Journal Samstag, 12. September 2020 – Rebellische Haltungen
Sonntag, 13. September 2020 um 7:15(An #12von12 erinnerte ich mich leider zu spät.)
Mit Kopfweh aufgewacht – das mich trotz Aspirin leider nach dem ersten Schluck Milchkaffee doch zurück ins Bett trieb, weil migränoid. Statt Morgensport schlief ich nochmal zwei Stunden.
Dann musste ich aber raus in den Sommertag, denn wir waren bei Schwiegers in Augsburg zum Mittagessen eingeladen.
Auf dem Weg zum Bahnhof entdeckte ich in der Goethestraße eine mir unbekannte Hausentkernungstechnik und bat Herrn Kaltmamsell, ein Foto zu machen (mein Handy steckte im Rucksack):
Bisher war ich riesige, verstärkte Plastikschläuche gewohnt, durch die Bauschutt nach unten in einen Müllcontainer geleitet wird; hier hing nun der Container direkt am Fenster bei den Schuttarbeiten.
Am Münchner Hauptbahnhof viel Polizei: Gestern war eine Großdemo gegen Corona-Maßnahmen angekündigt, zumindest war die Kundgebung am Odeonsplatz untersagt (und damit vor der historisch belasteten Feldherrnhalle) und auf die Theresienwiese verlegt worden.
Bei Schwiegers Wiedersehensfreude und Austausch von OP-Geschichten, manche Eingriffe werden dann doch kompliziert. Außerdem köstliches Mittagessen: Vorspeisensalat, dann geschmorte Ochsenbackerl mit Spätzle und Gemüse, nachmittags Zwetschgendatschi mit Sahne.
Schwiegers sind schon früh ziemlich rumgekommen. (Ich liebe diesen Zeichenstil, den ich aus Illustrationen von Romanen der 1950er kenne.)
Ich lieh mir für die eigene OP die Greifzange aus, die ich laut Klinik-Checkliste mitbringen soll – auch wenn sie laut den beiden OP-Veteranen nicht wirklich benötigt wird.
Zurück in München setzte ich mich auf den Balkon in die warme Luft, von der Theresienwiese schallte noch bis in die Abenddämmerung das Blaffen der Redner gegen Corona-Maßnahmen.
Zum Nachtmahl servierte Herr Kaltmamsell Karottensalat mit Gewürzjoghurt und Kräutern, außerdem ein wenig Blattsalat. Nachtisch Schokolade.
Ich las weiter in Nineteen Eighty-Four. In den Zitaten des “Book” und in den Folterszenen wird deutlich die Methode der totalitären Volksentmachtung nachgezeichnet, erst theoretisch, dann praktisch: Wie man leider an der Politik Donald Trumps erlebt, geht es eben nicht darum, eine konsequente Lüge aufzubauen, sondern eine ständig wechselnde Realität zu behaupten, bis das Volk das Vertrauen in die eigene Wahrnehmung aufgibt – also in einem Moment das eine auszusagen, im nächsten das Gegenteil, als hätte es die vorherige Aussage nie gegeben.
§
Hilmar Klute macht sich in der Wochenend-SZ Gedanken über die rebellische Haltung, die viele der Demonstrierenden gegen Coronamaßnahmen (oder auch hier gegen selbst erfundene Regelungen) verbindet (€):
“Die Maßlosen”.
Zum Vorabend der Studentenrevolte, am 5. Mai 1967, hielt der Schriftsteller Peter Schneider eine Ansprache, die später als “Rasenrede” in die jüngere Kulturgeschichte des Zorns eingehen sollte – und mit der eine gezielte Regelverletzung gewissermaßen den Durchstoß zur Wahrheit bringen sollte. Man wisse ja, sagte Schneider damals vor der Vollversammlung aller Fakultäten der Freien Universität Berlin, dass dem Spießerdeutschen die Gräuel des Vietnamkrieges herzlich egal seien, wohingegen “wir nur einen Rasen zu betreten brauchen, dessen Betreten verboten ist, um ehrliches, allgemeines und nachhaltiges Grauen zu erregen”. Am darauf folgenden Tag wurden Studenten dabei beobachtet, wie sie, zitternd vor Kühnheit, über den Campus-Rasen der FU latschten.
Von heute aus betrachtet, kommt einem diese wilde Übertretung erstens niedlich und zweitens beinahe wie politischer Aberglaube vor: Indem ich meinen Fuß auf ein Stück Rasen setze, das von der bürgerlichen Mehrheit als schützenswert betrachtet wird, trete ich zugleich in den Kampf gegen jene imperialistischen Kräfte ein, die einem Teil der Welt Verderben und Untergang bescheren. Dieses eigentümliche Gemisch aus symbolischem Gefuchtel und der bräsigen Vorstellung, man bewege mit seinem patzigen kleinen Widerstand politisches Weltgeröll, hat sich bis heute gehalten. Aber das Image des Regelverletzers hat sich zusehends zu dessen Nachteil gewandelt.
Denn heute leben wir in einer liberalen Gesellschaft; in Jeans in die Oper zu gehen, als Paar unverheiratet zusammen zu leben, als Arztsohn Musiker zu werden, Rotwein zum Fisch zu trinken – das alles gilt nicht als Rebellentum, sondern als persönliche Entscheidung oder individueller Stil.
Die Regelverletzung ist die auf Abwege geratene Stiefschwester der Ordnung, ihre Auftritte in den Unruhephasen der Bundesrepublik haben sich ins Gedächtnis eingenistet. Die illustren Beispiele reichen von der Weigerung des Kommunarden Fritz Teufel, sich vor dem Berliner Landgericht zu erheben (einschließlich der die Autorität parodierenden Einlenkungsphrase: “Wenn es der Wahrheitsfindung dient”), über den bizarren Einfall des radikalen Studenten Karl-Heinz Pawla, vor dem Schöffengericht Tiergarten zu defäkieren, bis hin zu Joschka Fischers Vereidigung in Turnschuhen. Aber im Dezember 1985, als Fischer in Wiesbaden den Amtseid leistete, war diese Regelverletzung bereits ein fast musealer Anstrich an der Biografie eines Politikers, der sich längst der Regeltreue des Establishments verpflichtet hatte.
Als Vollendung der Umkehrung, in der Regelverletzung sich gegen Grundwerte richtet und nicht mehr gegen aufgesetzte Autorität, identifiziert Klute den Wahlsieg Donald Trumps:
Wie es aussieht, hat sich der Leumund des Regelverletzers in letzter Zeit zu dessen Ungunsten verändert. Und wenn man es weltgeschichtlich terminieren möchte, dann käme man womöglich auf den Herbst 2016, als Donald Trump zum 45. Präsidenten der USA gewählt wurde. Trump hat seine Politik, oder was er dafür hält, auf dem Prinzip der permanenten Regelverletzung begründet. Die Verabschiedung von globalen Übereinkünften, politischen Anstandsregeln und von der Achtung zivilgesellschaftlicher Normen war von Anfang an sein staatspolitisches Credo. Trump verletzt die Regeln derart brutal, konsequent und in solch monströser Zeigefreude, dass selbst dem größten Sympathisanten bizarrer Übertretungskultur die Lust an der Provokation vergehen muss. Wie rasch die programmatische Regelverletzung dazu führen kann, dass ein Land und seine Gesellschaft zugrunde gehen, war in Minneapolis, in Portland und überall dort zu beobachten, wo Menschen spüren, dass die Übereinkünfte der zivilen Welt von staatlicher Seite verhöhnt werden.
Aktuelle Ergänzung ist der britische Premier Boris Johnson, der beschlossen hat, dass ihm der mit der EU vereinbarte und bereits gültige Austrittsvertrag egal ist und UK jetzt einfach etwas anderes macht. Womit er in einer Weise gegen die Regeln verstößt, die Trump seit vier Jahren vormacht.
Unser derzeitiger geselleschaftlicher Konsens ist sogar darauf ausgerichtet, möglichst viel Individualismus und persönliche Entscheidung zuzulassen und nur dann einzugreifen, wenn das große Ganze beschädigt würde. Wie im aktuellen Fall einer Pandemie.
Die Verbindlichkeit der Regeln leuchtete den meisten Menschen bald ein, weil ihre Beherzigung womöglich schon den Weg in Richtung Aufhebung der Regeln vorzeichnen könnte. Irgendwann wurde es zur Pflicht, eine Atemschutzmaske zu tragen, und von dem Zeitpunkt an begann ein immer lauter werdender Chor damit, zur Regelverletzung aufzurufen. Mag sein, dass es der symbolische Nimbus der verschleiernden Maske war, möglicherweise auch ihr Sitz an einer so empfindlichen Stelle, dem Gesicht, das ja für Identität und individuelle Kenntlichmachung steht. Die Maske wurde den Regelkritikern zum Fetisch der Unfreiheit, was eigentlich unsinnig ist, denn mit der Maske vor der Nase hatte man sich ja den Passierschein für beinahe überallhin vor das Gesicht gebunden. Es gab auch gleich die große Palette an Farbreichtum, schickem Zuschnitt oder – für die ganz Korrekten – hygienischem Einmalgebrauch auf den Markt. Gegen die Angst, ein dumpf vor den Mund gepapptes Stück Stoff tragen zu müssen, bediente der Kapitalismus auch weiter die Nachfrage nach individueller Einzigartigkeit.
Aber sicher muss man wachsam bleiben und soll Regelungen hinterfragen, soll man Regeln weiterhin verletzten. Klute zitiert Habermas:
“Der Regelverletzer”, schreibt Habermas, “muss skrupulös prüfen, ob die Wahl spektakulärer Mittel der Situation wirklich angemessen ist und nicht doch nur elitärer Gesinnung oder narzisstischem Antrieb, also einer Anmaßung entspringt.”
die Kaltmamsell
11 Kommentare zu „Journal Samstag, 12. September 2020 – Rebellische Haltungen“
Sie möchten gerne einen Kommentar hinterlassen, scheuen aber die Mühe einer Formulierung? Dann nutzen Sie doch den KOMMENTAROMAT! Ein Klick auf einen der Buttons unten trägt automatisch die gewählte Reaktion in das Kommentarfeld ein, Sternchen darüber und darunter kennzeichnen den Text als KOMMENTAROMAT-generiert. Sie müssen nur noch die Pflichtfelder "Name" und "E-Mail" ausfüllen und den Kommentar abschicken.
13. September 2020 um 11:56
Danke dafür, dass Sie uns eine so lange Strecke von Hilmar Klutes Artikel (und ein wunderbares Habermas-Zitat) schenken.
Ihnen alles Gute!
13. September 2020 um 13:57
“Ich lieh mir für die eigene OP die Greifzange aus”
Vor meinem geistigen Auge die Operation mit eigens mitgebrachtem Operationswerkzeug für die Explantation des Gelenks. Sicher eine Corona-Hygienevorkehrung, jeder bringt bitte die eigene Knochenzange mit und nimmt sie wieder mit heim. Besondere Zeiten erfordern besondere Maßnahmen!
(nachdem es etwas gesackt ist, bin ich doch noch draufgekommen, dass das so eine Hilfe zum Strümpfeanziehen und Reißverschlußzumachen und Sachenaufheben ist.)
Die Begeisterung für Fünfziger Jahre-Illustrationen teile ich komplett! Diese eleganten, leichtfüßigen und auch romantischen, feinen Zeichnungen machen mich richtig sentimental, obwohl ich ja nach den Fünfzigern geboren bin.
Meine Mama hat eine Jahrbuchreihe mit dem Titel “Meine Welt” aufbewahrt, die für Mädchen und junge Frauen gemacht war, und die es noch bis in die Siebziger gab, ich hatte die als junges Mädchen auch.
Aber ihre aus den Fünfziger Jahren waren viel schöner, wegen eben dieser zahlreichen Illustrationen in dem Stil und auch tollen Fotos und auch anspruchsvollen Texten und Reportagen aus aller Welt, die insbesondere junge Frauen ansprechen sollten, von guten Autorinnen und Autoren dieser Zeit. Durchaus keine altbackene Themeneinschränkung auf Mode und Haushaltsführung, oft mit Berufsportraits und Reiseberichten. Aber auch immer schöne Liebesgeschichten und gezeichnete Einrichtungstipps.
Ich habe die vier Bände von meiner Mama von 1954 bis 1957, sie sind in Leinen gebunden und ich hüte sie wie einen Schatz. Man kann sie auch antiquarisch nachkaufen, hier ist zum Beispiel ein Angebot. So schön! Eine Bereicherung für jede Bibliothek.
13. September 2020 um 16:17
Das sieht sehr attraktiv aus, Gaga Nielsen. Faszinierend finde ich, dass es aus dieser Zeit eiserne Gartenmöbel gibt, die exakt wie die Zeichnung auf der Vase aussehen. Wenn man sich darauf setzt, wächst einer sicher automatisch der passende Hut.
13. September 2020 um 17:58
Das Motiv (ich habe es mir mal vergrößert angeschaut) ist überhaupt interessant! Es müsste sich um in etwa diese Perspektive handeln und demzufolge um Tische vom Florian. Der junge Mann mit dem Tablett mit drei Erfrischungsgetränken nähert sich wie ein Kellner der jungen Dame, die bereits einen Eisbecher vor sich hat. Er würde eigentlich auch recht gut als Reisegefährte zu ihr passen, aber was ich zuerst für Freizeitkleidung mit legerem Anorak gehalten habe, ist wohl doch eher die Berufskleidung vom Kellner, die farblich eventuell ein bißchen kellneruntypisch geraten ist.
Auch würde man sich im Florian ja nicht selbst bedienen und ein Tablett in die Hand gedrückt bekommen. Es ist also ein fescher, junger Ober, der zum Eisbecher noch ein Getränk serviert. Die junge Frau mit dem herrlichen Sonnenhut, der auch Audrey Hepburn oder Grace Kelly zur Ehre gereicht hätte, ist demzufolge entweder allein reisend, also auch schon sehr emanzipiert, oder sie ist sogar Venezianerin und genießt an einem Nachmittag zwischen ein paar Erledigungen eine Erfrischung am Markusplatz.
Oder das Getränk ist für ihre Begleitung (Freundin oder Verlobter), welche sich gerade innen im Florian frisch macht. Falls nicht, wird es vielleicht noch was mit dem feschen Ober und der jungen Dame. Ein kleiner Urlaubsflirt. Oder die ganz große Liebe! Meinen Segen haben sie!
13. September 2020 um 18:31
Die Art der Zeichnung habe ich zum ersten Mal in einenm Jugendbuch gesehen“ Violetta heißt man nicht“ hieß es. Leider konnte ich es nicht ergugeln.
Habe auch ein bißchen gebraucht dafür, aber der Turm steht da leider nicht in Venedig. Wenn man im Café Florian sitzt und auf den Markusdom schaut, steht der Turm rechts nicht links. Sorry.
13. September 2020 um 18:40
Dann ist es meinethalben eher diese Sichtachse mit dem Campanile, da wollen wir doch mal nicht kleinlich sein! Es ist jedenfalls nicht London mit dem Big Ben und wenn es ein anderes Café am Markusplatz zeigt, bestimmt auch keines mit Selbstbedienung. Dieser Verfall der Sitten hat ja erst später in der Welt Einzug gehalten, und auch dann aber bestimmt nicht an einer ersten Adresse wie dem Nabel von Venedig!
Ob Campanile links oder rechts und ob Florian oder ein anderes, vielleicht an der Stelle hinphantasiertes Eiscafé, ändert nichts an meinen zielführenden Gedanken zum Szenario!
P.S.
Passend zur Vase: Katharine Hepburn hat 1955 den Farbfilm “Summertime” (dt. “Traum meines Lebens“) in Venedig gedreht, in dem sie eine allein reisende Dame spielt.
13. September 2020 um 19:23
Heißt es vielleicht Valentine heißt man nicht und ist von Barbara Noack, Croco?
13. September 2020 um 19:48
H. hat ein Kochbuch aus dieser Zeit.
https://www.buechergilde.de/tl_files/buechergilde.de/medien/104105/104105.jpg
13. September 2020 um 22:11
Valentine! Vielen Dank, liebe Kaltmamsell. Ach, da hat sich ja was verknotet in meinem Kopf. Aber das Cover erkenne ich sofort wieder. Genau!
Du kennst das Buch?
Das mit dem Turm, liebe Frau Gaga, da will ich mal nicht so sein. Ich hatte mich ja nicht auf Ihre Ausführungen mit Kellner und so bezogen.
14. September 2020 um 5:50
Ich habe es noch aus Jungmädchenzeiten, Croco, und keinerlei Erinnerung an die Handlung. Wahrscheinlich ist es nur wegen des Covers noch nicht rausgeflogen. Kommt auf die Wiederlesensliste.
15. September 2020 um 14:46
Mich hat die entzückende Zeichnung auf der Vase sofort an das alte Buchcover der „Zürcher Verlobung“ von Barbara Noack erinnert. Wie ich diesen Roman geliebt habe! Und danach alle anderen von Noack verschlungen. Danke für diese Erinnerung.