Journal Donnerstag, 2. April 2020 – Sportvergrämer, Kirschblüte, Coronazukunft
Freitag, 3. April 2020Gestern war (nach gutem Schlaf) wieder Yoga dran. Und da hat mir Adriene leider doch ein bissl das Kraut ausgeschüttet: “toning” und “losing weight” (auffallenderweise jetzt ohne jegliches “whatever that means to you”) will ich als Ziel eigentlich in überhaupt keiner Sportanleitung hören, und schon gar nicht im sonst so introspektiven Yoga. 1. Bin ich ein Drucker? 2. WHAT? THE? FUCK? Zumal ich ganz sicher nicht die einzige bin, für die zweiteres nah am Trigger ist. Vielleicht brauche ich erst mal Pause von Adriene. (Tony Britts statt dessen?)
Herr Kaltmamsell beklagte sich, er habe den “Kopf nicht frei” zum Lesen. Ich war erschüttert, denn gerade wenn man zu viel im Kopf hat, bedeutet für die leidenschaftliche Leserin doch ein Buch (in welcher Medienform auch immer) Ausruhen, Urlaub, Fluchthöhle. Bevor ich befürchten konnte, mein Lebensgefährte und ich hätten uns in einem fundamentalen Aspekt auseinandergelebt, fragte ich nach, und: Ja, das passiert ihm zum ersten Mal im Leben.
Sonniger Radlweg in die Arbeit, in der Arbeit weitere Emsigkeit, allerdings nicht mehr so zerstückelt. Mittags eine rote Paprika mit Vilstaler Schafskäse und das Restl spanischen Cabrales mit einer Birne (die es dazu braucht, um die brutale Schärfe zu dämpfen). Nachmittags weitere Birnen. Dass ich die Urlaubstage Freitag und Montag trotz ausgefallenem Familienausflug nehmen würde, hatte dann doch mehr Herumschieben und Information zur Folge.
Auf dem Heimweg radelte ich am Edeka im Schwanthalerforum vorbei, der mir als besonders leer berichtet worden war: Ich brauchte unter anderem Vanillinzucker (für einige Speisen halte ich an dem künstlichen Geschmack fest), den gibt es nicht im Biosupermarkt. Und ich gönnte mir die ersten Tulpen der Saison – die ich sonst ganz sicher nicht im Supermarkt kaufen würde, doch die Blumenläden sind ja geschlossen.
Auf dem Heimweg fotografierte ich endlich meine Referenzkirschbäume, die ihre Blüte begonnen haben.
(Für die Chronik: Am Mittwoch hatte ich bei St. Paul die ersten Schlüsselblumen gesehen.)
Daheim telefonierte ich erst mal mit meiner Mutter: Alles in Ordnung, noch fühlen sich ihre Tage mit Ausschlafen und Sich-treiben-lassen ohne Termine wie Ferien an.
Herr Kaltmamsell probierte zum Nachtmahl Pad Thai aus. Ich machte als Aperitif Pink Gin & Tonic.
(Das Weiße ist Seidentofu.) Schmeckte mir sehr gut, lediglich hatten die Nudel noch zu viel Biss.
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Was mir am allerschnellsten in dieser Pandemie klar wurde: Auf Bauchgefühl kann ich gar nichts geben. Unsere Instinkte wurden mit keinerlei Erfahrung gefüttert, die man jetzt heranziehen kann. Das war der Moment, ab dem ich versuchte, alle relevanten Entscheidungen über Vernunft laufen zu lassen. Die Chemikerin und Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim (Glückwunsch zum kleinen Freund der Sonne!) kalkuliert den weiteren Verlauf der COVID-19-Pandemie nüchtern auf der Basis von Expertenzahlen durch, abgewogen und Vernunft-basiert. Das Resultat ist – scheiße. Je nach Modellierung in verschiedenen Tiefen und Farben. Nein, so schnell werden wir nicht zu irgendeinem Leben prä-Corona zurückkehren.
Dringende Guck-Empfehlung.
https://youtu.be/3z0gnXgK8Do
Wie meinte Kurt Kister in seinem jüngsten SZ-Abonnenten-Newsletter?
Ich lese gerne Geschichtsbücher, möchte aber mit meinen Erlebnissen darin eigentlich nicht vorkommen.
Da ich es nicht fertigbringe, mich den Ergebnissen der optimistischen Modellierungsvariante anzuschließen (weil: Menschen!), bedeutet das für mich konkret: Das neue Hüftgelenk muss ich realistischerweise bis weit ins nächste Jahr schieben.
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Geht zwar in erster Linie vom US-amerikanischen Markt aus, ist aber trotzdem interessant:
“What Everyone’s Getting Wrong About the Toilet Paper Shortage”.
There’s another, entirely logical explanation for why stores have run out of toilet paper — one that has gone oddly overlooked in the vast majority of media coverage. It has nothing to do with psychology and everything to do with supply chains. It helps to explain why stores are still having trouble keeping it in stock, weeks after they started limiting how many a customer could purchase.
In short, the toilet paper industry is split into two, largely separate markets: commercial and consumer. The pandemic has shifted the lion’s share of demand to the latter. People actually do need to buy significantly more toilet paper during the pandemic — not because they’re making more trips to the bathroom, but because they’re making more of them at home.
Kurzfassung: Die Löcher in den Regalen der Supermärkte (und bitte daran denken: die nicht entfernt von einem existenziellen Mangel zeugen) sind nicht (allein) durch hirnlos hamsternde Käuferinnen und Käufer erzeugt – sondern durch die Verschiebung des Komsumorts. Das Klopapier und die Tomatendosen, die sonst in Schulen, Büros und Kantinen verwendet wurden, werden jetzt in Privathaushalten benötigt – die aber durch komplett andere Lieferketten und im Fall von Klopapier sogar andere Produzenten versorgt werden. Es braucht noch ein Weilchen, bis die Anbieter sich auf das sehr schnell veränderte Szenario eingestellt haben.