Journal Dienstag, 29. September 2020 – Arbeit von daheim und Susanna Schwager, Die Frau des Metzgers
Mittwoch, 30. September 2020Mittelschlimme Nacht, ich hielt mich am Countdown T -4 fest.
Da Sport gar nicht mehr geht und der Arbeitsweg im Aufklappen des Dienst-Laptops bestand, war der Morgen gemütlich.
Arbeiten von Daheim. Da Herr Kaltmamsell in der Schule war, konnte ich bis zum Nachmittag seinen Schreibtisch und -stuhl als Arbeitsplatz nutzen und musste nicht unbequem am Esstisch sitzen. Aber auch hier fror ich klassisch trotz Heizung, dickem Pulli, zwei Paar Socken.
Mittags Käse und selbst gebackenes Brot. Um trotz Quarantäne frische Luft zu bekommen, brachte ich Gelbsack- und Flaschen zur Wertstoffinsel, die 200 Meter im Freien (kühl, immer wieder Regen) mussten genügen.
Zwei Telefon-Meetings übern Tag, während einem beobachtete ich ein rotes Eichhörnchen in der Kastanie – Home Office deluxe. Nachmittagssnack eine Mango.
Telefonat mit Brüderchen, wir brachten einander ein wenig auf neuesten Stand.
Als Nachtmahl servierte Herr Kaltmamsell Risotto mit Ernteanteil-Weißkraut, aufgegossen mit der Brühe vom Corned-Beef-Kochen.
Im Bett las ich Susanna Schwager, Die Frau des Metzgers aus. Das Buch ist die Familiengeschichte der Autorin in der Schweiz (Solothurn, Zürich), erzählt wie ein Roman. Schwager macht das technisch sehr geschickt: Sie gibt die Stimmen ihren Familienangehörigen, vor allem dem Großvater Hans (der Metzger aus dem Titel), aber auch zwei Schwestern ihrer Großmutter und zwei von ihren Töchtern (eine davon Schwagers Mutter). Die Großmutter selbst, “das Hildi”, lebt schon lang nicht mehr; warum Schwager im Nachwort schreibt, sie sei “verlöscht”, wird im Lauf der Erzählung klar.
Ganz behutsam entwickelt sich in diesem Stimmen ein Frauenleben vor der Zeit um den Zweiten Weltkrieg bis in die 1980er in der Schweiz. Sehr mündlich notiert und mit vielen Helvetismen erzählen die unterschiedlichen Perspektiven nur scheinbar immer wieder widersprüchliche Geschichten, tatsächlich aber indirekt über sich selbst mindestens so viel wie über Hildi. Eine realistische Vorführung, wie viele Wirklichkeiten es innerhalb einer Familie gibt und wie es dazu kommt.
Es geht um eine harte Zeit, in der Frauen so wenig zu melden hatten, dass ihnen nur Ausweichen blieb, ob vor grabschenden Männerhänden oder männlicher Entscheidungswillkür, in der sie flohen in “Sanftheit” und andere als “typisch weiblich” geltende Verhaltensweisen. Und in der nur wenige die Kraft hatten, sich über Konventionen hinweg zu setzen. Besonders berührte mich der Gegensatz zwischen der Fügsamkeit Hildis, die ihr Mann und ihre Töchter wieder und wieder betonen, Hans aber auch, dass sie ihm die Bestimmer- und Beschützerrolle ja zugewiesen habe, und den kleinen Fluchten, die ihre Töchter beschreiben, zum Beispiel das Ansparen von Geld für heimliche Genüsse in der Konditorei. Was in diesem Leben bereits für das Gefühl von Auflehnung reichte.