Journal Samstag, 19. September 2020 – Ersatzoktifestchen und Karosh Taha, Im Bauch der Königin
Sonntag, 20. September 2020 um 9:17Nach verhältnismäßig ruhiger Nacht (dreimal unterbrochen, aber jedesmal schnell wieder eingeschlafen) erst mal eine Maschine Wäsche versorgt und gebloggt. So sah ich erst verspätet die Twitter-Timeline der Nacht, die durch die Nachricht vom Tod der US-Richterin Ruth Bader Ginsburg dominiert war (lesenwerter und persönlicher Nachruf in New York: “The Glorious RBG”).
Ich versuchte, meinem geschundenen Körper (gestrern zwickte es auch im Kreuz) genau richtig viel Bewegung zu verschaffen: Bankstütz und eine Runde Rücken-Yoga.
Fürs Frühstück ging ich um die Mittagszeit raus zum Semmelholen. Es war das perfekte Wetter für den Start des schon vor Monaten abgesagten Oktoberfests: golden sonnig, kurzärmelwarm. München hatte sich einen Ersatz für die größte Drogenparty der Welt ausgedacht: “WirtshausWiesn”. Der wurde nicht abgesagt, obwohl am Freitag der kritische Grenzwert von 50 positiven Corona-Tests pro 100.000 Einwohner überschritten worden war, bei dem die Regionen eigentlich einschränkende Maßnahmen verhängen sollen. Und so kam ich auf meinem kurzen Weg an einigen Ersatz-Saufereien vorbei.
Auch im Nußbaumpark wurde Oktifestchen gespielt, ohne Mund-Nasen-Schutz (geht schlecht beim Saufen) oder Abstand. Ein Blaskapellchen spielt auf, Repertoire wie ich es vom Biergarten am Chinesischen Turm kenne: Alles von Landler bis Oh sole mio, ohne Oktoberfest wäre “Rosamunde” vermutlich eine längst vergessene Weise.
Frühsück mit Semmel sowie Resten der Focaccia und des Steaks vom Vorabend. Ich las im Pulli die Wochenendzeitung auf dem Balkon und beschloss, dass Kastanien-Klonken ohne Rosamunde ohnehin eine unvollständige Geräuschkulisse ist. Große Eichkätzchen- und Meisen-Show vorm Balkon. Nach der Zeitung begann ich den im Regal wiederentdeckten persönlichen Kindheits-Klassiker Fünf Kugeln im Kamin von Polly Hobson, Katharina Boje (Übers.) zu lesen und freute mich, dass das wirklich eine sehr schöne Geschichte ist, dass mich die Illustrationen immer noch faszinierten.
Für den Abend waren wir verabredet, in der Fürstenrieder Schwaige im Münchner Westen – zu Fuß in zehn Minuten von der U-Bahn-Station Fürstenried West erreichbar, doch so klein und verwunschen, dass man sich weit weg von der Stadt wähnt. Wir holten unsere Freunde von daheim ab (sie standen schon bereit und ich war um das Vergnügen gebracht, zu klingeln und in die Gegensprechanlage zu rufen: “Darf der Rainer runterkommen zum Spiiiiiiielen?”), wir spazierten mit Hund hinüber ins Grüne. Dabei kamen wir vorbei an Schloss Fürstenried, von dem ich noch nie gehört hatte (München ist dann doch größer, als eine Innenstadtbewohnerin meint); das einstige Jagd- und Lustschloss ist heute ein Exerzitienhaus des Bistums München und Freising.
Herrliche Sichtachse vom Schloss aus auf den heutigen Stolz Bayerns:
In der benachbarten Schwaige saßen wir lauschig draußen im Grünen (samt bei Dämmerung attackierender Stechmücken, ein Begleiter teilte zum Glück Abwehr zum Einreiben aus), aßen herzhaft, tauschten Neuigkeiten aus Familie und Beruf aus. Spät und bereits ziemlich verfroren spazierte ich mit Herrn Kaltmamsell ohne Umweg zur U-Bahn heim.
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Noch eine Buchempfehlung, nämlich das freitags ausgelesene Im Bauch der Königin von Karosh Taha. Ich hatte es für unsere Leserunde vorgeschlagen, nachdem mir die Besprechung in der Süddeutschen aufgefallen war (hier kostenlos zu lesen: “Die Komödie der unkonjugierten Verben”): Offensichtlich erscheinen jetzt die Romane von Einwandererkindern, auf die ich schon lange warte (Tahas Buch war nur eines von mehreren, die mir in den vergangenen Monaten ins Auge fielen).
Attraktiv wurde mir der Roman auch gemacht durch die Veröffentlichung als Wendebuch von zwei Seiten. Das stellte sich allerdings als einzige Enttäuschung der Lektüre heraus: Das Feature hat keine Funktion. Die beiden Teile sind nicht nur aus der Perspektive von zwei deutsch-kurdischen Protagonist*innen geschrieben, sondern folgen auch chronologisch aufeinander – das hätte man gradsogut hintereinander in derselben Richtung veröffentlichen können. (Ich habe sofort die Dumont-Marketingabteilung als Schuldige im Verdacht.) Dabei war diese Veröffentlichungsform der einzige Grund gewesen, den Roman als gedrucktes Buch zu kaufen, denn sie lässt sich im E-Book nicht abbilden. Damit endet mein Genörgel bereits, abgesehen davon möchte ich den Roman nämlich loben.
Die Geschichte spielt irgendwo im Ruhrgebiet und beginnt aus der Sicht des Mädchens Amal. Ihre Familie ist aus dem irakischen Kurdistan hierher gekommen, doch der Vater hält ein Leben nicht aus, in dem er als studierter und einst erfolgreicher Architekt seinen Lebensunterhalt mit ungelernten Hilfsarbeiten verdienen soll. Er geht zurück. Dieser Teil bleibt ganz nah an dem widerborstigen Mädchen, das sich in keine Erwartungen einfügen will, an ihrer klugen und assoziativen Wahrnehmung der Wohnblockumgebung und seiner Menschen, an ihren sprunghaften Gedanken, an ihrer Freundschaft mit dem Nachbarsbuben Younes. Dessen Mutter ist die titelgebende Königin, ebenfalls eine zurückgelassene Ehefrau, doch sie sondert sich mit einem Leben außerhalb der Konventionen von der kurdischen Exil-Gemeinschaft ab. Amal bewerkstelligt schließlich eine Begegnung mit ihrem Vater im Irak.
Ich war gespannt, ob Taha es schaffen würde, dem anderen Romanteil eine klare andere Stimme zu geben: Oh ja, das tut sie und zwar hervorragend. Jetzt folgen wir Raffiq, einem weiteren Nachbarsbuben Amals. Doch er ist älter, erzählt stringenter und gleichzeitig mündlicher eine ganz andere Atmosphäre. Dadurch erfahren wir weitere Seiten des Aufwachsens in der kurdischen Exil-Gemeinschaft, der Protagonisten, der Umgebung, der Freundschaften, Feindschaften. Einer der deutlichen Unterschiede: Raffiq erzählt eine Männerwelt, während Amal die Frauenwelt transportierte.
Mir fiel auf, wie viel interessanter und anziehender ich den Männerteil des Romans fand. Nicht überraschend: Auch im Spanien meiner Kindheits- und Jugendurlaube bei der Familie meines Vaters hatte ich mich viel lieber an meinen Kusin und seine Freunde gehängt als an meine Kusine und ihre Freundinnen. Die Spiele und Themen interessierten mich mehr, während die Mädchengruppe nie über langweilige Äußerlichkeiten und Geplauder hinauszukommen schien und nie etwas Spannendes spielte.
Man hätte den Roman ohne Weiteres als Jugendliteratur vermarkten können – das wäre ein Fehler gewesen wie bei so vieler young adult fiction: Jugendliche im Mittelpunkt einer Geschichte beschränken doch wohl nicht den Leserkreis.
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Apropos angebliche Jugendliteratur: Vor zehn Jahren erschien Wolfgang Herrndorfs Tschick. Die FAZ erinnert an den umgehenden Erfolg und veröffentlicht Leser*innenzuschriften an Herrndorf aus seinem Nachlass:
“Herr Herrndorf, wie haben Sie das gemacht?”
7 Kommentare zu „Journal Samstag, 19. September 2020 – Ersatzoktifestchen und Karosh Taha, Im Bauch der Königin“
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20. September 2020 um 9:48
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Gerne gelesen
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20. September 2020 um 10:26
Lieblingswort: “Ersatz-Sauferei”
Empfehlenswert auch: “Arbeit und Struktur” von WH. Im Netz hier: https://www.wolfgang-herrndorf.de/
Als Pinguin in die Psychiatrie — so soll es sein!
Auch als Buch erschienen.
Schönen Sonntag!
Die M.
20. September 2020 um 10:58
Blog zu Lebzeiten live mitgelesen, die M., in Buchform 2014.
20. September 2020 um 11:13
Gruss aus dem Paralleluniversum: Fünf Kugeln im Kamin auch gerade wiedergelesen (die Kinder räumen um und entwerfen Jugendzimmer …). Grosse Freude
a
20. September 2020 um 12:08
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Gerne gelesen
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20. September 2020 um 20:15
Hab ich mir gedacht, Frau Kaltmamsell, ist eher für die Mitleser. Die M.
20. September 2020 um 22:24
Wenn Sie schon die herrliche Sichtachse vom Schloss Fürstenried aus erwähnen, die Kaltmamsell, die war nämlich wirklich einmal herrlich geplant. An deren Ende liegen die Türme der Frauenkirche. Alleine die Verwendung des Wortes “Sichtachse” lässt mich vermuten, dass Ihre Bekannten darauf hingewiesen haben. :-)
Das Ende der Garmischer Bundesstraße, das der Achse bis zum Luise-Kiesselbach-Platz folgte, störte auch nicht groß, nur die Autobahnplaner haben dann mit ihren Schilderbrücken alles zerstört. So bleibt einem, die zentral-monarchistische Planung auf dem Stadtplan nachzuvollziehen und sich daran – wie auch an einer Reihe anderer solcher Achsen – zu erfreuen.