(An #12von12 erinnerte ich mich leider zu spät.)
Mit Kopfweh aufgewacht – das mich trotz Aspirin leider nach dem ersten Schluck Milchkaffee doch zurück ins Bett trieb, weil migränoid. Statt Morgensport schlief ich nochmal zwei Stunden.
Dann musste ich aber raus in den Sommertag, denn wir waren bei Schwiegers in Augsburg zum Mittagessen eingeladen.
Auf dem Weg zum Bahnhof entdeckte ich in der Goethestraße eine mir unbekannte Hausentkernungstechnik und bat Herrn Kaltmamsell, ein Foto zu machen (mein Handy steckte im Rucksack):
Bisher war ich riesige, verstärkte Plastikschläuche gewohnt, durch die Bauschutt nach unten in einen Müllcontainer geleitet wird; hier hing nun der Container direkt am Fenster bei den Schuttarbeiten.
Am Münchner Hauptbahnhof viel Polizei: Gestern war eine Großdemo gegen Corona-Maßnahmen angekündigt, zumindest war die Kundgebung am Odeonsplatz untersagt (und damit vor der historisch belasteten Feldherrnhalle) und auf die Theresienwiese verlegt worden.
Bei Schwiegers Wiedersehensfreude und Austausch von OP-Geschichten, manche Eingriffe werden dann doch kompliziert. Außerdem köstliches Mittagessen: Vorspeisensalat, dann geschmorte Ochsenbackerl mit Spätzle und Gemüse, nachmittags Zwetschgendatschi mit Sahne.
Schwiegers sind schon früh ziemlich rumgekommen. (Ich liebe diesen Zeichenstil, den ich aus Illustrationen von Romanen der 1950er kenne.)
Ich lieh mir für die eigene OP die Greifzange aus, die ich laut Klinik-Checkliste mitbringen soll – auch wenn sie laut den beiden OP-Veteranen nicht wirklich benötigt wird.
Zurück in München setzte ich mich auf den Balkon in die warme Luft, von der Theresienwiese schallte noch bis in die Abenddämmerung das Blaffen der Redner gegen Corona-Maßnahmen.
Zum Nachtmahl servierte Herr Kaltmamsell Karottensalat mit Gewürzjoghurt und Kräutern, außerdem ein wenig Blattsalat. Nachtisch Schokolade.
Ich las weiter in Nineteen Eighty-Four. In den Zitaten des “Book” und in den Folterszenen wird deutlich die Methode der totalitären Volksentmachtung nachgezeichnet, erst theoretisch, dann praktisch: Wie man leider an der Politik Donald Trumps erlebt, geht es eben nicht darum, eine konsequente Lüge aufzubauen, sondern eine ständig wechselnde Realität zu behaupten, bis das Volk das Vertrauen in die eigene Wahrnehmung aufgibt – also in einem Moment das eine auszusagen, im nächsten das Gegenteil, als hätte es die vorherige Aussage nie gegeben.
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Hilmar Klute macht sich in der Wochenend-SZ Gedanken über die rebellische Haltung, die viele der Demonstrierenden gegen Coronamaßnahmen (oder auch hier gegen selbst erfundene Regelungen) verbindet (€):
“Die Maßlosen”.
Zum Vorabend der Studentenrevolte, am 5. Mai 1967, hielt der Schriftsteller Peter Schneider eine Ansprache, die später als “Rasenrede” in die jüngere Kulturgeschichte des Zorns eingehen sollte – und mit der eine gezielte Regelverletzung gewissermaßen den Durchstoß zur Wahrheit bringen sollte. Man wisse ja, sagte Schneider damals vor der Vollversammlung aller Fakultäten der Freien Universität Berlin, dass dem Spießerdeutschen die Gräuel des Vietnamkrieges herzlich egal seien, wohingegen “wir nur einen Rasen zu betreten brauchen, dessen Betreten verboten ist, um ehrliches, allgemeines und nachhaltiges Grauen zu erregen”. Am darauf folgenden Tag wurden Studenten dabei beobachtet, wie sie, zitternd vor Kühnheit, über den Campus-Rasen der FU latschten.
Von heute aus betrachtet, kommt einem diese wilde Übertretung erstens niedlich und zweitens beinahe wie politischer Aberglaube vor: Indem ich meinen Fuß auf ein Stück Rasen setze, das von der bürgerlichen Mehrheit als schützenswert betrachtet wird, trete ich zugleich in den Kampf gegen jene imperialistischen Kräfte ein, die einem Teil der Welt Verderben und Untergang bescheren. Dieses eigentümliche Gemisch aus symbolischem Gefuchtel und der bräsigen Vorstellung, man bewege mit seinem patzigen kleinen Widerstand politisches Weltgeröll, hat sich bis heute gehalten. Aber das Image des Regelverletzers hat sich zusehends zu dessen Nachteil gewandelt.
Denn heute leben wir in einer liberalen Gesellschaft; in Jeans in die Oper zu gehen, als Paar unverheiratet zusammen zu leben, als Arztsohn Musiker zu werden, Rotwein zum Fisch zu trinken – das alles gilt nicht als Rebellentum, sondern als persönliche Entscheidung oder individueller Stil.
Die Regelverletzung ist die auf Abwege geratene Stiefschwester der Ordnung, ihre Auftritte in den Unruhephasen der Bundesrepublik haben sich ins Gedächtnis eingenistet. Die illustren Beispiele reichen von der Weigerung des Kommunarden Fritz Teufel, sich vor dem Berliner Landgericht zu erheben (einschließlich der die Autorität parodierenden Einlenkungsphrase: “Wenn es der Wahrheitsfindung dient”), über den bizarren Einfall des radikalen Studenten Karl-Heinz Pawla, vor dem Schöffengericht Tiergarten zu defäkieren, bis hin zu Joschka Fischers Vereidigung in Turnschuhen. Aber im Dezember 1985, als Fischer in Wiesbaden den Amtseid leistete, war diese Regelverletzung bereits ein fast musealer Anstrich an der Biografie eines Politikers, der sich längst der Regeltreue des Establishments verpflichtet hatte.
Als Vollendung der Umkehrung, in der Regelverletzung sich gegen Grundwerte richtet und nicht mehr gegen aufgesetzte Autorität, identifiziert Klute den Wahlsieg Donald Trumps:
Wie es aussieht, hat sich der Leumund des Regelverletzers in letzter Zeit zu dessen Ungunsten verändert. Und wenn man es weltgeschichtlich terminieren möchte, dann käme man womöglich auf den Herbst 2016, als Donald Trump zum 45. Präsidenten der USA gewählt wurde. Trump hat seine Politik, oder was er dafür hält, auf dem Prinzip der permanenten Regelverletzung begründet. Die Verabschiedung von globalen Übereinkünften, politischen Anstandsregeln und von der Achtung zivilgesellschaftlicher Normen war von Anfang an sein staatspolitisches Credo. Trump verletzt die Regeln derart brutal, konsequent und in solch monströser Zeigefreude, dass selbst dem größten Sympathisanten bizarrer Übertretungskultur die Lust an der Provokation vergehen muss. Wie rasch die programmatische Regelverletzung dazu führen kann, dass ein Land und seine Gesellschaft zugrunde gehen, war in Minneapolis, in Portland und überall dort zu beobachten, wo Menschen spüren, dass die Übereinkünfte der zivilen Welt von staatlicher Seite verhöhnt werden.
Aktuelle Ergänzung ist der britische Premier Boris Johnson, der beschlossen hat, dass ihm der mit der EU vereinbarte und bereits gültige Austrittsvertrag egal ist und UK jetzt einfach etwas anderes macht. Womit er in einer Weise gegen die Regeln verstößt, die Trump seit vier Jahren vormacht.
Unser derzeitiger geselleschaftlicher Konsens ist sogar darauf ausgerichtet, möglichst viel Individualismus und persönliche Entscheidung zuzulassen und nur dann einzugreifen, wenn das große Ganze beschädigt würde. Wie im aktuellen Fall einer Pandemie.
Die Verbindlichkeit der Regeln leuchtete den meisten Menschen bald ein, weil ihre Beherzigung womöglich schon den Weg in Richtung Aufhebung der Regeln vorzeichnen könnte. Irgendwann wurde es zur Pflicht, eine Atemschutzmaske zu tragen, und von dem Zeitpunkt an begann ein immer lauter werdender Chor damit, zur Regelverletzung aufzurufen. Mag sein, dass es der symbolische Nimbus der verschleiernden Maske war, möglicherweise auch ihr Sitz an einer so empfindlichen Stelle, dem Gesicht, das ja für Identität und individuelle Kenntlichmachung steht. Die Maske wurde den Regelkritikern zum Fetisch der Unfreiheit, was eigentlich unsinnig ist, denn mit der Maske vor der Nase hatte man sich ja den Passierschein für beinahe überallhin vor das Gesicht gebunden. Es gab auch gleich die große Palette an Farbreichtum, schickem Zuschnitt oder – für die ganz Korrekten – hygienischem Einmalgebrauch auf den Markt. Gegen die Angst, ein dumpf vor den Mund gepapptes Stück Stoff tragen zu müssen, bediente der Kapitalismus auch weiter die Nachfrage nach individueller Einzigartigkeit.
Aber sicher muss man wachsam bleiben und soll Regelungen hinterfragen, soll man Regeln weiterhin verletzten. Klute zitiert Habermas:
“Der Regelverletzer”, schreibt Habermas, “muss skrupulös prüfen, ob die Wahl spektakulärer Mittel der Situation wirklich angemessen ist und nicht doch nur elitärer Gesinnung oder narzisstischem Antrieb, also einer Anmaßung entspringt.”