Journal Samstag, 27. Juni 2020 – Vollbremsung

Sonntag, 28. Juni 2020 um 9:07

Nachts war es nur Kopfweh, nach dem Aufstehen stellte sich dann doch heraus: Migräne. Ich legte mich nochmal hin, nahm mein Triptan und schlief bis kurz vor zwölf – mit üblen Träumen, in denen ich durch Dummheit mich und andere in ausgesprochen unangenehme Situationen brachte und vor Selbsthass brannte.

Danach das übliche Programm: Benommenheit, beim Morgenkaffee auf dem Balkon leise Trauer über den verlorenen Tag (noch dazu ein echter, aber nicht heißer Sommertag), Reiz-Filter löchrig, daher Überflutungsgefühl und Assoziationen-Querschläger (der Herr, der vor dem Nebengebäude eine rauchte, war darin mit seiner Kappe, schlampigen Jacke und zerknitterten dunklen Stoffhose ein alter kastilischer Bauer, dem ich umgehend einen Stock in der Nicht-Zigaretten-Hand dazudichtete – um nur leicht verwundert festzustellen, dass es sich wahrscheinlich einfach um einen Studenten des benachbarten Forschungsinstituts handelte).

Einige Kohlmeisen trauten sich trotz meiner Anwesenheit an den Meisenknödel am Balkon. Aber Tischmanieren, also Tischmanieren hatten die nicht. (Herr Kaltmamsell will mir ja nicht glauben, dass die Stadttauben, die er konsequent vom Balkon vertreibt, in Wirklichkeit Aufräumfunktion für die Sauerei haben, die die Kohlmeisen und Buntspechte hinterlassen.)

Ich guckte diesen Fischadlern beim Fliegenlernen zu, während einen halben Meter vom Bildschirm entfernt Kohlmeisen Körner pickten, ihr Kopfgefieder aufstellten und glätteten – wäre eine leicht bizarre Situation gewesen, hätte nicht Donald Trump das Bizarrometer in den vergangenen Jahren so gründlich neu kalibriert, dass die Bizarrheit von Situationen wie dieser inzwischen unter der Messbarkeit liegt.

Nagelpflege mal 10 (Füße nur zum Teil, ich habe nächste Woche endlich mal wieder einen Termin zur Fußpflege), Duschen und Anziehen. Zum Rauskommen ging ich Semmelholen (und weil ich Appetit darauf hatte). Das Thermometer am Juwelier Fridrich in der Sendlinger Straße zeigte 25 Grad, doch es fühlte sich in schwüler Luft wärmer an.

Frühstück um vier Uhr war selbst für meine Verhältnisse extrem. Andererseits: Vier Stunden nach Aufstehen war sogar eher früh.

Bügeln der Wäsche von zwei Wochen. Das mache ich zwar nie gerne, aber gestern war mir schwindlig und ich fühlte mich krank, gleichzeitig wollte ich einige der ungebügelten Stücke gerne zur Verfügung haben, doch der Sonntag war verplant und ich wusste, dass ich mich am Montag ärgern würde, wenn der Bügelstapel dann immer noch da ist. Überwindungsüben.

Zeitunglesen auf dem Balkon, bis Herr Kaltmamsell zum Abendessen rief. Er hatte mit Tintenfisch experimentiert: Vormittags (während ich meine Migräne ausschlief) hatte er beim Verdi zwei große Pulpos gekauft, den einen wie gewohnt in viel kochendes Wasser gegeben, die Hitze abgedreht und ihn drei Stunden darin gegart, den anderen hatte er ohne Wasser im eigenen Saft gegart. (Meinen verspäteter Hinweis, dass nur ein Teilen desselben Exemplars ausgeschlossen hätte, dass das Ergebnis vom Rohstoff abhing, wischte er weg: So weit wäre er eh nicht gegangen.) Jetzt haben wir sehr viel garen Pulpo, den ersten Teil servierte er gebraten mit gebratenem Mangold aus Ernteanteil und Bulgur vom Vortag:

Dieser im eigenen Saft gegarte war sensationell zart, hätte vielleicht sogar eine kürzere Hitze vertragen. Für Nachtisch drehten wir noch eine Draußenrunde und spazierten zur nächstgelegenen Eisdiele.

Daheim stellte ich fest, dass das Netzkabel meines Laptops zerspleißt war, ließ diesmal die Provisorien bleiben sondern bestellte sofort ein neues.

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Unter all den klugen Sachen, die Maximilian Buddenbohm geschrieben hat, ist diese die möglicherweise bislang klügste:
“Planlos? Okay.”

(Wobei das ebenso möglicherweise die Quintessenz des Buchs Dinge geregelt kriegen – ohne einen Funken Selbstdisziplin sein könnte, aber das habe ich immer noch nicht gelesen. Dann hat Maximilian sie dennoch brillant formuliert.)

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Ein Lob der Lokalpolitik von Lenz Jacobsen – aber auch die Analyse, warum sie so agieren kann:
“Es gibt ein politisches Leben jenseits der Hauptstädte”.

Spätestens hier droht die Begeisterung für die Gestaltungskraft der Bürgermeister in ein antipolitisches Vorurteil zu kippen: Hier die lokalen Macher und Problemlöser, da die fernen Politiker, die nur reden und nichts zustande bringen. Der Ruf der Bundespolitik ist längst auch in Deutschland so schlecht, dass viele Lokalpolitiker behaupten, genau das nicht zu sein: Politiker. Sie wollen um keinen Preis in einen Topf geworfen werden mit den Talking Heads aus Bundestag und Tagesschau, mit der oft verklausulierten Sprache und den schalen Minimalkompromissen.

Dabei ist dieser Unterschied im Ansehen eine direkte Folge der Arbeitsteilung. “Die Art von Stadtregierung, die Emanuel so rühmt, ist überhaupt nur deshalb möglich, weil sich heute vor allem die Nationalstaaten um die Staatsfinanzen und Kriegsführung tragen”, merkt David Runciman in der London Review of Books an. Diese Arbeitsteilung sei “ein moderner Luxus” für die Städte, schreibt Runciman. Denn früher, bevor die Nationalstaaten sich gründeten, “waren die Städte wie Nationen, nur kleiner, instabiler und mit mehr Gewalt.”

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Ein guter Journalist geht dahin, wo’s schwierig ist. Versucht Fragen zu beantworten, die unbeantwortbar scheinen. Zum Beispiel: Wer hat eigentlich das Bild entworfen, das auf allen Dönertüten prangt?
“Jäger des verflixten Dönerlogos”.

Auch beim Verein türkischer Dönerhersteller in Europa ATDID, den es wirklich gibt, auch wenn die Homepage aktuell vor allem aus Blindtext besteht, kann man mir nicht helfen.

die Kaltmamsell

12 Kommentare zu „Journal Samstag, 27. Juni 2020 – Vollbremsung“

  1. Sandra meint:

    Wir interpretieren es bislang anders, wie das mit der Taube ist: Wir meinen, unsere Spatzen und die Ringeltaube leben in einer Symbiose- der Spatz wirft ihr etwas beim Fressen runter und sie holt es sich dann vom Boden. Was die Taube für den Spatz tut, haben wir bisher nicht festgestellt. Vielleicht babysittet sie ja gelegentlich oder trägt ihm schwere Sachen nach Hause.
    Tja, oder sie räumt eben einfach nur gerne auf und die Spatzen haben keine Tischmanieren.

  2. Franz Maier meint:

    Sogar als Livestream gibt´s einen Blick in einen Fischadlerhorst in Eschenbach in der Oberpfalz. Die Jungen sind in einem ähnlichen Entwicklungsstadium wie die in Kalifornien. Übertragung täglich von 8:00 Uhr bis 21:00 Uhr.
    https://www.og-bayern.de/veranstaltungen/
    Fischadler sind Kosmopoliten. Zur Zeit versucht man mit DNA-Abgleich herauszubekommen, wie sehr sie sich weltweit mischen.

  3. Simone meint:

    Ein toller Text von Maximilian Buddenbohm, danke für den Tipp! Einfach morgens aus der Höhle gehen und gucken, wo die Beeren hängen – der Rest ergibt sich dann schon. Ja, das wär schön. Ich erliege immer wieder dem Drang zum Planen und Vorausdenken. Aber sagte nicht schon John Lennon: Life is what happens while we are busy making other plans? Wenn ich das verinnerlichen könnte, wäre mein Leben möglicherweise einfacher.
    Und das Buch klingt auch nach einem guten Tipp.

  4. Croco meint:

    Dieser wunderbare Artikel von Herrn Buddenbohm zeigt, wie man Lebenskünstler wird. Schauen was geht. Monaco Franze mit Anleitung.
    Und doch muss Heizöl bestellt, Geld verdient und Essen eingekauft werden.
    Die Kunst besteht wohl darin, zwischen all dem zu jonglieren. Nicht traurig zu sein, wenn was nicht klappt, einfach was anderes versuchen.
    Die Kunst der Unschärfe zu betreiben, also eine Fuzzylogik für den eigenen Alltag zu entwerfen, entspannt ungemein.

  5. Simone meint:

    Das ist es, das Jonglieren. Manchmal sind es einfach zu viele Bälle.

  6. hafensonne meint:

    Liebe Frau Kaltmamsell, ich empfehle dringend die Lektüre von “Dinge geregelt bekommen…”, weil es nicht nur die ein oder andere hilfreiche Anmerkung beinhaltet, sondern durch die vielen schönen anekdotischen Erzählungen aus dem Dunstkreis der Autorinnen und Autoren sehr witzig und unterhaltsam ist. Unvergessen der völlig ignorierte Strafzettel und auch die Geschichte vom abgelaufenen TÜV (Sascha Lobo?) mit voller Eskalation. Aber ich denke auch, dass es lesenswert ist, weil es bemerkenswert konsequent davon absieht, Menschen ändern zu wollen, sondern die Tipps damit arbeiten, dass der Mensch nun einmal so ist, wie er ist.

    Echte Empfehlung.

  7. Alexandra meint:

    https://www.sueddeutsche.de/wissen/oktopusse-die-aliens-sind-unter-uns-1.3443913

  8. poupou meint:

    gibt es vielleicht einen rezeptlink für den pulpo im eigenen saft? ich kann mir das nicht so ganz vorstellen…klingt aber sehr lecker!

  9. die Kaltmamsell meint:

    Herr Kaltmamsell hat sich an diesem Vorgehen orientiert, poupou:
    https://germanabendbrot.de/2020/06/16/pasta-pulpo/

    Eine Google-Suche nach “Tintenfisch garen ohne Wasser” liefert reichlich Alternativen.

  10. Bleistifterin meint:

    Ja.

    Plus: ich freue mich seit bald 10 Jahren an der Kapitelüberschrift
    ” der innere Zwingli”…

    Wunderbares Buch.

    Und wunderbarer Text von Herrn Buddenbohm.

  11. poupou meint:

    danke für den link!

    auf google wäre ich natürlich nie gekommen ;)

  12. Stefanie meint:

    Ups – ich wollte W…….e schreiben, aber das lasse ich jetzt doch lieber.

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