Archiv für August 2020

Journal Montag, 17. August 2020 – Urlaub in München: KZ-Gedenkstätte Dachau

Dienstag, 18. August 2020

Wecker auf sieben, denn wir hatten Pläne.
Die sich dann doch verschoben, denn Herr Kaltmamsell hatte morgens einen Arzttermin, der sich durch Warten deutlich länger hinzog als vorhergesehen. So war es fast elf, als wir uns auf den Weg machten: Nach Dachau in die KZ-Gedenkstätte. Ich war noch nie dort gewesen. Eigenartigerweise gehörte sie nicht zum Standard-Ziel unserer Schulausflüge, später hatte es sich nicht ergeben, und nun stand der Ort seit Jahren auf meiner Mal-im-Urlaub-machen-Liste. Mir war bang vor dem Besuch, auch wenn mir klar war, dass er nicht so schlimm werden würde wie die Station Auschwitz-Birkenau auf meiner Polenreise 2006.

Wir setzten uns mit Brotzeit (Käsebreze, Nussbreze) in die S-Bahn nach Dachau. Vom Bahnhof aus schaukelten wir 45 Minuten durch die Dachauer Peripherie, obwohl der Weg nur 2,5 Kilometer betragen sollte: Der Bus 726, der als Verbindung zur KZ-Gedenkstätte auf deren Website angegeben ist, den mir auch die MVV-Fahrplansuche als Zubringer für gestern genannt hatte, auf den zudem alle Hinweisschilder beim Verlassen des S-Bahnhofs zum Erreichen der Gedenkstätte weisen – dieser Bus 726 fährt derzeit wegen Baustellen nicht dorthin. Eine freundliche Einheimische mit diesen Geheimwissen sprach zwei weitere hilflos umherblickende Passagiere im Bus an, wo sie denn hinwollten, und als diese die KZ-Gedenkstätte nannten, informierte sie sie über die Fahrstreckenänderung und wie sie trotzdem an Ziel kommen könnten. Dieser Info folgten auch wir, ich kam allerdings gründlich verärgert an.

Im Besucherzentrum orientierten wir uns und gingen hinüber zum Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers. Es war ein bewölkter, eher kühler Tag (aber noch weit von Jacke entfernt), jetzt begann es leicht zu regnen. Wir stellten uns also gleich mal am Eingang zur Dauerausstellung im ehemaligen Wirtschaftsgebäude an. Darin verbrachten wir die nächsten zwei Stunden.

Die Ausstellung war sehr informationsdicht, die Angaben und Exponate auffallend sorgfältig erklärt (was ist ein Original, was eine Replik? was wissen wir sicher, was ist eine Schlussfolgerung? wie war der genaue Ablauf und woher wissen wir das?). In fast allen Räumen lagen auf Pulten Ordner mit Kopien von Orginaldokumenten zum Durchblättern (derzeit allerdings wegen der Corona-Hygienemaßnahmen gesperrt). Ich hatte den Verdacht, dass bekannte Argumente von Holocaust-Zweiflern bis -Leugnern bereits mitbedacht waren und fühlte mich bedrückter als ohnehin in solch einer Umgebung.

Inhaltlich hatte die Ausstellung zwei Schwerpunkte: Sie schilderte zum einen das System und die Entwicklung von Konzentrationslagern in der NS-Diktatur (naheliegend, da das KZ Dachau das erste war, also das Pilot- und Vorbildprojekt, und zudem das einzige, das die ganzen zwölf Jahre betrieben wurde). Zum anderen wurde die Geschichte dieses konkreten Lagers in Dachau aufgeschlüsselt, in allen Phasen und mit vielen Einzelschicksalen (die meisten mit unbekanntem Todesdatum). Vieles wusste ich vorher (z.B. dass hier zunächst vor allem politisch Missliebige inhaftiert wurden, ich erinnere mich an Erzählungen von Zeitzeugen in meiner Kindheit, dass man bei politisch heiklen Äußerungen gescherzt habe “pass bloß auf, sonst kommst’ nach Dachau!”), vieles war mir nicht bewusst, unter anderem dass bis zur letzten Phase nur Männer in Dachau inhaftiert wurden, wie viele Spanier unter den Häftlingen waren, wie oft Häftlinge zwischen den Konzentrationslagern des gesamten Reiches transportiert wurden.

Daneben erklärten eigens gestaltete Schilder mit historischen Fotos die einstige Funktion der heutigen Ausstellungräume.

Als wir nach draußen traten, war es sonnig geworden und schlagartig heiß. Wir sahen uns auf dem Gelände um, besichtigten die religiösen Gedenkstätten (die der Christen sauber nach katholisch, evangelisch, russisch orthodox getrennt), den Krematoriumsbereich.

Auch wenn mir das Gehen mittlerweile ziemlich schwer fiel, wollte ich den Rückweg zum Bahnhof unbedingt zu Fuß machen: Dieser “Weg des Erinnerns” folgt “der Strecke, auf der ein Großteil der Häftlinge zu Fuß, in Zügen oder Lastwagen das Konzentrationslager erreichte”.

Ich war sehr froh, als ich mich im Zug zurück nach München setzen konnte. (Morgens war ich so beweglich und fit gewesen, dass ich zwei Paar Schuhe auf dem Boden sitzend geputzt hatte – MIT dazwischen schnell mal aufstehen!)

Zurück ins Leben und in die Gegenwart ließen wir uns mit einem Eisbecher beim Sarcletti am Rot-Kreuz-Platz holen. Daheim legte ich mich erst mal flach hin, um Hüfte und Kreuz zu entspannen.

Nachtmahl: Mediterranes Ofengemüse.

Journal Sonntag, 16. August 2020 – Mehr Sommerurlaub am Balkon

Montag, 17. August 2020

Lang geschlafen, das war schön (am besten nach dem vierten Aufwachen um halb sieben). Aufgewacht zu einem Bomben-Sommertag, dessen blauer Himmel erst am späten Nachtmittag immer mehr Wolken zeigte und der nie böse heiß wurde.

Wieder ging ein Stündchen Crosstrainer am späten Vormittag.

Beim Semmelholen die berauschende sommerliche Farbkombination Knallgrün-Knallblau, hier über der Rothmundstraße. Frühstück kurz nach zwei. Der Nachteil dieses Tagesrhythmus’: Nach dem Frühstück ist bereits der halbe Nachmittag rum. Ich guckte auf dem Balkon die letzte verfügbare Folge Wild Bill und das eine oder andere Youtube-Filmchen, las James Baldwins Giovannis Zimmer. Ein geplanter Spaziergang war mir zu anstrengend: Ich hinkte mühsam, auch wenn sich die Muskeln meiner Lendenwirbelsäule langsam einkriegen.

Nachtmahl am Balkon, Herr Kaltmamsell servierte Salade niçoise.

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Seit ein paar Wochen läuft jede vierte Frau in meinem Gesichtsfeld in einem dieser Zeltkleider aus Palästinenertuchstoff in allen Farben herum. Ich fragte auf Twitter, ob es dafür wohl einen konkreten Anlass gebe, @misscaro kannte zumindest die Firma, die das Kleid als erste auf dem Markt brachte – und Kritik geerntet hatte:
“Danish fashion label promises to credit keffiyeh designs after cultural appropriation backlash”.
Doch es gefällt wohl zufällig derzeit sehr vielen Frauen – die vielleicht zu jung sind, um das Muster mit Pali-Tuch und seinen politischen Implikationen in Verbindung zu bringen?

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Kleines Filmchen zur Illustration von: Was ich im Kopf habe, wenn ich Yoga mache, versus was ich wirklich tue.

via @nicolediekmann

Journal Samstag, 15. August 2020 – Kuchenbacken und Bügeln

Sonntag, 16. August 2020

Im letzten Schlafabschnitt schön geträumt: Ich war mit Freunden (niemand, den ich im echten Leben kenne) in einer weitläufigen Sport- und Freizeitanlage untergebracht, es gab Schwimmtraining und Volleyballspielen ohne Bewegungseinschränkungen. (Nur die Zimmer waren unangenehm weit weg, wenn ich etwas dort vergessen hatte, waren bis zum Wiederkommen die anderen schon mitten im Spiel).

Feiertag also. Es war gemischtes Wetter angekündigt, doch tatsächlich strahlte fast durchgehend die Sonne, und das ohne Hitze: Ich konnte Fenster und Türen fast durchgehend offen lassen und die frische Luft genießen, saß viel auf dem Balkon. Dass ich das Haus überhaupt nicht verließ, war Zufall (und der Vorstellung geschuldet, wie voller Menschen das Draußen sicher war).

Nach Morgenkaffee und Bloggen, aber noch vor Crosstrainer (die Gymnastik ließ ich lieber bleiben) backte ich mal wieder einen Kuchen aus David Lebovitz’ Ready for Dessert, den ich noch nicht ausprobiert hatte: Nectarine-Raspberry Upside Down Gingerbread Cake (hier nachgebacken). Ich haderte mit den 170 Gramm (!) Zucker, die ich allein schon für die Zucker-Butter-Mischung ganz unten verteilen sollte, reduzierte auf 140 Gramm, ich erhitzte auch nicht die Backform, sondern nur die Butter und träufelte diese über den Zucker, den ich auf den Springformboden mit Backpapier gestreut hatte. Meine Nektarinen waren sehr hart – wahrscheinlich zum Glück, denn sonst wäre das eine noch suppigere Angelegenheit geworden.

Beim Abnehmen der Form war der Himbeerduft umwerfend. Geschmack ok, doch mein liebster gestürzter Obstkuchen bleibt der erste, den ich je kennenlernte: Apfelkuchen mit Walnüssen.

Während der Kuchen im Ofen buk, strampelte ich auf dem Crosstrainer – wieder vorsichtig und eher langsam, wie es sich gut anfühlte. Nach dem Duschen und Anziehen war der Kuchen auf Frühstückstemperatur abgekühlt.

Den Nachmittag verbrachte ich auf dem Balkon, wo ich in der ZDF-Mediathek drei Folgen Wild Bill guckte: Wirklich, wirklich gut. Die dicke Figur von DC Muriel Yeardsley wird in der ersten Folge doch mal thematisiert: Sie wehrt sich energisch, dass diese etwas Negatives sein soll, bei drei Brüdern sei ihr Leben lang jedes Gramm wichtig als Kampfgewicht gewesen. Fertig. Ich liebte jedes Szene, in der Bronwyn James diese so unfertige Person zwischen Ehrgeiz, Hirn, Mitgefühl und Verunsicherbarkeit spielte.

Dazwischen bügelte ich Sommerkleidung von zwei Wochen weg, freute mich weiter an den aufblühenden Gladiolen im wechselnden Licht.

Zum Nachtmahl verwandelte Herr Kaltmamsell angesammelte alte Semmeln aus Monaten zu Semmelnknödeln und servierte sie mit Pilzrahm.

Journal Freitag, 14. August 2020 – Urlaubstag in der heimischen Großstadt, OP-Sorgen

Samstag, 15. August 2020

Auf den Balkonkaffee an Urlaubstag hatte ich mich gefreut, und dann schien auch noch die Sonne ohne Hitze. Vergessen hatte ich, dass an Wochentagen die Klinikbaustelle gegenüber in Betrieb ist und SEHR VIEL LÄRM MACHEN KANN! (Abschluss des Baus nach fünf Jahren Lärm war für dieses Jahr angekündigt, doch das kann ich mir beim Anblick der Baustelle nicht recht vorstellen.)

Ich versuchte mich an ein wenig Gymnastik, soweit es halt ging, und strampelte eine Weile auf dem Crosstrainer, was Hirn und Körper gut tat.

Einkaufsrunde mit Herrn Kaltmamsell: Wir gingen ausnahmsweise auf den Viktualienmarkt, weil ich Gürkchen zum Einlegen als Salzgurken suchte und es am Samstag Semmelnknödeln mit Pfifferlingen geben sollte. Das alles (auch wenn wir beim Anstehen von Pfifferlingen auf frische Steinpilze umschwenkten, weil wir die lieber mögen) bekamen wir ebenso wie weiteres Gemüse und Obst fürs Wochenende – es musste bereits am gestrigen Freitag alles eingekauft sein, da der Samstag Feiertag ist (Mariä Himmelfahrt, ich verstehe wirklich, dass man über die bayerisch-katholische Feiertagerei den Kopf schüttelt).

Dann bog Herr Kaltmamsell zu weiteren Lebensmittelkäufen ab, ich besorgte Frühstückssemmeln und Blumen (netter Plausch am Blumenstandl vorm Kaufhof am Marienplatz, zehn Gladiolen für fünf Euro, weil letzter Tag vor Sommerurlaub der Damen), ging außerdem einer besondes schönen Farbe nach, die ich im Schaufenster einer Bekleidungskette entdeckt hatte.

Daheim Frühstück und Häusliches.

Blöderweise wurden meine Schmerzen immer lächerlicher (Schonhaltung Hüftschmerz wurde verhindert durch LWS-Schmerzen und umgekehrt, ich wusste schlicht nicht, wie ich Raum in Luft einnehmen sollte), ich griff wieder zu Muskelrelaxanz und Ibu. Einfachen Bewegungsimpulsen nicht nachkommen zu können, und sei es nur die Absicht, schnell mal den Balkon zu kehren, machte mich fertig. Und schon bastelte ich mir die Sorge, dass ich in solch einem Zustand nach einer Hüft-Op ja nicht mal zu den notwendigen Reha-Übungen fähig bin. Ruhe und Bewegungslosigkeit heilen orthopädische Leiden praktisch nie, gleichzeitig bin ich ratlos, mit welchen Maßnahmen ich zu einer Verbesserung beitragen kann. Zum Glück wirkten die Medikamente und ich konnte wieder aufrecht gehen. Und nächste Woche habe ich einen Termin bei der Hausärztin und kann sie um Rat für diese Art von Op-Vorbereitung bitten.

Zwischen Liegen auf dem Boden zur LWS-Entlastung las ich die Wochenend-Süddeutsche.

Zum Nachtmahl bereitete Herr Kaltmamsell nochmal Nudeltaschen mit Ziegenfrischkäsefüllung zu, ich machte dazu grünen Salat.

Zur Abendunterhaltung durch die Fernsehprogramme geschaltet, auf ZDF Neo die Serie Wild Bill entdeckt – und alle beiden Folgen lang hängen geblieben. Unter anderem weil eine dicke Schauspielerin eine tragende Rolle hat (Bronwyn James als DC Muriel Yeardsley) und diese großartig spielt, ohne dass ihre Dickheit ein Thema ist.

§

Offensichtlich bin ich nicht die einzige, die von der Menschenverachtung und ethischen Haltlosigkeit reicher junger Leute, wie sie auch aus Christian Krachts Faserland sprechen, nicht amüsiert wird. Und der ins Gesicht springt, wie milde Behörden deren Entgleisungen behandeln.

“Reiche Hamburger Kids randalieren wie in Stuttgart – und wo bleibt der Aufschrei?”.

Es ist nicht verwunderlich, dass in Othmarschen, einem Stadtteil mit sechsstelligem Durchschnittseinkommen, kriminelle Jugendliche randalieren. Ganz ohne Ironie: Der Stadtteil ist ein Brennpunkt.

Im Hamburger Westen saufen Jugendlichen doppelt so viel wie in allen anderen Stadtteilen. Das ist schon seit Jahren klar. Ein empathisches Porträt der Generation im Abendblatt heißt “Zwischen Komasaufen und Einser-Abi” und auch die ZEIT analysierte den Sozialraum und kam zu dem Schluss, dass an all dem ziemlich sicher die Eltern Schuld sind.

(…)

Wo sich alle Stuttgarter Jugendlichen mit Migrationshintergrund vor Generalverdacht und Rassismus wegducken mussten und in der Folge sogar Schwarze Jugendliche in München das verstärkte Racial Profiling in Stadtparks zu spüren bekamen, passierte in Hamburg: Nichts. Kein Täterprofil: Gelfrisur, Balenciaga-Schuhe und eine Flasche Moët in der Hand, das für verdachtsunabhängige Personenkontrollen herangezogen wird.

Journal Donnerstag, 13. August 2020 – Urlaubsende

Freitag, 14. August 2020

Zu Ende war tatsächlich nur die Reise: Ich habe noch eine gute Woche Urlaub und freue mich sehr auf frei verfügbare Tage, an denen ich nicht in die Arbeit muss.

Nach Ausschlafen, Duschen, Bloggen packten wir unseren Koffer und gingen nochmal auf einen Morgenkaffee ins Hotelrestaurant. Auschecken, unter bedecktem Himmel und bei erträglichen Temperaturen rollkofferten wir zum Bahnhof.

Ich hatte ein Schnäppchenangebot für Upgrade in die erste Klasse wahrgenommen, so räkelten wir uns mit viel Platz. Warum die DB-App für den Zug “geringe bis mittlere Belegung” anzeigte, obwohl nur vereinzelt Sitze frei waren, verstand ich nicht. Doch die Maskendisziplin war sehr hoch, ich fühlte mich recht sicher. (Habe aber immer noch ein leicht schlechtes Gewissen wegen des Risikos, das ich durch die Reise eingegangen bin.) Auf halbem Weg längs durch Deutschland kamen wir auch durch richtigen Regen, doch schon hinter Würzburg war es wieder trocken.

Hopfencheck in der Holledau: Gut steht er da, der Hopfen, in den kommenden Wochen wird wohl die Ernte beginnen. In München empfingen uns gemischte Wolken und sehr angenehme Temperaturen.

Daheim Pflanzenversorgung, Kofferauspacken, erste Maschine Wäsche einschalten, telefonische Rückmeldung bei Eltern – was ja heutzutage eigentlich nicht mehr nötig ist, da sie unsere Reise auf meinem Blog mitverfolgen konnten (Papa), wir zudem über WhatsApp in Verbindung standen (Mama). Ich erinnere mich an früher(TM), als ich zur Versicherung der heilen Ankunft kurz über lokales Münztelefon anrief, während des Urlaubs eine Ansichtskarte losschickte und mich dann wieder nach Rückkehr meldete.

Wissen Sie, was auch mit abklingendem Hexenschuss ganz schlecht geht: Stolpern. Denn zum Abfangen, so lerne ich in diesen Tagen, braucht der Körper genau die vom Hexenschuss betroffenen Muskeln. (AAAHHHHSCHEISSEAUAAAA!)

Herr Kaltmamsell und ich gingen in verschiedene Richtungen zu den nötigsten Besorgungen, zum Nachtmahl gab es die übrigen Ernteanteil-Kartoffeln gebraten mit Speck und Tomatensalat, dazu Rosé.

Beginn der Vorbereitungen auf die Operation Anfang Oktober: Ich guckte zum ersten Mal seit ca. 35 Jahren nach Nachthemden (besitze ja nur für auswärtige Übernachtungen ein Stück Not-Nachtwäsche) für Krankenhaus und Reha. Mein erschreckter Klageruf auf Twitter erntete sofort eine Vielzahl sehr nützlicher Tipps, bei welchen Adressen man nicht Ästhetik-Ausschlag bekommt. Meine Kriterien: Keine Knöpfe (die mich beim Draufliegen drücken würden), kurze Ärmel (Armbeugen sollten zugänglich sein), nicht zu eng und nicht zu weit (meine Abneigung gegenüber Schlafkleidung resultiert ja aus einengender Verwicklung beim Umdrehen), nicht zu kurz und nicht zu lang. Muster wenn überhaupt, dann auf die richtige Weise peinlich. Zumindest weiß ich jetzt, wo ich suchen kann.

Wieder daheim fühlte ich mich, als ich am fast dunklen Himmel Fledermäuse sah.

Journal Mittwoch, 12. August 2020 – Urlaub in Bremen: Bürgerpark und Rollo

Donnerstag, 13. August 2020

Nach sechs Stunden Humpeltrippeln mit zwei Pausen war ich so erledigt wie sonst nach sechs Stunden beherzter Wanderung: Es ist wohl egal, dass ich dabei mit zwölf Kilometern nicht mal die Hälfte einer früheren Wanderstrecke zurückgelegt hatte.

Den gestrigen letzten Urlaubstag in Bremen verbrachten wir nämlich im Bürgerpark (und Stadtwald, um genau zu sein). Wir hatten so lang geschlafen, dass mich beim Aufwachen der Blick auf die Uhr (es war neun) schlagartig munter gemacht hatte. Also zügiges Duschen und Bloggen, um das Housekeeping-Personal nicht zu lange aufzuhalten. Nach dem Morgenkaffee im Hotelrestaurant (der Cappuccino ist nämlich ganz hervorragend) zogen wir los Richtung Bürgerpark. Das Überseemuseum passierten wir unbesichtigt: Ich habe vorerst genug von Saurierskelett-Repliken und ausgestopften Tieren, das zusätzliche Raubgut aus ehemaligen Kolonien, das dort ausgestellt wird, hätte mir lediglich schlechte Laune bereitet. Möglicherweise sind die Tage naturhistorischer Museen gezählt.

Beim Unterqueren des Hauptbahnhofs zeigte ich Herrn Kaltmamsell, wo ich bei meinen beruflichen Aufenthalten Pause gemacht hatte, von der Rückseite des Bahnhofs aus deutete ich von Ferne auf das zukünftige weltweite Mekka postmoderner Architektur.

Die nächsten Stunden spazierten wir in großer Hitze und mit wenig und dann warmer Brise durch den Bürgerpark, vorbei an schönen Sichtachsen und Blicken, mit längerem Halt am Tiergehege, machten Mittagspause in der wunderschönen Meierei (Nizza-Salat für mich, hausgemachten Knipp für Herrn Kaltmamsell, Apfelschorle und viel Wasser für uns beide, eine Wespe aus Apfelschorleflasche gerettet), gingen hinüber in den Stadtwald und folgten dem Naturlehrpfad. Als ich eindeutige fröhliche Badesee-Geräusche hörte, gingen wir ihnen nach und standen ein wenig in der Brise des großen Stadtwaldsees. Erschütterung über den Anblick von Joggern (Bikram-Running?). Zurück im Bürgerpark kehrten wir bei Emma am See ein auf ein Bier (Herr Kaltmamsell) und ein Stück Buchweizentorte (verteidigt gegen vier Wespen) mit einem Glas Apfelschorle für mich.

Mittlerweile ging ich noch langsamer als eh schon, genoss es aber weiter, mit Herrn Kaltmamsell im Grünen zu gehen, selbst bei Hitze. Ich hätte nach einem Bus zurück zum Marktplatz schauen können, doch die Recherche erschien mir noch mühsamer als der Fußweg. Also nutzte ich ihn wenigstens, um im neuen Einkaufszentrum beim Bahnhof Obst für die Rückreise am Donnerstag zu besorgen. Doch es war klar, dass ich für ein Abendessen nicht nochmal laufen würde.

Park-Hotel.

Lokal Emma am See. Ruderbootfahren ist im Bürgerpark besonders attraktiv, denn die beiden Seen sind mit weitläufigen Wasserarmen verbunden. Nur dass es uns dafür viel zu heiß war.

Das Tiergehege, in dem es Bauernhoftiere in Kleinfassung gab: Zwergesel, Zwergziege, besonders kleine Schafe (Skudde), Zwerghühner, Zwergzebus, Meerschweinchen. In Normalgroß: Alpakas, Dammwild, Mufflons.

Die Meierei, auch von Nahem von außen und innen sehenswert.

Blick von der Meierei aus Richtung Bremen auf Park-Hotel und Domtürme – mit den Rindern davor fühlte ich mich an englische Landschaftsmalerei erinnert.

Aussichtsturm im Stadtwald.

Im Hotel musste ich mich erst mal flach auf den Rücken legen, bis die Schmerzen in Hüfte, Bein und Kreuz nachließen.

Fürs Abendessen war bereits eine weitere lokale Spezialität eingeplant: Das autochthone Bremer Street Food Rollo. Wir waren zwar am Montag im Steintorviertel am Imbiss des Erfinders vorbeigekommen, doch gestern Abend konnte ich mich nicht zum Weg dorthin aufraffen: Wir nahmen den Rollo des nächstbesten Anbieters (Falaffel für den Herrn, Tsatsiki für mich) – und aßen ihn dann auch noch im Sitzen.

In unserem Alter darf man das.

Journal Dienstag, 11. August 2020 – Urlaub in Bremen: Kunsthalle

Mittwoch, 12. August 2020

Gestern war Kunst. Nach Ausschlafen (schrieb ich vorgestern, dass ich Klimaanlagen beim Schlafen meide? Ach papperlapapp…), Bloggen und gutem Morgenkaffee im Restaurant des Hotels spazierten wir durch die bereits vormittags sengende Hochsommersonne zur Bremer Kunsthalle.

Im Erdgeschoß war ein Raum für die Ausstellung von Skulpturen aus 400 Jahren genutzt, die den Menschen darstellten, nach Größe sortiert (leider finde ich auf der Website nichts dazu, kann also Details nicht nachschlagen – hier zumindest ein Bericht des Weserkuriers).

Diese Zusammenstellung brachte mich zum Nachdenken über die Rolle des Kuratierens. Denn: Das Wesen von Skulptur besteht für mich in der Dreidimensionalität, was für mich einschließt, dass ich das Kunstwerk von allen Seiten betrachten kann. Doch das Podest, auf dem diese Skulpturenzusammenstellung ausgestellt wurde, durfte nicht betreten werden. Im Grunde waren sie zu einer Gesamtskulptur verarbeitet, die ich nur gesamt von allen Seiten betrachten konnte. Zusammen mit der stark interpretierenden Beschreibung an der Wand des Saales drängte sich mir der Eindruck auf, dass der Kurator oder die Kuratorin hier selbst Kunst machen wollten statt sich in den Dienst der Kunstwerke zu stellen. Ich weiß noch nicht, wie ich das finde.

Die Idee des Remix, unter der der gesamte Bestand der Kunsthalle einmal umgekrempelt und dann neu ausgestellt wurde, gefiel mir allerdings ausgesprochen gut. Die Einordnung der Kustwerke, die thematischen Zusammenstellungen und die Reflexionen über frühere Ausstellungskonventionen waren angenehm zeitgemäß. Für meinen Geschmack hätten die Erläuterungen der einzelnen Werke weniger interpretierend, sondern mehr beschreibend sein dürfen, aber das liegt wahrscheinlich an meiner Verwurzelung in der Literaturwissenschaft, die dem Apekt “was der Künstler damit sagen wollte” eine stark untergeordnete Rolle beimisst.

Ein Beispiel: Für mich als Betrachterin war an diesem Kunstwerk oben relevant, dass ich mich darin spiegelte und dass die spiegelnde Oberfläche das Werk durch einen Lichtreflex auf dem Boden davor fortsetzte. Ob die Künstlerin (leider finde ich das Werk nicht im Online-Katalog) das beabsichtigt hat, ist mir unwichtig.

Es gab wirklich ein Menge zu sehen. Nach drei Stunden war ich nicht mehr aufnahmefähig und befasste mich in den verbleibenden Räumen nur noch mit einzelnen Werken.

Wir traten hinaus in die Hitze und spazierten sehr langsam in heißem Wind durch den Wall hinüber zur Mühle.

Dort gab es viel Wasser und die erste Mahlzeit des Tages (halb drei ist für Nicht-Arbeitstage ja normal bei mir). Es gab Bruschetta für den Herrn, ich hatte Matjes nach Hausfrauen Art.

Rückweg mit Abstechern im Hachez-Laden und im Bremer Teekontor (jajaja, die Produkte bekäme ich auch in München, ABER), Abkühlen im wohltemperierten Hotelzimmer mit Internetlesen. Auch wenn die Glocken des Doms ausgesprochen häufig läuten: Ich habe selten so wohlklingende Glocken gehört.

Fürs Abendessen folgten wir der Empfehlung einer ehemaligen Bremen-Studentin ins Viertel und aßen im Kleinen Lokal.

Es gab (von links unten gegen Uhrzeigersinn) Saibling mit Erbsenvariationen, Kabeljau mit Blumenkohl, Spargel, Sommertrüffel und Hummerschaum, gerösteten Pulpo mit Spinatcoulis, Bohnenkernen und eingelegtem Fenchel.

Links der Hauptgang: Lammrücken und hausgemachtes Knipp (aus Lamm, eine Art Grützwurst und die lokale Spezialität) mit Bärlauch, Safrangraupen, Kichererbsen und Artischocke. Statt Dessert nahmen wir Käse. Mit Wein ließen wir uns glasweise begleiten und waren ebenso zufrieden wie mit den Speisen.

Spaziergang zurück im Abendlicht.
Nachtrag, weil für die Chronik relevant: Vom Außenbereich des Restaurants aus hörten und sahen wir zwei Mauersegler – fast zwei Wochen nach den letzten in München.

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Die gestrige Süddeutsche schilderte auf der Seite Drei den Fall von Roberto Rocca, einem kerngesunden 29-jährigen, der COVID-19 überlebte – und jetzt einen Rollator zur Fortbewegung benötigt (€):
“Ich doch nicht”.

Clemens Wendtner, Chefarzt der Infektiologie, sagt: “Er hat wirklich die ganze Palette der Intensivmedizin bekommen. Ohne Intensivstation wäre das nicht so gut ausgegangen.”

Alexandra Vossenkaul, Co-Chefin der Intensivstation, sagt: “Da hat man oft dagestanden und gedacht: Mein Gott, der ist sechs Jahre jünger als ich.”

Clemens Cohen, Nephrologe, sagt: “Wir kennen viele verschiedene Krankheiten, die vogelwilde Sachen machen. Wo Sie denken: Ulkig, was die Natur da alles anstellt. Bis jetzt war es aber so: Bei all diesen Krankheiten konnten Sie an den Computer gehen oder in einem Buch nachschlagen und sich einlesen. Aber hier, bei Covid-19, gab es einfach nichts.”

(…)

Dass er keine Luft bekam, ist das Letzte, woran er sich erinnert. Das war am 26. März. Das Nächste, woran er sich erinnert, ist, dass er aufwachte, den ganzen Körper voller Schläuche, Kabel und Kanülen, und vor ihm stand eine Ärztin, die sagte: Herr Rocca, heute ist der 4. Mai.