Journal Freitag, 27. März 2020 – Bits and Bobs aus dem Pandemiealltag
Samstag, 28. März 2020 um 8:04Und nun wieder mit Kopfweh aufgewacht, in den letzten beiden Stunden Schlaf zudem mehrfach hochgeschreckt, weil ich träumte, dass der Wecker klingelt. Dieses Ende der Arbeitswoche sehnte ich schon sehr herbei: Ich bin erschöpft, ich brauche Pause.
Es war milder geworden, ich konnte im Büro das Fenster auf der Sonnenseite den ganzen Vormittag gekippt lassen. Emsiges Arbeiten, einiges davon sogar geplant und nicht als Querschuss.
Mittags Butterbrot aus selbst gebackenem, nachmittags eine Orange (überraschend köstlich) und ein kleiner Lagerapfel.
Beim mittäglichen Zeitunglesen bemerkte ich endlich den Jugoslawien-Effekt: Ich lese nicht mehr jede Faktenmeldung und -analyse zur Pandemie, meine Aufmerksamkeit schaltet aus seelischer Überforderung auf Langeweile. Wie halt, deshalb meine Bezeichung, damals im jugoslawischen Bürgerkrieg, als ich monatelang (wofür ich mich durchaus schämte), die Titelseite der Süddeutschen ungelesen umblätterte.
Langsam mehren sich die bekannten Namen unter den COVID-19-Todesfällen, gestern der US-amerikanische Architekt Michael Sorkin und Marguerite Derrida, Psychoanalystin, Übersetzerin und Witwe von Jacques Derrida.
Wenn jetzt alle ihre Urlaubsanträge zurücknehmen, weil ihre Urlaubsreisen ausfallen, bekommen wir zum Jahresende ein echtes Problem.
Nun wurde auch der diesjährige Bachmannpreis abgesagt, also die Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt.
Ich machte früh Feierabend und radelte zum Viktualienmarkt. Schon auf dem Weg dorthin erfasste mich endlich der tiefe Pandemie-Schrecken (auch hier “endlich”, weil ich mittlerweile weiß, dass mein Gemüt bei Einschlägen sehr lange eisern an business as usual festhält, bis unweigerlich ja doch der Knick kommt – je früher desto besser, doch ich habe das nicht in der Hand): Es waren die nun doch auffallend leeren Straßen an einem milden Frühlingsfreitagnachmittag und die Blumenläden, deren Leere auf mich wirklich apokalyptisch wirkte.
Auf dem Viktualienmarkt, auch hier sah die Entvölkertheit gespenstisch aus, steuerte ich den Tölzer Kasladen an. Aus einem Fenster mit Plexiglasscheibenschutz wurde verkauft, ich stand ein wenig an. Und kam dann beim Einkauf ins Fachgespräch mit dem kundigen Herrn innen, der mir unter anderem einen Käse vorstellte, der dem Manchego ähnlich sei, aber aus Niederbayern komme, von Vilstaler Schäfern. Er ließ mich probieren und tatsächlich hatte ich Manchego-Erinnerung im Mund, und zwar bevor die industrielle Produktion in Spanien Nuancen wegentwickelt hatte. Ich freute mich: Ein richtiger Einkauf im Fachgeschäft ist es, wenn ich etwas dabei lerne.
Daheim das SZ-Magazin des Tages gelesen. Am meisten freute mich diesmal die Rubrik “Getränkemarkt”: Die Wiener Autorin Verena Mayer disste den Kaffee ihrer Heimatstadt:
“Bohnenseiche Plörre”.
(Im Heft trägt der Artikel die Überschrift “Melange”.) Ich machte mehrfach “HA!” und lachte laut auf, denn das war für mich bei meinem ersten Wien-Besuch auf den Spuren der Tante Jolesch die eine große Enttäuschung gewesen, die ich mich nie zu elaborieren traute, weil ich den Zorn der Wien-Götter fürchtete. Und jetzt:
Ich bin vor Corona in Wien ins Kaffeehaus gegangen, und ich werde es nach Corona tun. Es gibt viele Gründe, in Wien ins Kaffeehaus zu gehen. Keiner davon lautet: der Kaffee. Ich gehe so weit zu sagen, dass es wenige scheußlichere Getränke gibt als Kaffee in Wien. Das, was man in Form eines kleinen Braunen, einer Melange oder eines Einspänners bekommt, ist entweder sauer oder bitter oder abgestanden oder alles zugleich. Oder wie es die Wiener Autorin Andrea Maria Dusl nannte: »Bohnenseich«.
Ein weiterer anzumerkender Artikel: Dorothea Wagner schreibt darüber, dass ihr Mode immer erst gefällt, wenn sie schon am Verschwinden ist. Daran fiel mir das Absätzlein unterm Autorinnennamen auf:
Dorothea Wagner stellte vor Kurzem ihren Rekord auf, als sie am Morgen die Jeans ihres Freundes anzog, die Beine etwas hochkrempelte und zur Arbeit ging – fast zwölf Jahre nachdem die Boyfriend-Jeans zum Trend wurde.
Weil nämlich hier der Topos der charmant viel zu weiten Männerkleidung an einer Frau aufgegriffen wird, das nie schöner war als in der Kombi Doris Day – Rock Hudson. Und weil ich lange darunter litt, dass das bei mir nicht funktionierte, weil an mir Konfektionsgröße-42-Frau über 1,70 die Kleidung meiner Partner nie charmant zu groß aussah. (Ich leide schon lange nicht mehr, sondern habe den Topos als fiktiv erkannt: Die wenigsten Frauen sind so zierlich.)
Zum Nachtmahl gab es erst mal Artischocken mit Knoblauchmajo (Majo selbst gemacht). Während das Gestrüpp kochte, machte ich uns zur Feier des Wochenendes Cosmopolitans.
Nach den Artischocken gab es Pastetenresterl und den Käse.
Von links im Uhrzeigersinn: Gratte Paille, Langres (der noch nicht davonrennt), Vilstaler Schafskäse, Valedon (ein spanischer Ziegen-Schimmelkäse, der so rass ist, dass er zurückbeißt).
Dass ich am warm angekündigten Samstag nicht werde an der Isar joggen können ist derzeit einfach nur eins von vielen Dingen, dich ich nicht kann (neues Rad kaufen, Essengehen, mich mit Freundin treffen, Cocktailtrinken gehen, Schwimmen.)
§
Schlimme Dinge: Prof. Carl T. Bergstrom ist Biologe an der University of Washington und hat viele Jahre an epidemologischen Modellen geforscht. In einem bestürzenden Twitter-Thread schildert er den Beschuss, unter dem er gerade für das Äußern wissenschaftlicher Fakten und Zusammenhänge steht – und dass er den Faktor Politik und Missinformation in seinen bisherigen Modellen unterschätzt hat.
I’m sure that 99% of these are motivated by what we call tribal epistemology, the idea that truth is determined not so much by the facts as by the way that a claim aligns with the story that a preferred leader is telling.
(…)
For me, this is the heartbreaking part.
It turns out we’re not all in this together.
Jetzt kostet die Polarisierung der Gesellschaft in den USA hunderte Menschenleben.
die Kaltmamsell10 Kommentare zu „Journal Freitag, 27. März 2020 – Bits and Bobs aus dem Pandemiealltag“
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28. März 2020 um 9:11
Bergstrom: es ist nicht die Polarisierung, ich denke, framing matters.
Es ist einiges, zB die Wahl eines Präsidentendarstellers, der nicht versteht und nicht verstehen will, aber anscheinend Ängste und selbstsüchtiges Handeln bespielen kann.
Es ist eine Folge von Individualisierung bei fehlender Bildung, das Beharren auf dem eigenen Weltbild, die Kränkbarkeit, wenn man irrte, das unbedingte Ankämpfen gegen richtigere Sichtweisen…
Ja, es werden viele Menschen sterben. Es wird nicht mehr so sein wie vorher.
Ich frage mich, was wir lernen können, aus der Epidemie für die Lösung anderer globaler Probleme. Ich bin nicht optimistisch.
28. März 2020 um 11:48
Zitat Anfang
…ein spanischer Ziegen-Schimmelkäse, der so rass ist, dass er zurückbeißt…
Zitat Ende
Sehen Sie das riesige Fragezeichen über meinem Kopf?
Rass heißt soviel wie scharf? Oder eher bitter?
28. März 2020 um 12:30
Ich meinte das bayerische rass, Frau Irgendwas ist immer:
https://www.bayrisches-woerterbuch.de/rass-adj/
28. März 2020 um 12:35
Ich habe gerade in der neuen GEO gelesen, dass 10 bis 15% der Studenten in Harvard und Stanford Kreatinoisten sind (nach Prof. Rpbert Proctor), d.h. sie glauben, dass die Erde erst 5.000 Jahre alt ist und die Menschen und die Dinosaurer gleichzeitig auf der Erde waren. Und das von Studierenden von zwei Eliteuniversitäten!!!!!
Herzliche Grüsse und ein schönes Wochenende!
28. März 2020 um 13:02
Mit dem Kaffee in den Traditionskaffeehäusern verhält es sich wohl so, dass alle es wissen, aber elegant unter den Teppich kehren, weil das Ambiente so schön ist. Früher, als es nur Muttis Filterkaffee nach deutschem Röstverfahren daheim gab, war der Unterschied nicht so groß, man kannte nichts viel Anderes, Besseres, aber nun… ich hab in Wien in sämtlichen Kaffeehäusern immer nur den Maria Theresia getrunken, das war aber in den Nachmittagsstunden. Der Cointreau darin überdeckt den uninteressanten Mokkageschmack. Und die Sahnehaube ist schon sehr schön. Der Kaffee nach dem Aufstehen war in der Ferienwohnung selbst zubereitet. Wer wissen will, wie der “normale” Kaffee in Wien schmeckt, muss einfach nur in eine Eckkneipe in Deutschland gehen, wo noch so eine alte, verkalkte Filterkaffeemaschine vor sich hinröchelt, oder eine Veranstaltung, wo Kaffee in Thermoskannen serviert wird. Also später mal, wenn wir wieder raus dürfen.
28. März 2020 um 15:00
Ihr Abendessen sieht wirklich sehr lecker aus, ganz nach meinem Geschmack.
Wäre gerne mit einer Fl. Wein vorbei gekommen ;-).
Komme zur Zeit nicht in die Innensstadt/Viktualienmarkt.
Weiterhin alles Gute.
28. März 2020 um 21:30
Zum Thema Jugoslawien-Effekt: Schön, dass meine damalige Partnerin und ich nicht die einzigen waren, denen es so ging. Vor allem das Thema Bosnien ermüdete irgendwann. Schließlich fanden nicht jeden Tag neue dramatische Ereignisse statt. Oft gab die Nachrichtenlage nicht mehr her als “Der Chefunterhändler der Bosnien-Kontaktgruppe wird zur Stunde in Pale erwartet, wo er mit Vertretern der serbischen Teilrepublik über einen Truppenabzug aus der Provinz Sowienoch verhandelt.”
Im Vergleich dazu passiert in Sachen Corona derzeit so viel, dass man einen information overload riskiert, wenn man versucht, das alles ständig zu verfolgen.
28. März 2020 um 22:01
Ich kenne den Jugoslawieneffekt auch, liebe Kaltmamsell, es war so entmutigend und anstrengend, die Lage mitzuverfolgen. Im Moment empfinde ich es ähnlich, auch, weil wir mittendrin statt nur dabei sind und ich aus einer relativ privilegierten, abgesicherten Lage heraus sehe, wie links und rechts Unternehmen ums Überleben kämpfen, wie häusliche Gewalt ein noch größeres Problem wird und, last but not least, wie sich Krankenhäuser auf Fallzahlen jenseits von gut und böse vorbereiten.
Aber hilft ja nichts, wir müssen da jetzt einfach durch.
29. März 2020 um 0:15
Es könnte als Zeichen gewertet werden.
(“Kehret um!”)
2. April 2020 um 19:40
Gruesse von der Tante Jolesch