Archiv für März 2020

Journal Dienstag, 10. März 2020 – Verhalten in Zeiten von Corona

Mittwoch, 11. März 2020

Da ich eine Stunde später als sonst ins Bett gegangen war und mich immer wieder Schmerzen geweckt hatten, verzichtete ich auf frühes Aufstehen und Yoga und absolvierte nur das Pflichtprogramm in Form von Rumpfkräftigung und Schulterdehnen.

Nach sattestem Morgenrosa verdunkelte sich der Himmel, unter dem ich in die Arbeit radelte. Emsiges und vielfältiges Arbeiten, während es draußen immer stärker regnete. Mittags viel Radicchio und eine Breze. Nachmittags Nüsse und hochprozentige Schokolade.

Der Regen hielt sich hartnäckig stark. Ich ließ mein Fahrrad stehen und fuhr mit der (um diese Zeit immer Infektionsrisiko-arm spärlich besetzten) U-Bahn heim.

Ich blieb an den (Fach!)Informationen zu den Auswirkungen des Corona-Virus dran und dachte erstmals über Planänderung nach (nachdem ich schon lange Anweisungen zu Händewaschen und Entfernunghalten berücksicht hatte, das mit dem Niesen – ich niese viel – mache ich eh): Eigentlich hatte ich abends an einer Einführungsversanstaltung Qi Gong teilnehmen wollen (verschoben von Oktober), doch viel dringender will ich am Samstagabend auf eine Familienfeier – an der auch alte Menschen teilnehmen (selbst wenn sie sich selbst nicht so wahrnehmen). Und die möchte ich nicht als mögliche Infektionsquelle gefährden. Also nahm ich die Empfehlung ernst, jeden Menschenkontakt zu vermeiden, der vermeidbar ist: Ich blieb daheim – und rief statt dessen meine Eltern an, um, wie ich scherzte, zu überprüfen, ob auch sie brav daheim blieben. Zwar bekam ich zu hören, man lasse sich nicht! verrückt! machen! War aber beruhigt, dass auch dort Vernunft herrschte, also viel Händewaschen und Vermeiden von Menschenkontakt.

Herr Kaltmamsell machte uns Shakshuka und dazu Corn Bread.

Journal Montag, 9. März 2020 – Maya Angelou, I Know Why the Caged Bird Sings

Dienstag, 10. März 2020

Morgens startete ich eine neue Runde 30 Tage Yoga mit Adriene: Ich kramte die Serie von 2018 heraus, “True”. Dabei stellte ich gleich mal fest, dass Adriene hier deutlich aufgekratzter und energischer ist, vor allem im Tonfall; bei “Home” von 2020 spricht sie viel sanfter. So oder so funktionierte jede Bewegung rund um die Pose warrior ganz entschieden nur auf der nicht wehen Seite.

Es regnete. Deshalb und weil ich abends ohnehin mit Öffentlichen unteregs sein würde, kaufte ich eine Tageskarte und fuhr mit der U-Bahn in die Arbeit.

Im Büro Emsigkeit, unter anderem mit Menschen. Mittags eine große Portion Waldorf Salad vom Wochenende, nachmittags Quark mit Orange.

Auf dem Heimweg Supermarkteinkäufe, vor allem für die Brotzeit der nächsten Tage. Nach kurzem Aufenthalt zu Hause nahm ich mit Herrn Kaltmamsell eine Tram über die Isar zum Treffen unserer Leserunde, wegen zwei Erkältungsausfälle dezimiert.

Wir sprachen über Maya Angelou, I Know Why the Caged Bird Sings. Die Einschätzung von uns dreien, die diese Memoiren von Angelou über ihre Kindheit und Jugend überhaupt gelesen hatten, ging auseinander. Alle hatten wir dasselbe in ihrem 1969 veröffentlichten Buch gesehen: Dass die Schilderung sehr aufschlussreich war, wie sie und ihr Bruder in den 1930ern als Kleinkinder von den getrennten Eltern zur Großmutter nach Arkansas gebrachte werden. Die Großmutter führt einen Dorfladen, die schwarze Bevölkerung lebt so konsequent von der weißen getrennt, dass die Kinder mystische Vorstellungen vom Aussehen und Leben der Weißen haben. Die oft lebensbedrohliche Diskriminierung der Schwarzen zieht sich als roter Faden durch die Schilderungen, dominiert sie aber nicht. Maya und ihr Bruder leben dann wieder ein Zeit lang bei ihrer Mutter in St. Louis, dann wieder einige Jahre bei der Großmutter, bis sie zu ihrer Mutter ziehen, die inzwischen in San Francisco lebt.

Uns allen fiel auf, wie unterschiedlich die verschiedenen Erlebnisse erzählt werden, sprachlich und im Tempo. Während Angelou zum Beispiel einen Gottesdienst auf dem Land extrem ausführlich schildert, Seite um Seite die Teilnehmenden und die Geschehnisse beschreibt, werden so lebensentscheidende Phasen wie der Monat, den sie mit 16/17 auf einem Schrottplatz lebt, in wenigen Sätzen wegerzählt. Doch während ich das anregend und interessant fand, weil mir der Mensch hinter diesem Leben dadurch näher kam, sahen andere in unserer Leserunde das als Makel.

Mir war erst im Lauf der Lektüre klar geworden, dass es sich nicht um einen Roman handelte, sondern um Memoiren, das hatte mein Leseerlebnis verändert. Allerdings fällt es mir genau deshalb schwer, I Know Why the Caged Bird Sings literarisch einzuordnen: Ich sehe es als Zeitzeugnis US-amerikanischer Geschichte, als historische Quelle. Die habe ich aber sehr gern gelesen.

§

Isaac Chotiner unterhält sich für den New Yorker mit Frank M. Snowden, “professor emeritus of history and the history of medicine at Yale”, der die historischen Zusammenhänge zwischen Epidemien und Gesellschaft untersucht hat. Darunter auch überraschende positive Auswirkungen schlimmer Krankheitsasbrüche.
“How Pandemics Change History”.

via @Hystri_cidae

Journal Sonntag, 8. März 2020 – Sonnige Kälte, Schwimmen, Marieluise Fleißers Erzählungen

Montag, 9. März 2020

Herrlich lange und (bis auf Anfangsschmerzen) gut geschlafen. Dennoch war ich recht früh startklar für meine Schwimmrunde, die Sonne draußen versprache eine schöne Radlfahrt.

Ich hatte ja gehofft, dass die Menschen, die aus irrationalen Ängsten Wäschedesinfektion horten, auch Angst vor Schwimmbädern haben – aber es gibt wohl keine Schnittmenge zwischen Wäschevirenängstlichen und Sportschwimmerinnen: Das Becken war gut besucht. Ich konnte dennoch recht ungestört meine Bahnen ziehen, ließ es bei 2.500 Metern bewenden.

Im Anschluss fand ich live heraus, dass spanischsprachige Eltern auch 2019 ihre Töchter Maria de la soledad (Maria von der Einsamkeit) nennen, mit der Folge, dass gestern welche nach einer ganz kleinen Tochter mit einem übersetzt herzhaften “Einsamkeit! Komm endlich!” riefen (“¡Soldedad! ¡Ven!”). Tatsächlich tue ich nur so, also rollte ich darüber die Augen (wahrscheinlich gibt es also auch immer noch kleine “Lass das, Empfängnis!” – Concepción/Conche/Conchita – und “Langsam, Unbefleckte!” – Imaculada): Ich finde es immer herzerfrischend, in Europa hartnäckige regionale kulturelle Exzentrik zu erleben; in Spanien gehören für mich auch die unverändert meschuggenen Essenszeiten dazu. (Gleichzeitig bin ich sehr froh, dass meine Eltern mir einen anderen spanischen Namen gegeben haben, komplett ohne irgendeine Maria.)

Auf dem Heimweg Semmeln besorgt, daheim mit Waldorf Salad gefrühstückt.

Da andere Münchnerinnen ihre Briefwahlunterlagen schon haben, wurde ich misstrauisch: Als ich meine am Faschingswochenende beantragt hatte, bekam ich nämlich keine Bestätigung – weder auf dem Bildschirm noch als E-Mail. Da ich allerdings auch keine Fehlermeldung bekam, machte ich mir keine weiteren Gedanken. Bis in den vergangenen Tagen, jetzt hätte ich die Unterlagen nämlich erwartet. Ich startete also nochmal eine Online-Bestellung (die Wahlbenachrichtigung bietet dafür einen QR-Code) – und diesmal kam die Bestätigung.

Das Wetter blieb strahlend unter knallblauem Himmel – der allerdings eine Wärme versprach, die die Temperaturen keineswegs einhielten. Mehrfach trat ich hinaus auf den sonnigen Balkon – um wenige Augenblicke später ins warme Wohnzimmer zu fliehen und die Balkontür energisch zu schließen. Lügensonne!

Aber die Hasenglöcken wuchsen auch in der Kälte.

SZ-Magazin vom Freitag gelesen, Banane und Orange mit Joghurt zum Nachmittagssnack.

Marieluise Fleißer, Erzählungen ausgelesen. Sie haben mich mitgenommen, diese bitteren Geschichten, fast alle aus dem eigenen Leben. Die frühesten spielen kurz nach dem Ersten Weltkrieg, die letzten in den 1950ern. Alle sind sie sehr ingolstädterisch, nicht nur durch die Ortsmarken: Ich kenne diese kleinen, erbärmlichen Leute, meine polnische Großmutter lebte in dieser Gesellschaft.

Es sind Wörter wie Knochen, die Fleißer für ihre Texte verwendet, in diesen Erzählungen wie in ihren Dramen. Ein verhochdeutschtes Oberbayerisch, mal aus der Perspektive des Mädels oder der jungen Frau, aber auch mal aus der Perspektive des Burschen. Starrsinnig und selbstsüchtig sind sie allesamt, jeder und jede ums eigene Überleben besorgt. Es gibt kein Erbarmen, keine Gemeinschaft, keine Wärme, keine Leichtigkeit. Was Wunder, dass Fleißer in Ingolstadt als Nestbeschmutzerin galt.

Aus “Ein Pfund Orangen” – wie so viele von Fleißers Erzählungen eine unglückliche Liebesgeschichte:

Wenn sie ihm ins Gesicht sah, konnte sie es ihm schon nicht mehr verdenken, eine solche Gewalt hatte er über sie, und dann war es herrlich, daß es auf der Welt so viel Zeit gab. Doch wenn sie allein war, gab es wieder zu viel Zeit. Je länger sie ihn kannte, desto öfter war sie auf einmal wieder allein. Da sah man, daß ihr das gar nie hätte passieren dürfen, denn dann kam es in ihr herauf. Jeden Tag tat sie sich was anderes an, ganz was Schlechtes, und ihre Gedanken stießen sie nur so hinab, sie konnte kein gutes Haar an sich lassen. Mit versagendem Bick sah sie in die Jahre hinein, die vor ihr lagen, und wurde wirr und irr daran wie an einem vorwurfsvollen Schweigen.

Zwei lange Geschichten erzählen wichtige Phasen in Fleißers Leben: “Avantgarde” die Zeit mit Bertold Brecht, “Der Rauch” das Ende des Zweiten Weltkriegs, als sie versuchte, in Bombenhagel und Besatzung die Ware ihres Mannes zu retten, des Tabakhändlers, der noch an die Front geschafft worden war. Da kommen zur Bitternis noch das Elend und die Ausweglosigkeit.

Über allem liegt ein Bild, dass Marieluise Fleißer erst spät aufgeschrieben hat, erst in ihrem Theaterstück von 1950 Der starke Stamm, in einem Monolog der Balbina:

Und ist doch so, daß du die Tür aufreißen möchtst und so viel Verlangen hast in dir drin, daß dir Flügel herauswachsen müßten aus dem, was die anderen anschaun für deinen Buckel, wenn eins bloß Augen dafür hätt und hätt an dich noch einen Glauben. Aber das gibt’s ja net auf der beschissenen Welt. Was dich beißt, sind nicht deine Flügel, wo herausstoßen mit aller Gewalt, das bleibt ewig dein Buckel.

Herr Kaltmamsell stand wieder stundenlang in der Küche fürs Nachtmahl: Sauerkraut und Kartoffelpü aus Ernteanteil, Bratwürst dazu, außerdem hatte er onion gravy als Soße ausprobiert. Alles ganz ausgezeichnet.

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SZ-Magazin online: Zwei junge Filmemacherinnen verarbeiten in einem Projekt Vorurteile über Geflüchtete. Dazu legen sie den Betroffenen fremdenfeindliche Aussagen in den Mund, die sie zuvor auf der Straße gesammelt haben.
“Meinungsaustausch”.

Journal Samstag, 7. März 2020 – Wiederbegegnung mit dem Crosstrainer

Sonntag, 8. März 2020

Ausgeschlafen, aber mit Kopfweh aufgewacht. Eine Paracetamol half nicht, nach einer Stunde die zweite zum Glück schon. Es war mir aber nach dem Verbloggen des Vortags eh zu spät für die geplante Schwimmrunde geworden, ich plante um: Nach langem mal wieder Crosstrainerstrampeln – und es ging problemlos! Ich zwang mich dennoch nach 40 Minuten zum Aufhören, genoss es aber so sehr, mal wieder den Puls hochzubringen und zu schwitzen. Davor hatte ich brav meine Rumpfübungen absolviert, ich bemerke Fortschritt.

Nach Duschen und Anziehen eine Einkaufsrunde im kalten, gemischtwolkigen Wetter mit gelegentlichen Regenduschen. Im Drogeriemarkt passierte ich das Klopapierregal: Es waren tatsächlich einige Sorten ausverkauft, ein Zettel der Firma am Regal mit beruhigenden Worten. Auch vom Wäschedesinfektionsmittel gab nur noch wenige Flaschen einer Sorte. Ich war überrascht, bis mir einfiel, dass irrationale Sorgen bestimmte Menschen vermutlich zu allem greifen ließen, auf dem “Desinfektion” steht. (In meinem Fall ist es der Fungus versicolor, ein harmloser Hautpilz, den ich damit seit Jahren erfolgreich in Schach halte. – Möglicherweise, denn ich kann nicht sicher sein, dass die konsequente Verwendung der fungiziden Wäschespülung und das Ausbleiben der Hautflecken ursächlich zusammenhängen.)

Ich kam mit Semmeln heim und frühstückte. Internet- und Zeitunglesen, nachmittags kochte ich für den abendlichen Nachtisch Schokoladenpudding mit Schokolade drin. Kurz vor dem Servieren mischte ich geschlagene Sahne unter.

Herr Kaltmamsell wiederum bereitete aus dem mächtigen Ernteanteil-Sellerie das Nachtmahl:

Die Sellerieschnitzel hatten eine Panade mit Tahini, Senf und Sesam bekommen – ausgezeichnet. Eigentlich hätte es die Soßen dazu gar nicht gebraucht, aber auch der Schnittlauchquark schmeckte köstlich. Die anderen Selleriehälfte wurde Waldorf-Salat.

Abendunterhaltung war Staatsanwälte küsst man nicht im Fernsehen, ist ja ein Klassiker, wollte ich nachholen. Und war arg enttäuscht: Eine derart an den Haaren herbeigezogene Handlung, ihre komödiantische Seite platt und stereotyp, niemand durfte schauspielerisches Können zeigen. Da hatten die 80er wirklich Besseres zu bieten (z.B. Working Girl, einer meiner Lieblingsfilme).

§

Es gibt weitere wirklich beunruhigende Seiten der Coronavirus-Verbreitung:
“How Facebook turned into a coronavirus conspiracy hellhole”.
Facebook ist eine Brutstätte für Coronavirus-Verschwörungstheorien geworden.

This overlap between conspiracy theories is to be expected, says Adam Kucharski, an epidemiologist and the author of The Rules of Contagion: Why Things Spread – and Why They Stop. “The best predictor that I’ve found of people believing in conspiracy theories is that they have a worldview in which events and circumstances are caused by shadowy groups acting in secret for their own benefit and against the common good,” he says. “So every new event or circumstance that they see, they’re likely to go to that same explanation – it must be caused by a conspiracy.”

So weit, so erwartbar. Gefährlich wird das ganze, wenn falsche und sogar schädliche Tipps für Schutzmaßnahmen verbreitet werden – weil die von offizieller Stelle ja doch nur… Verzeihung, mir fehlt die spezielle Verschwörungstheoretiker-Fantasie.

Journal Freitag, 6. März 2020 – Angematscher aber schöner Abend im Broeding

Samstag, 7. März 2020

Frisch und munter aufgestanden, als Morgenbewegung nur ärztlich verordnete Kräftigung und Schulterdehnen. Auch die Radfahrt in die Arbeit genoss ich.

Doch schon am Vormittag wurde ich bleiern müde und gleichzeitig innerlich hibbelig – ich sah das als Nachwirkung der Migräne. Zum Glück gab es genug Arbeit, um mich abzulenken.

Mittags eingeweichtes Birchermüesli von Daheim mit Joghurt, Nüssen und einen Ernteanteil-Apfel, nachmittags eine mächtige Orange.

Auf dem Heimweg Abstecher zum Vollcorner für Obsteinkäufe. Daheim nur eine kleine Runde Ausruhen, dann ging ich mit Herrn Kaltmamsell aus: Wir lösten unseren Rosenfestgeschenkgutschein im Broeding ein.

Wir waren noch am Anfang unseres Menüs, als ein junger Koch aus der Küche kam und den Gästen stolz den Hauptgang im Ganzen zeigte: ein mächtiges Entrecôte an vielen Knochen, rundum dunkelröstig und verlockend glänzend.

Auch diesmal ließen wir uns mit Wein begleiten. Somelier Matthias Hegele schenkte uns jeweils erst ein und ließ uns in Ruhe probieren, bevor er mit der Flasche kam und uns etwas zum Wein im Glas erzählte.

Den Apertif hielten wir alkoholfrei mit einem Tokyo Mint Fizz, als Gruß aus der Küche gab es Garnelenschwänze in würziger Sulz mit Finger-Limes – ganz ausgezeichnet.

Der erste Gang des Menüs war mein Liebling des Abends: Saibling vom Schwebelbach mit Erbsen, Eigelb und Nussbutter. Die pürierten Erbsen schmeckten ganz intensiv, erdrückten aber nicht den Sous-vide gegarten Saibling, das Eigelb dazu war eine großartige Idee. Der Wein dazu – eine Überraschung und ein Erlebnis: Das Dunkelgoldene im Glas, nahezu säurefrei und mit einer Wermuthnote, war ein gereifter Grüner Veltliner aus dem Kremstal, von Sepp Moser und aus dem Jahr 2007. Genau deshalb mag ich ernsthafte Weinbegleitung: Weil ich so zu Geschmackserfahrungen komme, die ich als Weinlaie nie allein machen könnte.

An der winterlichen Minestrone mit Kerbel und Parmesan mochte ich am liebsten das frische Kerbelpesto, von dem ich gerne nachgefasst hätte. Die Weinbegleitung kam ungewöhnlicherweise aus Italien (es gibt im Broeding eigentlich nur Österreichisches), ein herrlich spritziger Soave Corte Sant’Alda 2018.

Herzhaft winterlich dann der Mangalitza Raviolo mit roten Linsen und Grünkohl – besonders die Kombination Linsen und Grünkohl gefiel mir, daraus möchte ich mal einen Eintopf basteln. Wieder ein ungewöhnlicher Wein dazu: Der Lichtenberger González Rot und Weiß 2018 aus dem Burgenland wurde aus Blaufränkisch und Gemischten Satz (weiß) hergestellt. Kühl serviert hatte er genug Frische zum Herzhaften.

Nun nicht mehr am Stück, sondern aufgeschnitten: Trocken gereiftes Entrecôte mit Perlzwiebeln, Pastinaken und Rotweinjus. Vor allem das süßliche Pastinakenpüree gefiel mir (aber ich finde Gemüseküche ja immer den interessanteren Teil gehobenen Essens). Im Glas ein als “echter Rotwein” angekündigter Blaufränkisch von Uwe Schiefer aus dem Burgenland, schön edel und rund (sehenswerte Website, wie so viele Winzerwebsites).

Zum ersten Mal in unserer Broeding-Geschichte ließen wir den Käse aus: Zwar war ich diesmal die matschigere am Tisch, aber das so sehr, dass ich schon den Hauptgang nicht ganz geschafft hatte. (Es entspann sich ein Gespräch darüber, warum ich mir Sorgen über schwindende geistige oder körperliche Fertigkeiten mache, Herr Kaltmamsell aber nicht: weil die Möglichkeit zum geistigen oder sinnlichen Genuss mir das Leben erst erträglich macht, während der Herr an meiner Seite schon aus der schieren Existenz Vergnügen zieht. Das an ihm zu sehen, gehört dann wieder zu den Erlebnissen, die mir das Dasein versüßen.)

Einstimmung aufs Dessert waren diese beiden Löffel mit weißer Schokoladencreme, Quitte, Pistazie – köstlich.

Wunderbares Hauptdessert: Pandanus-Parfait mit Ananas, Passionsfrucht und Zitronengras. Pandanus ist, wie ich erst jetzt herausfinde, eine Palmenart, das Parfait daraus war köstlich duftig (könnte sich auch als Kosmetik-Duft eignen), ich genoss den Teller sehr. Dazu ein Kracher-Süßwein (WORTSPIEL!): Oloroso-farben im Glas ein Kracher Nouvelle Vague 1999 Nr. 3, der sich vor Aromen in Geruch und Geschmack schier überschlug. Süßwein macht immer wieder, was nur Süßwein kann.

U-Bahn-Heimweg und schnell ins Bett.

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Ein Aspekt der Informationen zum Coronavirus, über den ich nur in englischsprachigen Medien stolperte (was nicht heißt, dass er in deutschen Medien nicht auftaucht): Die Unterscheidung zwischen individuellem Risiko und Gefahren fürs System.
“How Worried Should You Be About the Coronavirus?”

Kurzfassung in meinen (!) Worten: Das individuelle Risiko ist gering – selbst sollte man sich infizieren, ist es wahrscheinlicher, dass man nichts davon merkt, als eine schwere Erkrankung, die einen Krankenhausaufenthalt erfordert. Eine Erkrankung an Grippe ist deutlich gefährlicher.
Doch die überraschend schnelle Verbreitung des Virus überfordert das Gesundheitssystem – anders als die jährliche Grippewelle – und hat massive Auswirkungen auf Wirtschaft und Gesellschaft. Systemisches Risiko also sehr hoch.

§

Langer Artikel im Guardian über einen Obdachlosen, der sich im Park Hampstead Heath eine Untergrundbehausung baute. An diesem Beispiel wird erzählt, wie weitreichend und vielfältig Obdachlosigkeit in Großbritannien mittlerweile geworden ist: Der Barista, der Ihnen in einem Londoner Café den Cappuccino serviert, hat vielleicht kein wirkliches Zuhause, sondern schlägt sich seit Jahren mit Übernachtungen auf Sofas von Bekannten oder im Sommer in Parks durch.
“The invisible city: how a homeless man built a life underground”.

He had a few thousand put away in the bank, and he could still take on handyman work, putting up shelves and assembling flatpack furniture for £20 or £30 a gig, often arranging these one-off jobs through an app on his phone. Knocked, tired, but still with a Crusoe spirit that never really left him, Van Allen bought good boots and a good tent and moved his life outdoors. Like a lot of people who drift into homelessness, the knack came piecemeal. Van Allen shaved his hair to a grade one, for easy cleaning with soap. He got to know which swimming pools had the cheapest one-off entry fees for showering; which drop-in centres let you use their address for post. He bought underwear and T-shirts in bulk, cheaply, online, so that these could be discarded if necessary – “crash and trash”, he called this. He became a regular at a Catholic church where they cooked a daily breakfast for the homeless.

§

Bundespräsident Steinmeier punktet mit einem unerwarteten Redeeinstieg beim Empfang für den Frauenrat anlässlich des Weltfrauentags. (Nicht die Kommentare lesen.) Es reicht ja nicht, gute Redenschreiberinnen und -schreiber zu haben – man muss sie auch lassen.

Journal Donnerstag, 5. März 2020 – #WMDEDGT

Freitag, 6. März 2020

Kein gutes Zeichen, dass ich mich diesmal wieder am 5. des Monats an Frau Brüllens “Was machst du eigentlich den ganzen Tag? – WMDEDGT”-Tagebuchbloggen beteiligen kann: Der Tag war arbeitsfern und dadurch von früh bis spät verblogbar, weil mich die Migräne erwischt hatte. Es erwartet Sie also ein vor Highlightglitzern geradezu blendend spannender Text.

Die Nacht war mittelunruhig gewesen, weil mich ab halb fünf immer stärkere Kopfschmerzen vom Schlaf abhielten. Beim Weckerklingeln um halb sechs stand ich zwar auf und machte Milchkaffee, doch als ich Herrn Kaltmamsell meine Beschwerden klagte, er fragte, ob es denn Migräne sei und ich antwortete: “Weiß nicht.” – wies er mich darauf hin: “Dann ist es immer Migräne.” Womit er recht hatte, das ist tatsächlich erfahrungsgemäß so. Ich schickte also eine Krankmeldung in die Arbeit und legte mich wieder ins Bett. Kurz darauf bemerkte ich auch schon die beweiskräftige Übelkeit und wendete mein Triptan-Spray an.

Nächstes Aufwachen gegen elf mit post-migränaler Benommenheit. Und wieder die inzwischen vertrauten Begleiterscheinungen: Alle Vorhaben für den Tag (u.a. mal wieder Crosstrainer probieren) lösten sich in ein hilfloses “Geht nicht” auf, ein Blick in die Arbeits-E-Mails bewirkte lediglich große Wurschtigkeit. Die große Migräne-Egalness.

Blogpost fertig gemacht und gepostet, Twitter hinterher gelesen. Einen Pulli mit Wollwaschprogramm gewaschen. Den Geräuschen des Draußen nachgelauscht, die werktags so ganz anders sind als am Wochenende. Wetter gestern durchwachsen, mal Regen, mal keiner. Gegen eins kam Herr Kaltmamsell aus der Schule.

Die Schuh-Story: E-Mail des Absenders, dass ich über die misslungene Zustellung benachrichtigt worden sei, das Paket nicht abgeholt hätte und sie nur aus Kulanz das Paket nochmal auf eigene Kosten losschicken. Nun war ich doch beleidigt (Migräne-dünnhäutig sogar verletzt), denn das stimmte halt nicht – ich war nicht benachrichtigt worden und hatte ihnen genau das geschrieben.

Um eins war ich langsam duschbereit. Erst mal kochte ich mir zum Frühstück Porridge und filetierte eine Grapefruit. Nach dem Duschen, Haarewaschen, Cremen, Haarefönen, Anziehen war das Porridge auf Esstemperatur abgekühlt, ich aß es mit Grapefruit und Joghurt, gesüßt mit etwas Orangenmarmelade und Ahornsirup.

Stundenlang rumgesessen und mich schwach und deppert gefühlt. Dabei gelesen, erst Internet, dann Zeitung, dann wieder Internet. Dazwischen Geschirrspülmaschine ausgeräumt, festgestellt, dass auch die Mittwochslottoziehung mich nicht zur Millionärin gemacht hat.

Schon um fünf sah das Bett eigentlich wieder verlockend aus. Ich folgte seinem Sirenenruf nicht, um guten Nachtschlaf zu ermöglichen.

Zum Nachtmahl briet ich mir (Herr Kaltmamsell war aushäusig auf musikalischen Wegen) rote Paprika und Karotte mit Knoblauch, würfelte Manouri hinein – Sie werden die Frugalität meiner Bürobrotzeiten wiedererkennen, lediglich einmal über einen Herd gegangen und mit Hitze sowie den damit ermöglichten Anreicherungen erweitert. Dazu Posteleinsalat aus eben abgeholtem Ernteanteil. Nachtmahl abgerundet durch mittelgroße Mengen Schokolade mit Nüssen (Erd- und Hasel-, Macadamia).

Insgesamt hatte ich gestern sehr viel Zeit für Internetlesen und -gucken.

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Maximilian Buddenbohm versucht sich an einem Wort zum Mittwoch und trifft damit ins Schwarze: Er beschreibt den Gedankengang, der die Opfer einer Missetat zu den eigentlich Schuldigen macht.
“Abel hat angefangen”.

Und da hat Kain sich eben aufgeregt, denn dass das furchtbar ungerecht war, das wollte er doch noch sagen dürfen.

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Fragmente hat mit Novemberregen einen Blog-Pakt geschlossen: Einmal die Woche lässt sich Fragmente von Novemberregen zum Bloggen zwingen. Zwei sehr schöne Texte sind bereits dabei herausgekommen:
“Ein anderes Selbst”.
“die Sache mit dem Igel”.

Wobei es auch unterhaltsam ist, die Novemerregen-Seite des Pakts zu lesen, zum Beispiel den Text vom Mittwoch:
“Mittwoch, 4. März 2020”.

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Self-declared “one woman axis of evil with the voice of Mary Poppins”: Ella Al-Shamahi ist britische Archäologin (Paläoanthropologin) und Komikerin. Hier das Ergebnis von 2016.
“Fossil Hunting in the Yemen: Archaeologists Without Borders”.

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https://youtu.be/0E-jN5r0bRk

Leider ging’s ja nicht besser weiter im Jemen – aber 2019 berichtet Al-Shamahi über eine erfolgreiche Expedition als Plädoyer für wissenschaftliche Recherche in politisch instabilen Regionen.

Journal Mittwoch, 4. März 2020 – Abend im Mariandl und Emma-Vorfreude

Donnerstag, 5. März 2020

Noch ein bisschen früher aufgestanden, weil die Yogarunde, die die 30 Tage Home abschließen würde, deutlich länger dauerte. Die Überraschung dabei: Adriene machte keine Ansagen, sondern forderte dazu auf, einfach selbst zu erfinden (“Find What Feels Good”). Als totale Anfängerin brauchte ich natürlich dennoch eine führende Hand und machte nach, was sie vormachte – allerdings deutlich gelassener als beim Befolgen ihrer gesprochenen Anleitungen und auch mal mit Lücken, wenn mir eine Position gerade besonders gut tat und ich darin verharren wollte. Intensität und Dauer führten dazu, dass ich ordentlich ins Schwitzen kam.

Radeln zum Büro, in den nassen Straßen und Wegen spiegelten sich Flecken blauen Himmels.

Kleine Glücksmomente: Drei Geschoße Treppensteigen ohne Festhalten (und ohne Jaulen). War aber ein einmaliges Vergnügen, kurz drauf ging’s schon wieder nicht mehr.

Corona-Moment: Die Hannover Messe wird auf Juli verschoben.

Zum Mittagessen schnippelte ich mir Radicchiosalat, machte ihn mit daheim vorbereitetem Dressing an und aß ihn mit etwas Brot, danach eine Banane. Nachmittagssnack eine Grapefruit und eine Orange.

Auf dem Heimweg kurzer Drogerie-Abstecher zum Auffüllen meiner Magnesium-Zink-Vorräte, daheim wartete ich, bis Herr Kaltmamsell ein Ankunftssignal aus dem Zug sendete: Wir waren im Mariandl zum Abendessen verabredet.

Der Herr aß Lagagnette mit Tomaten und Frühlingszwiebeln, ich bekam Serviettenknödel mit Rahmschwammerl (neben Kässpatzen das zweite typisch bayerische vegetarische Wirtshausgericht), dazu dunkles Bier. Wieder angenehm auffallend: der herzliche Service im Lokal.

Neues vom Schuhversand: Nachdem GLS mir am Telefon nur bescheiden konnte, dass das Paket auf dem Weg zurück zum Absender sei, schrieb ich eine weitere “So sorry to be so much bother”-Mail an den Absender.

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Ein Angestellter der Müllabfuhr erklärt in einem Twitter-Thread, warum Müllfahrzeuge so scheinbar blöd in der Straße stehen – und plädiert für Kooperation.

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Ein Mensch aus Wuhan beschreibt, wie es sich dort derzeit lebt – und warum sich in diesem Fall die Vorstellung “Na ja, eine Diktatur kriegt wenigstens stramm was organisiert” als Illusion erwies:
“Personal Essay: Coronavirus Lockdown Is A ‘Living Hell'”.

§

Andrea Diener hat die aktuelle Neuverfilmung von Emma gesehen und bespricht sie in Video und Text für die FAZ:
“Sie hat es nicht nötig, uns zu gefallen”.

Jane Austen schrieb über ihren Roman: “I am going to take a heroine whom no one but myself will much like”. Der Film klingt, als habe er das berücksichtigt.

Ich kann mich noch gut an meine erste Lektüre von Emma erinnern; der Roman gehörte zu den ersten Büchern überhaupt, die ich in meinem Studium auf Englisch las, ich tat mich arg schwer – und dann war die Protagonistin auch noch eine blöde Ziege! Es spricht viel für den hinterfotzigen Humor von Jane Austen, dass ich den Roman dennoch zu lieben lernte und sehr bald großer Austen-Fan wurde.

Nun kann man Austen brav wegverfilmen, dann bekommt man eine nette romantische Komödie. Autumn de Wilde macht aber alles ganz anders. Und zwar so anders, dass man zunächst ins Zweifeln kommt, ob das gutgehen kann.

(…)

Und Emma? Die bisherigen Verfilmungen geben sich meist große Mühe, die Hauptfigur etwas zu entschärfen, weil man romantische Komödien ja ungern mit einer nur mittelsympathischen Protagonistin besetzt – die Zuschauerin soll sich ja bitte identifizieren. De Wildes Emma hingegen will ihrem Publikum nicht gefallen. Sie ist ein verzogenes Produkt ihrer sozialen Schicht, das Empathie erst mühsam lernen muss – ein Problem, das in eben jener sozialen Schicht in England bis heute anzudauern scheint.

Das klingt ganz, ganz großartig, ist fürs nächste Wochenende eingemerkt.

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https://youtu.be/qsOwj0PR5Sk