erzählerstimme gleichzeitig voller Zuneigung von der Hauptfigur Linda, die im Schloss ihres Vaters aufwächst, nie eine Schule besucht – und so in Zeiten ohne Massenmedien wirklich weltfremd groß wird. Wir erleben die Zeiten des spanischen Bürgerkriegs, der Vorkriegszeit in Paris und der Bombenangriffe auf London diesmal über die Geschichte einer naiven und rücksichtslosen Person, die einfach durchs Leben getrieben wird. Das Vorwort meiner Ausgabe (eine Sammelausgabe von drei Mitford-Romanen) ist von Philip Hensher und beginnt:

Nancy Mitford’s novels have always repelled as many people as they have enchanted, and the criticism they have drawn has not often been good-natured in tone.

Ich kann gut nachvollziehen, wenn sich jemand an der Frivolität von The Pursuit of Love stößt, doch in meinen Augen zeichnet der Roman ein wundervolles Sittengemälde, umso glaubwürdiger, weil die Autorin Teil der direkt und indirekt karikierten Gesellschaftsschicht war.

die Kaltmamsell

16 Kommentare zu „Journal Donnerstag, 2. Januar 2020 – Venedig 2, Ghetto und Cicchetti“

  1. lihabiboun meint:

    Im Gegensatz zu den Franzosen sind Italiener NIE genervt, wenn man nicht völlig fehlerfrei parliert, im Gegenteil: Sie sind über jeden kleinen italienischen Satz entzückt und machen einem Komplimente, wie gut man doch ihre Sprache beherrscht. DANKE sehr, dass Sie uns mitnehmen, das ist wie Kurzurlaub.

  2. ingrid meint:

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  3. Croco meint:

    Die Fotos mit der tief stehenden Sonne gefallen mir gut. Und es freut mich sehr, dass der Blick für alles Krokodilige geschärft ist.

  4. Vinoroma meint:

    In italien ist noch bis 6.1. Hochsaison, erst ab dann wirds nebensaison.

  5. Sabine meint:

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  6. die Kaltmamsell meint:

    Sehr interessant, vinoroma, hier in Venedig waren die Übernachtungspreise ab 1.1. am niedrigsten und stiegen erst im Februar wieder – vielleicht ein Unterschied wegen Karneval?

  7. kelef meint:

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  8. Maria meint:

    Kennen Sie die Aussichtsterrasse auf dem Fondaco dei Tedeschi? Dort bekommen Sie einen tollen Blick auf den Canale Grande.

  9. Robert meint:

    Ah, der Ponte dei Pugni, um die Ecke des Campo San Barnaba, berühmte Drehorte von Indiana Jones and the Last Crusade!

    https://www.youtube.com/watch?v=WiwVdYTQl2k

    Der Campo für mich einer der schönsten Plätze in Venedig, kein mehrtägiger Aufenthalt in Venedig ohne ein Vorbeischauen dort. Aber auch die Geschichte des Ponte ist interessant:

    https://www.introducingvenice.com/ponte-dei-pugni

  10. Stedtenhopp meint:

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  11. Hauptschulblues meint:

    Und ganz in der Nähe hat Nono Colussi seon Geschäft:
    Dorsoduro 2864/A
    Calle Lunga de San Barnaba
    https://dalnonocolussi.com/
    Man sollte nicht versäumen, dort hin zu gehen.
    https://hauptschulblues.blogspot.com/2016/10/pasticceria-dal-nono-colussi.html

  12. Vinoroma meint:

    Februar anstieg ist definitiv wg karneval, aber die inner italienische ferien saison geht 20.12. (Dieses jahr, immer um 24.12 herum) bis 6.1. (Beffana, DER feiertag, wo die kinder ihre geschenke bekommen) und preise fallen danach ab, bis eben karneval in venedig (und marz in rom, usw). Siehst Du ja selber an den Menschenmassen ganz ohne kreuzfahrtschiffe, nicht wahr?

  13. Ulla meint:

    Sehr schöne Aufnahmen. Es scheinen auch viele Italiener in München zu sein, wie ich heute beim Bummel in der Innenstadt festgestellt habe.
    Ihnen alles Gute für 2020 und weniger Probleme mit den Problemzonen.

  14. die Kaltmamsell meint:

    Dann sind die Preise einfach bloß supernett von den Venezianern, vinoroma? Danke, Venedig!

  15. Vinoroma meint:

    Verstehe die “supernetten preise” nicht??? Es ging darum, dass du uberrascht warst, dass so viele leute da sind “obwohl nebenste nebensaison” – und ich wollte aufklären, dass eben gerad keine nebenste nebensaison ist sondern hochsaison, und dswg viele leute….

  16. Hauptschulblues meint:

    In Venedig ist immer Saison, mal ein bisschen mehr Leute, mal ein wenig weniger. Die Hotellerie hat trotzdem unterschiedliche Preise, mal höher, mal niedriger. Sie gleicht sich globalem Hotelgebaren an.

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