Journal Montag, 31. August 2020 – Unkompetitiv
Dienstag, 1. September 2020 um 6:21Nachts mehr als vier Stunden am Stück geschlafen, hurra!
Es regnete nicht mehr, aber mein Fahrrad stand ja beim Büro. Ich nahm also Tram und U-Bahn.
Leichte Beruhigung in der Arbeit: Der unangenehme Brocken wurde von “nicht machbar” zu “zu 30% unabsehbar und komplexe Arbeit”.
Mittags aß ich eine daheim vorbereitete Mango und Maracuja mit Joghurt und Quark – köstlich. Nachmittags eine Hand voll getrocknete Aprikosen.
Für den Heimweg nutzte ich mein Fahrrad, mit nackten Beinen zum Kleid fror ich ein wenig. Beim Überqueren der Theresienwiese sah ich zum ersten Mal dort Bachstelzen.
Daheim wechselte ich umgehend von kurzärmligem Kleid in Schlumpfklamotten inklusive Socken und warmem Sweatshirt – zack! nicht mehr gefroren (Herr Kaltmamsell trug dicke Strickjacke). Zum Nachtmahl bekam ich Tagliatelle mit Zucchini, Basilikum, Zitrone (ein altes Jamie-Oliver-Rezept), war ok. Danach Süßigkeiten.
Wenn ich behaupte, ich sei nicht kompetitiv veranlagt, misstraue ich mir ja schon. (Wie ich mir in fast allen Details meines Selbstbilds misstraue, und selbst der Aufrichtigkeit dieses Misstrauens misstraue ich.) Aber dann fällt mir wieder meine Turniertanz-Karriere mit 17/18 Jahren ein, genauer: ihre Abwesenheit. Sehr wahrscheinlich war ich ohnehin nicht gut genug für eine solche, vor allem aber wollte ich weiter mit meinem bisherigen Tanzpartner tanzen: Nicht nur verstanden wir einander ausgezeichnet und waren gut befreundet, er war auch ein begnadeter Tänzer. Nur halt im falschen Körper: Der junge Mann war etwa so groß wie ich, hatte aber nur 70 Prozent meiner Beinlänge, zudem neben breiten Schultern auch ein breites Becken – eine eher quadratische Figur, die auf dem Turnierparkett unerwünscht ist. Deshalb wollte man mir fürs Turniertraining einen aus Wettbewerb-Sicht passenderen Partner zuweisen. Ich weigerte mich, weil mir doch das Tanzen mit eben diesem Partner so viel Spaß machte. Die Unterstützung der Tanzschule versiegte. Vielleicht bin ich wirklich echt ehrlich nicht auf Gewinnen angelegt.
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Als Jüdin in Deutschland sieht Juna die rechts-geprägten Proteste am vergangenen Wochenende mit Angst:
“Die Mitläufer:innen der ‘Hygienedemos’ oder Wir haben von nichts gewusst.”
Feinde, es braucht Feinde, Feindbilder, um die autoritären Machtstrukturen von Diktaturen etablieren zu können. Der Feind natürlich steht immer außen, er kommt nicht aus den eigenen Reihen, wie es die neuen Nazis tun. Der Feind kommt von draußen. Gelang es nicht, das Feindbild ab 2015 in Form von schutzsuchenden Menschen zu etablieren, so hat man jetzt einen vermeintlichen Clou gelandet: Ein Virus. Noch weniger verständlich, noch besser nutzbar und noch viel besser in alte Muster von Verschwörungen einbaubar. Das ganze wird nun als Kampf um eine Freiheit verkauft, die letztlich nur in Unfreiheit führt. Doch soweit zu schauen, das können und vor allem wollen jene, die nicht nur gestern offen mit Nazis mitlaufen, nicht. Ach diese Déjà-Vus.!
Sie treibt diese Sehnsucht, gegen irgendwas „Widerstand“ zu leisten, sei es nur einem einfachen Hilfsmittel, das Menschen vor einer Krankheit zu schützen, die wir noch immer nicht vollständig verstehen und die Leben kostet, Familien zerstört. Sie leisten Widerstand dagegen, dass sie ein Mal nicht in den Urlaub ins Ausland fahren können, sie leisten Widerstand dagegen, dass wegen ihnen Menschen ihre Existenz verlieren, weil sie durch sie ihre Geschäfte und Restaurants wieder schließen oder gar nicht erst wieder öffnen können. Diese unerklärliche Sehnsucht nach Widerstand, die nur dann nicht auftaucht, wenn es darum geht, Menschen vor Rassismus zu schützen, sich für einen konsequenten Umweltschutz einzusetzen, vielleicht wirklich einmal ein Risiko einzugehen.
(…)
Wer mit Nazis marschiert, wer meint, dass das keine Rolle spielt, hat nicht verstanden, wie Faschismus funktioniert. Sie, die sie dort mitlaufen, Sie, die Sie auch nur Sympathien für die hegen, die dieses lächerliche gefährliche Schauspiel gestern ablieferten, Sie gehören dazu. Sie sind keine Außenstehenden mehr. Sie sind die, die Faschismus unterstützen, ihn tragen und sagbar und lebbar machen. Sie sind die Täter:innen unserer Zeit. Sie geben denen Rückenwind und Unterstützung, die die Freiheit, in der wir leben dürfen, gefährden. Und sie werden es sein, die sagen, sie hätten von nichts gewusst.
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Außensicht: Im Guardian beschreibt Philip Oltermann:
“How Angela Merkel’s great migrant gamble paid off”.
Mir wird mal wieder bewusst, dass “Flüchtling” keine brauchbare Kategorie für mehr als kürzestfristige Maßnahmen ist, denn diese Menschen haben viel zu unterschiedliche Hintergründe. Neuer Augenöffner waren die Hinweise des Soziologen Aladin El-Mafaalani (€): Eine Flüchtlingsfamilie, die aus Armut kommt, wird sehr viel wahrscheinlicher erst mal materielle Statussymbole anstreben (großer Fernseher, Auto) und Bildungs-/Sprachangebote ohne direkten Nutzen nicht attraktiv finden als eine Mittelstandsfamilie – selbst wenn auch diese komplett mittellos in Deutschland angekommen ist. Schon 2015 zeigte sich sehr schnell, dass die syrische Apothekerin fast nichts gemein hat mit einem eritreischen Bauernjungen. Und es deshalb wenig hilfreich ist, ihnen dieselben Maßnahmen anzubieten.
die Kaltmamsell1 Kommentar zu „Journal Montag, 31. August 2020 – Unkompetitiv“
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1. September 2020 um 21:55
Die Story mit der Tanzschule finde ich für ihren Partner ziemlich traurig, wahrscheinlich weil es mir ebenso ging. Ich war mit ca 12 beim Jazzdance, was mir unglaublich viel Spaß machte, bis auffiel das ich als kleines pummliges Mädchen immer nur die Rollen ganz hinten bekam. Hm.
Wenn ich dem Internet glauben darf, hat sich daran bis heute trotz aller Body Positivity nur wenig geändert.