Journal Donnerstag, 8. Oktober 2020 – Erste Bekanntschaft mit Kompressionsstrumpf

Freitag, 9. Oktober 2020 um 7:54

Mittelgute Nacht, vielleicht lasse ich mir zum ersten Mal im Leben ein leichtes Schlafmittel geben, um mich an den Schlaf von früher erinnern zu lassen. Das Kopfweh werde ich wohl als Dauerbegleiter akzeptieren müssen (trinke genug, bekomme eigentlich ordentlich Schmerzmittel).

Zwei medizinische Termine noch vor dem Frühstück. Ich irrte ein wenig durchs Haus, weil die Raumnummern keiner äußeren Logik folgen, sondern auf geheimnisvolle Weise den Patientenzimmernummern zugeordnet sind: Wenn ich fragte “Ich muss zu Raum F3, wo ist denn der?” wurde ich von erfahreneren Insassinnen erst gefragt, welche Funktion der habe (Arztzimmer, Stationszimmer etc.), dann nach meiner Zimmernummer. Diese Kombination ergab dreimal korrekte Hinweise. Überhaupt hielt man sich bei Untersuchungen nicht mit Namen auf, ich lernte schnell, mich mit meiner Zimmernummer vorzustellen.

Frühstück in einem der beiden konsequent verzirbelnussten Restaurants (Angstellte alle in Dirndln). Die einzelnen Plätze sind mit Plexiglas-Wänden auf den Tischen getrennt, ich fand meinen an einem Zweiertisch. Das bedeutet deutliche erschwerte Kontaktvermeidung, denn je mehr Menschen an einem Tisch, desto einfacher kann sich eine wegducken. Da ich mit Krücken unterwegs bin, musste ich mir vom Personal helfen lassen; ich bat lediglich um süßen Schwarztee, Rückkehr zu alten Essgewohnheiten.

Blick aus meinem Zimmer.

Die Unterlagen der Klinik, die mir bereits vor Wochen nach Hause geschickt worden waren, enthielten auch Zugangsdaten für eine eigene App, mit der ich mir meinen Therapieplan auf dem Smartphone anzeigen lassen könne. Ein ausgezeichnetes Mittel gegen die Zettel-Schlamperei, die ich 2019 in der Reha erzeugt hatte. Also holte ich sie mir aufs Telefon, klickte und meldete ich mich durch die Anmeldebildschirme. Ergebnis: “Sie haben heute keine Termine” – der Therapieplan auf Papier listete vier auf.

Vormittags erster Termin Physiotherapie, mich begrüßte eine herzliche junge Frau und stellte sich vor. Heller Lichtblick: Jetzt fühlte ich mich gut aufgehoben und nicht mehr als Zimmernummer. Persönlich, freundlich, zugewandt, mir wurden viele Fragen gestellt, ich bekam viele Fragen beantwortet, und auf die Feststellung, dass ich bis Ende der Woche nur noch einen weiteren Bewegungstermin hatte, sorgte Frau Physio gleich mal für eine Maschineneinweisung am selben Tag. Am schärfsten betonte sie das Verbot des Beugens/Abknickens des neuen Gelenks in den ersten drei Monaten – na gut, dann nehme ich das halt ernster.

Zurück auf dem Zimmer Ärztevisite. Die Narbe sehe wunderbar aus, die Schwellung sei unwesentlich. Zu Letzterem hakte ich nach, weil ich die operierte Seite als deutlich dicker ist als die gesunde empfinde. Die Ärztin erklärte mir Hintergründe und welche Symptome tatsächlich Sorge machen würden – ich war beruhigt.

Die spontan eingeschobene erste Maschineneinweisung kollidierte allerdings mit dem Mittagessen. Ich snackte vorher eine Orange vom Frühstücksbuffet und eine Hand voll Nüsse aus meinem Notbestand, so ging’s. Im Sportkeller zeigte mir ein aufmerksamer Physio einige spezielle Hüft-Übungen, die ich in einer Einheit am Freitag intensivieren darf, setzte aber energisch das Wochenende als sportfreie Ruhetage an (“Alltagsbewegung” darf ich aber, ich habe gefragt): “Die aus Garmisch san so guad operiert, dass imma glei joggen woin.”

Gegen den Hunger setzte ich mich in die Cafeteria zu einem mächtigen Stück Kirschstreusel (sehr gut und sättigend) an Capucchino (mittel). Das hob tatsächlich bis zum Abendessen kurz vor sieben.

Das Wetter war herrlich, ich erkundete im warmen Sonnenschein die Grünanlage der Rehaklinik mit See-Anschluss – das erste richtige Draußen seit einer Woche.

Es gab sogar eine hauseigene Kapelle – wo ich der böse gebeutelten DonnerBella das versprochene Opferkerzerl aufstellen konnte. (Beim zugehörigen Ave Maria kniff ich allerdings, so weit geht mein Voodoo-Glaube nicht.)

Zurück im Zimmer war ich bettschwer: Eine Stunde Siesta, tief und erholsam.

Vorm Fenster Amseln, Spatzen, Mönchgrasmücke.

Einen Termin hatte ich noch, nämlich zur Anpassung eines Kompressionsstrumpfs für das operierte Bein. Bis gestern freute ich mich, dass ich die OP ohne größere Hämatome überstanden hatte. Doch als ich nach dem Grunde für diesen Termin fragte, deutete jemand auf die Rückseite des Beins. Hahaha nein, von hinten in den Spiegel hatte ich nicht geschaut, das, äh, oh.

Ein Exemplar für meine Maße hatte Herr Orthopädiehaus gleich dabei und zog ihn mir an. Angenehm ist was Anderes, das wurde über die nächsten Stunden auch nicht besser. Noch verstehe ich nicht, warum ich dem Hämatom nicht die Zeit zum Abbau geben soll, die es halt braucht und bilde mir ein, dass meine arme, ohnehin misshandelte Oberschenkelmuskulatur jammert: Das auch noch!

Hungrig ging ich kurz vor sieben zum Abendbrot. Das letzte Gericht, das ich mir noch nicht selbst hatte aussuchen können, war “Gemischte Streichleberwurst, Cornichons, Laugensemmel” – only in Bavaria?

Ich nahm’s als Variation des Brotzeit-Brettls und wurde gut satt.

Noch ein Spaziergang im Park: Herrliche Luft, wenn auch sehr kalt. Sehnsüchtig blickte ich ins erleuchtete, aber leere Schwimmbad.

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Der diesjährige Physiknobelpreis an unter anderem Robert Penrose ist ein schöner Anlass, Aleks Scholz’ Text von 2012 hervorzukramen:
“Mein Leben mit Roger Penrose”.

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Zum Chemienobelpreis 2020 an Emmanuelle Charpentier und Jennifer Doudna schreibt in Spektrum Lars Fischer Erhellendes, sowohl zur ausgezeichneten Entwicklung der Genschere CRISPR-Cas9 als auch zum Gehackel um die damit verbundenen Rechte:
“Zwischen Patentstreit und Gentech-Debatte”.

Auch die menschliche Seite der Entwicklung beleuchtet für die Süddeutsche Katrin Zinkat (€):
“Korrekturen im Code des Lebens”.

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Und so begab es sich, dass ich meine Geburtsstadt lobend hervorhob: Ingolstadt will das Ernten von stadteigenen Obstbäumen fördern und erleichtern.
“Ein Herz für Kirschdiebe”.
Kindheitserinnerungen, wie ich mit einer Freundin zu den Kirschbäumen an der Gerolfinger Straße radelte, mithilfe der Radln raufkletterte und mich satt aß – damals sicher, dass ich gerade schlimmen Diebstahl beging.

die Kaltmamsell

12 Kommentare zu „Journal Donnerstag, 8. Oktober 2020 – Erste Bekanntschaft mit Kompressionsstrumpf“

  1. Beate meint:

    KEIN Gesundheitstipp, sondern ein “Geheimtipp” zum Schlafen: Es gibt alte Antihistaminika, die ganz wunderbar beim einschlafen helfen und weniger Nebenwirkungen haben als die “richtigen” Schlafmittel.

    Liebe Grüße und weiterhin gute Besserung!

  2. Croco meint:

    Welch bezaubernde Aussicht!
    Eine gute Zeit wünsche ich, trotz Überdosis Dirndl und Brotzeit.

  3. Friederike meint:

    Schön, dass es Ihnen offenbar schnell besser geht.
    Eine Frage habe ich (vielleicht schon von anderen gestellt): Wie verträgt sich das “Hüfte nicht zu sehr beugen” eigentlich mit Sitzen, z. B. beim Essen?
    Weiter alles Gute und herzliche Grüße!

  4. adelhaid meint:

    bei diesem ganzen dirndlquatsch würde ich wahnsinnig werden. ich bin mir recht sicher, dass hier im norden niemand auf die idee käme, arbeitende menschen in fischerhemden zu stecken, wenn sie nicht gerade shanty-chorsingende, fischfachverkaufende, oder vielleicht noch teeverkaufende sind. mannmannmann… zaun drum, eintritt verlangen.

  5. Turtle meint:

    Hübsche Aussicht aber bei dem Abendbrot hätte ich nur die Gürkchen geknabbert. Bin zwar seit über 10 Jahren Beutefränkin aber Laugengebäck und feine Leberwurst sind mir immer noch ein Graus (grobe Pfälzer Leberwurst ist aber sehr gut)

  6. skh meint:

    Freut mich dass Sie ausgerechnet über die Physiotherapeut*innen Gutes berichten können, auf die kommt es ja vermutlich doch auch an bei so einer Reha.

    Möge es Ihnen jeden Tag besser gehen!

  7. obadoba meint:

    Ah, die Terrasse und der Seeblick kommen mir sehr bekannt vor :-)

    Ich war da wegen der ‘Sport’-Reha, die auch die kaputten Skisportler immer wieder hinkriegt, kam aber leider nicht in den Genuß derselben. ‘Hinbekommen’ haben die mich trotzdem … wobei man das ja eigentlich selber machen muss und von aussen lediglich Hilfestellung bekommen kann.

    Beste Wünsche für die weitere Genesung!

  8. die M. meint:

    Zu der Wurst fehlen noch ein paar weitere Lauenstangen, oder nicht?! ;-)
    Sitzen beim Essen: Sie dürfen wahrscheinlich im 90-Grad-Winkel sitzen?
    Gute Besserung und so viel Ruhe, wie sie benötigen
    wünscht
    die M.

  9. Sabine Kerschbaumer meint:

    Was ich mich jetzt doch zu fragen wage: Wie trocknet man sich da die Füße ab. Oder zieht Schuhe an?

  10. die Kaltmamsell meint:

    Dieses Detail kann ich auch als Nicht-Medizinerin beantworten, Sabine Kerschbaumer: Den rechten Fuß trockne ich mithilfe des linken ab (zum linken beuge ich mich mit nach hinten gestrecktem rechten Bein), in den rechten Schuh schlüpfe ich mithilfe eines langen Schuhlöffels – meine Turnschuhe muss ich dafür halt locker vorbinden. Linker Schuh wieder in Waage-Haltung.
    Echte Geschicklichkeit erfordern aber Socken: Sobald ich sie auch nur mit einer rechten Zehe erwische, kann ich das Bein im Knie nach hinten knicken und von hinten weitermachen.

  11. Sabine Kerschbaumer meint:

    Es empfiehlt sich also auf jeden Fall, eine gewisse Gelenkigkeit vor der Operation zu üben. Es scheint dann sogar einfacher, als ich vermutet habe, was mich wirklich, wirklich freut.

    Weiterhin gute Besserung!

  12. Susann meint:

    @adelhaid

    Ich glaube, Sie verstehen da was falsch. Dirndl mag für Servierpersonal eine Verkleidung sein (und ich finde es, gelinde gesagt, befremdlich, das Servierpersonal in einer Rehaeinrichtung eines tragen zu lassen), aber für viele ist es auch ein gern getragenes Kleidungsstück, mit der man seine kulturelle Identität ausdrückt – ungeachtet des Alters und der Kleidergröße.
    In meiner Heimat Österreich gibt es ganz selbstverständlich unterschiedliche “Trachten” in unterschiedlichen Städt(ch)en, keine ernstzunehmende Ausseerin würde je ein Gmundner Dirndl anziehen, und die VHS-Kurse zur Goldhaubenherstellung sind stets ausgebucht. Ich finde das wunderbar.
    Natürlich kann man argumentieren, dass das “Dirndl” eine Erfindung von Städter/innen aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert ist, aber mei, so ist das mit der Kultur, die sich immer wieder neu erfindet. Ich persönlich finde die Polyesterdirndl meiner Schülerinnen auch sehr scheußlich, aber sie tragen sie gerne, und das ist ja die Hauptsach’.
    Aber wer mit so wenig Bereitschaft zum Verständnis auf Bayern blickt wie Sie, ist wahrscheinlich extra Bavariam eh besser aufgehoben.

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