Journal Freitag, 5. Juni 2020 – Weggearbeitet
Samstag, 6. Juni 2020 um 7:35Zu Regen aufgewacht, doch als ich nach meiner halben Stunde auf dem Crosstrainer und Körperflege das Haus verließ, brauchte ich keinen Schirm mehr.
Mit der U-Bahn in die Arbeit.
Sie kennen das? Wenn die Gelderwerbsarbeit Sie so belastet, dass Ihnen eine potenziell lebensbedrohliche Erkrankung als verlockende Alternative erscheint?
(Nein, antworten Sie nicht: Ihnen fehlt sehr wahrscheinlich die Grundlage, ohnehin nicht gerne zu leben und auf Lebenserträglichkeit angewiesen zu sein.)
Konzentriert und strukturiert eine Menge weggearbeitet, erleichtert durch Wegfall von Anrufen (in den Tagen davor musste ich mich auf bis zu 30 Anruferinnen und Anrufer einstellen, die auf fünf verschiedenen Leitungen bei mir ankamen) und eine schön leere Büroetage.
Mittags Quark und Kefir mit Pfirsich, nachmittags selbst gebackenes Butterbrot. Nachdem ich die wirklich unangenehmen Aufgaben weggearbeitet hatte, war auch meine Konzentration weg: Für die letzten Jobs brauchte ich ewig.
Trockenes Heimradeln durch kühle Luft unter grauem Himmel. So soll das Wetter laut Vorhersage erst mal eine Weile bleiben, schade (zumal nicht von nützlichem Regen begleitet).
Für das Nachtmahl sorgte Herr Kaltmamsell: Bulgur mit Tomaten, Zwiebeln, Petersilie, dazu teilten wir uns ein Côte de Boef. Ich machte uns Moskow Mules, zum Nachtisch gab es Erdbeeren und Schokolade.
Abendunterhaltung: arte zeigte Wackersdorf, den ich seinerzeit im Kino verpasst hatte. Solide gemacht mit guten Darstellerinnen und Darstellern, ich erinnerte mich daran, dass das das eine Ding war, das Franz Josef Strauß nicht durchgebracht hatte (na ja, neben der Kanzlerschaft) (außerdem starb er vor Abblasen des Projekts durch die Betreiber). Besonders positiv fiel mir die zurückhaltende und unkonventionelle Filmmusik der Band Hochzeitskapelle auf. (Hier in der Mediathek.)
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Hatte ich eh gerade im Ohr durch den Film O Brother, Where Art Thou, sehr schön gesetzt und gesungen:
https://youtu.be/z5nQW1dXn2E
via @pinguinverleih
die Kaltmamsell20 Kommentare zu „Journal Freitag, 5. Juni 2020 – Weggearbeitet“
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6. Juni 2020 um 8:36
Doch, ich kenne das, und ich lebe so wahnsinnig gerne! Aber als mir mal auf dem Weg zur Arbeit jemand die Vorfahrt nahm, ärgerte ich mich im Nachhinein tatsächlich über meine rettende Vollbremsung, weil mir ein Verkehrsunfall und daraus folgender Krankenhausaufenthalt plötzlich unglaublich attraktiv erschienen. Ich war erschrocken über mich selbst, aber den Gedanken habe ich seitdem in hochbelasteten Zeiten immer mal wieder.
6. Juni 2020 um 9:45
Sehr geehrte Frau Kaltmamsell,
Ihr wieder kehrendes Lamento ist schlichtweg ein Schlag ins Gesicht für alle, die ernsthaft erkrankt sind und dennoch gerne weiterleben WÜRDEN.
Sie, in einer scheinbar glücklichen Beziehung, wirtschaftlich gut abgesichert, in einer geräumigen Wohnung inmitten Münchens stellen sich allen Ernstes hin und faseln so einen selbstmitleidigen Stuss!
Versuchen Sie es mal mit Dankbarkeit und Demut.
Jeden Tag werden Sie aufs feinste bekocht. Dazu haben Sie den richtigen Partner an Ihrer Seite und auch die nötigen finanziellen Mittel zur Verfügung.
Wenn Sie ein neues Kleidungsstück benötigen, kaufen Sie es.
Wenn Sie Ihre Familie besuchen möchten, tun Sie es, denn alle sind lebendig und scheinbar vital.
Kommt Ihnen nie der Gedanke, dass Sie vom Leben aufs Feinste beschenkt werden?
Das Sie das nicht zu würdigen wissen, Ihre ganze Zwanghaftigkeit, sich auf das Übel zu konzentrieren, das ist …..
Und wenn Sie wirklich nicht leben möchten, können Sie sich diesen Wunsch auch erfüllen. Ich rate aber davon ab und empfehle, nein, keine Therapie, sondern das Leben zu würdigen und anzunehmen. Mit allem was da kommt.
6. Juni 2020 um 9:50
Sehr geehrte Christine,
Kommentare à la „Stell dich nicht so an, bitch“ führen in den seltensten Fällen zu irgendeinem Erfolg.
6. Juni 2020 um 10:02
Christine, Sie wissen nur das über Frau Kaltmamsells Lebensumstände, was im Internet steht. Sie wissen nichts über ihre sonstigen Leben und Befinden, wie sollten Sie also hier urteilen können.
Und was allgemein wichtig ist, da Sie “ernsthaft Erkrankte” ansprechen:
Sie wissen anscheinend z. B. auch gar nichts oder nicht genug über Krankheiten wie Depressionen. Denn bei der kann der/dem Erkrankten das Leben gänzlich lebensunwert erscheinen, ganz egal, wie gut die Lebensumstände von außen betrachtet sein mögen.
Gar können gute Lebensumstände noch zum Leiden der/des Betroffenen beitragen, da sie/er sich zusätzlich mit dem Gedanken quält, dass sie/er in so guten Umständen doch gar keine Depression haben dürfte. Das hat gar nichts mit Demut, Annahme, Nichtwollen, Nichtkämpfen oder sonstwas zu tun – es kann Teil der Krankheit sein.
(Das ist nur ein naheliegendes Beispiel, hier soll nicht irgendwas über die Blogautorin ausgesagt werden, das ist explizit keine Ferndiagnose.)
Ansonsten, falls aus Ihrem Kommentar sprechen sollte, dass sie an einer ernsten Erkrankung leiden, diese gerne überwinden würden und sich dafür gute Lebemsumstände wünschen – Ihnen alles Gute und viel Glück im Leben!
6. Juni 2020 um 10:27
Das mit dem Wetter ist hier ähnlich. Nur das es außerdem noch Wind gibt der zur zusätzlichen Austrockung beiträgt, es ist wirklich viel, viel zu trocken.
Schönes Wochenende!
6. Juni 2020 um 10:46
ihre fluchtgedanken sind völlig natürlich. sie reflektieren ihr sein. schmerzen haben sie sowieso. eine krankheit, die eine zeitlang vom arbeiten befreit – ein verführerischer gedanke.
6. Juni 2020 um 11:22
Kenne ich auch. Für mich persönlich ist Corona deshalb bisher ein Glücksfall. Arbeite nur noch von zu Hause und das an 6 Tagen im Monat. Klar, Kurzarbeit, etwas weniger Geld. Ist mir egal, kann ich mit leben.
Meine Magenschmerzen und Schlafstörungen sind dafür wie weggeblasen.
Nachteil ist: Ich habe keine Ahnung, wie ich es je wieder in das “normale” Erwerbsleben schaffen soll. Arbeite seit 30 Jahren, ohne Unterbrechung. Überlege Alternativen.
6. Juni 2020 um 11:24
Nicht gleich wegbügeln, liebe Beisteherinnen und Beisteher, vielleicht lohnt es sich, die lehrbuchgerecht stereotype Reaktion von Christine ernst zu nehmen, die sie ja inklusive Suizidempfehlung durchspielt: Sie gehen also davon aus, Christine, dass Stimmungen und Gefühle Willenssache sind? Haben Sie dazu Forschungsmaterial?
6. Juni 2020 um 12:08
“Riders on the storm
Riders on the storm
Into this house we’re born
Into this world we’re thrown
Like a dog without a bone
An actor out on loan
Riders on the storm”
https://www.youtube.com/watch?v=lS-af9Q-zvQ
H. würde Christines Äußerungen auch nicht “wegbügeln”, wenngleich ihre Wortwahl nicht immer glücklich ist.
Er meint aber glauben zu können dass er weiß, was sie mit “ernsthaft Erkrankten” meinen könnte.
6. Juni 2020 um 13:17
Der Wunsch nach einer Krankheit/Unfall erinnert mich an das Phänomen, dass sehr viele Menschen an hohen Orten den Drang haben zu springen.
https://sz-magazin.sueddeutsche.de/leben/von-fall-zu-fall-82468
Und in der Vorstellung einer Krankheit ist man ja von Verantwortlichkeiten frei und es wird sich um einen gekümmert. Schon verlockend.
Diesen Winter war ich das erste Mal uneingeschränkt froh über eine fiese Erkältung (hoffentlich war es eine), weil sie mich von den sozialen Spannungen in der Arbeit drei Tage fernhielt. Und ich habe tatsächlich drei Tage nichts anderes getan als Tee getrunken und mich durch Sapkowskis Hexerromane gefräst. Keine Erwerbsarbeit, kaum Sorgearbeit.
Leider sah es nach den drei Tagen auch entsprechend aus…
Und alle, die meinen die eigene Stimmung könne man sich aussuchen, möchte ich immer dringend mit Östrogenpräparaten füttern. Anschließend mit Schilddrüsentabletten. Wäre bloß auch physisch gefährlich…
6. Juni 2020 um 14:17
Immerwährende Schmerzen beeinflussen latent oder/und bewusst das Lebensgefühl.
6. Juni 2020 um 15:00
Stoff zum Nachdenken. Ich kenne dieses Gefühl der dumpfen Angst in der Magengrube, die einem selbst die schönen Momente vergällen kann, denn da lauert ja was im Hintergrund.
Zum Glück hatte ich dieses Gefühl schon seit sehr langem nicht mehr, und Grund dafür ist auch das, was sich hier sowohl im Blogpost als auch in den Kommentaren andeutet: die Abwesenheit des Angestelltendaseins.
Ich arbeite seit vielen Jahren freiberuflich und von zu Hause aus und bin im Grunde nur mir selbst verantwortlich. Das war oft schwer und finanziell eng und es fehlt natürlich das ein oder andere Sicherheitsnetz, aber mir scheint, es war/ist die Sache wert.
Ich hoffe, dass auch die Schreibenden hier geeignete Alternativen finden werden.
6. Juni 2020 um 16:51
Für mich sind Blogs wie diese ausgezeichnete Übungsfelder in Ambiguitätstoleranz.
Das schätze ich tatsächlich sehr – bringt mich das doch weiter in meinem Lernbereich: ” … einfach mal die Klappe halten!” und erweitert die Einsichten jenseits meines eigenen Tellerrandes.
6. Juni 2020 um 21:48
Wenn alle sich des bewussten “Lernbereichs” annehmen, kann man tolle Einsichten gewinnen.
6. Juni 2020 um 23:32
man kan stimmungen/gefühle (und/oder auch den umgang damit) natürlich beeinflussen und verändern und damit sage ich nicht, dass es auch leicht ist: im gegenteil, es ist harte und langfristige (vielleicht lebenslängliche?) arbeit (klingt so negativ: besser vielleicht beschäftigung?interesse?) an/mit sich selbst. und eine reine willenssache ist es ganz sicher nicht…sondern ein lernen, erforschen, üben, probieren, erfahren, machen…
ich beziehe mich zum einen auf yoga. und da explizit nicht nur auf den hier bei uns im westen bekannten und ausgeübten teil des “turnens” auf der matte (asanas), sondern auf das dem zugrunde liegende, viel größere und umfassendere philosophische und lebenspraktische system des yogas. z.B. gibt es das raja-yoga, wo das ausüben der asanas nur einer von acht bestandteilen ist. yoga ist in dem sinn nicht nur körperertüchtigung sondern ein lern- und umformungsprozess unseres denkens und somit fühlens (auch wenn das für sie jetzt vielleicht gleich esoterisch oder so klingen mag und bestimmte abwehrreflexe auslöst???) yoga sagt z.b. es gibt kein mittel gegen schlechte gewohnheiten, außer das einüben von guten gewohnheiten. es gibt auch keine fehler, sondern nur handlungen auf unterschiedlichen stufen von wissen (oder eben nichtwissen) und bewusstheit. mag jetzt (so kurz angerissen) ein bisschen platt und oberflächlich klingen…aber immerhin ist yoga eine 5000 jahre alte und erporbte weisheit und lebenserfahrung. da kann man unendlich darüber lesen, erfahren und lehrer/innen dazu finden, wenn es einen interessiert…
dann möchte ich einen relativ neuen und vielversprechenden ansatz aus der behandlung/prävention der depression erwähnen (womit ich mir natürlich in keinster weise anmaßen möchte, zu behaupten, dass ich glaube dass sie depressionen hätten – aber es geht hier um gedanken/gefühle und eben um ein verändern derselben): die “achtsamkeitsbasierte kognitive therapie der depression” (MBCT). aus der kognitiven psychotherapie her kommend wurde dieses behandlungskonzept entwickelt aus einem modell zur stressbewältigung nach jon kabat-zinn. es ist erprobt, erforscht und in seiner wirksamkeit bestätig. es gibt einiges an literatur dazu. bitte googeln, falls interesse. tatsächlich setzt dieses konzept beim denken an. weil man erkannt hat, das es (u.a.) dieses typisch negativ-grüblerische, selbstabwertende denken ist, das schlechte gefühle nach sich zieht und verstärkt und depressive spiralen nach sich ziehen kann.
yoga unterscheidet z.b. gar nicht besonders zwischen denken und fühlen. sondern jeder gedanke löst eigentlich automatisch ein gefühl mit aus.
es gibt auch spannende sachen dazu aus der neurobiologie: wir sind nicht das produkt unserers gehirns (na ja, leider doch, but:) wir entscheiden dadurch, wie wir unser gehirn benutzen und mit was wir es füttern (womit wir uns beschäftigen) wie das gehirn und auch wir geformt werden. der neurobiologe gerald hüther hat dazu viel geforscht und veröffentlicht. stichwort: neuroplastizität.
das alles habe ich jetzt wirklich nur geschrieben, weil sie nach wissenschaftlichen beweisen gefragt haben. die gibt es und wenn sie wollen, können sie sie finden.
und da ich selber seit vielen jahren yoga praktiziere, dazu lese und meine erfahrungen damit mache und auch aus eigener erfahrung weiß, was depressionen sind, weiß ich auch, wovon ich spreche.
om shanti! alles gute!
7. Juni 2020 um 7:56
Danke für diesen besonnenen und nach allen Seiten respektvollen Kommentar!
7. Juni 2020 um 12:00
Gelesen und sofort sprang mich das Gefühl von vor 7 Jahren wieder an. Am Wochenende erschöpft von der Arbeit, die eigentlich nur als Übung für wieder anspruchsvollere Arbeit gedacht war, lag ich auf dem Sofa und mich überfiel der Wunsch, wenn ich jetzt einschlafe, nicht wieder aufzuwachen.
(Da hatte ich die Kommentare noch nicht gelesen. Wenn sich das Problem so einfach lösen ließe, mit Demut und Yoga, wäre es schon gelöst.)
7. Juni 2020 um 13:25
Ja. Ich kenne das. Trotz Fehlen der genannten Grundlage.
7. Juni 2020 um 14:39
(Ich reiche ein Genitiv-s nach.)
8. Juni 2020 um 21:02
Ich kenne weder Sie, Ella, noch Frau Kaltmamsell näher und weiß somit nichts über Ihre Beweggründe, in einem Job auszuharren, in dem man sich so derart unwohl fühlt, dass man eine lebensbedrohliche Erkrankung als Alternative betrachtet. Selbstverständlich schulden Sie beide niemandem eine Erklärung, warum Sie sich das antun. Aber ich frage mich schon: warum tun Sie sich das an? Es ist doch nur ein Job?