Journal Montag, 19. Oktober 2020 – Ungewohntes Wasser
Dienstag, 20. Oktober 2020 um 7:53Das gestrige Therapieprogramm enthielt unter anderem fünf Sport-Einheiten; nach der Erschöpfung allein schon durch Spazierengehen war ich gespannt, was das mit mir machen würde. Ergebnis: Gar nicht so schlimm, war wohl eine andere Art Belastung.
Ich hatte gut und vor allem lang geschlafen. Obwohl ich Sonntagabend schon um halb zehn in tiefen Schlaf gefallen war, stellte ich nachts den Wecker auf sieben vor – und hätte auch dann noch gerne weiter geschlafen.
Zum Frühstück nur Tee, ich hatte keinen Hunger – so kenne ich mich.
Das Programm begann passiv mit der doofen Bewegungsschiene, aber dann ging’s ziemlich aktiv weiter, nämlich mit Pilates (bei einem Trainer, der keine Atem-Unmöglichkeiten forderte) und einer Stunde freier Reha-Gymnastik.
In der Visite sprach ich meine Schmerzen an. Der Arzt untersuchte mich mit Heben und Drücken, stellte fest, dass das Hüftgelenk selbst in Ordnung sei, es sich um reine Muskelschmerzen handle, die er auf die ungleiche Belastung zurückführte. Das Pflaster kam weg, ich konnte meine Narbe ausführlich ansehen (noch ziemlich gruslig).
Ich freute mich über Zeit und Gelegenheit für einen Cappuccino.
Trotz Sonnenschein draußen graue Schatten auf dem Gemüt.
Mittags mit wenig Appetit Nudeln mit Genüsesoße und ein wenig Salat gegessen, auf den Krapfen zum Dessert hatte ich überhaupt keine Lust.
Lymphamat im 3. Stock, das beste daran die sonnige und herrliche Aussicht auf den Tegernsee.
Einzelstunde Reha-Gymnastik. Ich schilderte wieder meine Beschwerden, bekam gezielte Dehn-Übungen. Und den Rat, nie über die Schmerzgrenze hinaus zu sporteln, darauf bitte auch im ersten Wassertraining zu achten, auf die ich mich so freute. Heilen zieht wohl wirklich viel Energie, meine Erschöpfung nach ein bisschen Spaziergang sei ganz normal.
Auch in der Einzel-Physio thematisierte ich meine Schmerzen, Herr Physio stellte sich darauf ein. Er ließ mich abschließend auf einem Bein stehen, auch auf dem operierten: Kein schiefes Becken, die Kraft ist voll da, das wird.
Die ersehnte Wassergymnastik war dann sehr seltsam. Wasser ist ja meine enge Freundin seit meinem Säuglingsschwimmkurs, und so lockte es mich beim Hineinsteigen wie gewohnt mit: Schwimm mich! Spiel mit mir! Doch das durfte ich ja nicht, ich musste die körperliche Vertrautheit ähnlich vehement abwehren wie die mit Herr Kaltmamsell am Samstag. Die Gymnastik war dann nett (wir waren nur zu zweit plus Trainerin, um uns zogen ein paar Patientinnen und Patienten Bähnchen), und das wehe Hüftgelenk wackelte genug, um den Respekt aufrecht zu erhalten.
Nicht vergessen hatte ich die Kehrseite der so angenehmen Wassergymnastik: Für 25 Minuten Bewegung derselbe Rundum-Terz wie für anderthalb Stunden Schwimmen, also vorher umziehen und duschen, nachher den Chlorgeruch abschäumen, duschen, haareföhnen, eincremen, nassen Badeanzug und feuchten Bademantel irgendwo zum Trocknen drappieren. In dieser Rehaklinik kommt ein langer Weg zum Schwimmbad dazu: Zwar konnte ich den in Bademantel und Schlappen diskret über das Untergeschoß zurücklegen, also durch Turnhallen und die Gänge dazwischen statt durch Cafeteria und Foyer – begegnete in diesem Aufzug allerdings immer noch viel zu vielen Nicht-Schwimm-Menschen für meinen Geschmack.
Zum Abendessen hatte ich dann doch Hunger – eigentlich sogar davor, ich musste mit Nüssen und Trockenaprikosen überbrücken. Es gab Kartoffelsuppe und griechischen Salat, wieder bedauerte ich die armen Tomaten, die in der Kühlung Geschmack verlieren, dafür Pappkarton-Konsistenz annehmen mussten.
Start einer neuen Lektüre: Celeste Ng, Little Fires Everywhere.
Vielleicht sollte ich erleichtert sein, dass 2020 für mich nicht nur aus Corona besteht. Sondern auch aus #ProjektneueHüfte.
Auch wenn ich es hier nicht notiert habe: Mich beunruhigt die rapide ansteigende Zahl von Corona-Infektionen in Europa, in Deutschland, in München. Theoretisch wusste ich zwar, dass wir noch viel Pandemie vor uns haben und es noch viele Monate bis zu einem Nachher ist. Doch ganz praktisch fürchte ich mich jetzt in der zweiten Welle vor apokalyptischen Zuständen mit vielen Betroffenen und Toten ersten Grades (also wegen Covid-19) und zweiten (wegen anderer Erkrankungen, die ein überlastetes Gesundheitssystem nicht mehr auffangen kann). Und mich bedrücken die Einschränkungen des Alltags auch ohne Lock-down: Keine Ausflüge, keine Besuche bei Freunden und Familie, jeder Schritt außer Haus erfordert Abwägung, keine langfristige Planung.
8 Kommentare zu „Journal Montag, 19. Oktober 2020 – Ungewohntes Wasser“
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20. Oktober 2020 um 8:00
Ui, endlich mal ein Buch, das ich VOR Dir gelesen habe :-). Ich fand es sehr, sehr, sehr grossartig, ganz besonders im Vergleich zu der Serienadaption, die, für sich stehend vermutlich nicht mal schlecht ist, aber nach dem Buch wie eine RTL2-Version davon wirkt. (OK, ich muss das mit dem Pitchen noch üben, das Buch ist wirklich toll! Hast du das erste Buch von ihr schon gelesen?)
(Alles Gute, wie immer und die ganze Zeit.)
20. Oktober 2020 um 8:02
Ich bin mir auch ziemlich sicher, dass ich den Tipp bei dir aufgeschnappt habe, Frau Brüllen, zum Serienstart schriebst du etwas ausführlicher darüber. Es lässt sich auch jeden Fall schon mal gut (und unheilverkündend) an – danke!
20. Oktober 2020 um 8:10
>nie über die Schmerzgrenze hinaus zu sporteln
Meine Worte!
>wenig Appetit
Warnsignal!
>in Bademantel und Schlappen
Aber so stelle ich mir das in einer Rehaklinik vor: Dass da lauter Leute in Bademänteln herumlaufen!
>ähnlich vehement abwehren
Hihi.
20. Oktober 2020 um 9:01
Yep, Heilung ist jetzt dein Hauptjob und braucht dich komplett. Umso sanfter, desto besser die langfristigen Folgen. Wenig Appetit kann ein gutes Zeichen dafür sein. Schau mal bei Johann Schroth nach, keine tierischen Fette, kein Eiweiß etc. sind ein elementarer Bestandteil intensiver Heilung, da sie den Körper entlasten. Zur Unterstützung empfiehlt er Weisswein jeden 2. Tag (Trinktage) ;-) #Kur
Toi, toi, toi!
20. Oktober 2020 um 11:51
… und wir sind mit Lehrern verheiratet. Mein ewiges Schulkind zudem noch in der mobilen Reserve, was mein Gemüt sehr grau werden lässt. Landsberg ist Stand heute auch über 50….
Ich wünsche Ihnen weiterhin gute Besserung und trotz allem noch schöne Reha-Tage.
20. Oktober 2020 um 14:21
Little Fires Everywhere habe ich sehr gern gelesen. Ich hoffe, das Buch bringt wenigstens ein paar Stunden Abschalten vom Grau im Gemüt. Sorgen machen erscheint im Moment für uns fast wie ein Hauptberuf und tut so gar nicht gut. Weiterhin Speedy Recovery!
20. Oktober 2020 um 18:07
Interessant, dass Wasser die Freundin und nicht der Freund ist. Habe noch nie systematisch darüber nachgedacht, welche grammatikalischen Entscheidungen man in solchen Fällen trifft. Aber zumindest auf Französisch ist l’eau ja feminin, da ist es in jedem Fall une amie. Gute Heilung weiterhin!
20. Oktober 2020 um 18:19
Ja, hier (Virus-Moloch Neukölln) auch sorgenvoll umwölktes Gemüt ob der Pandemie-Perspektive. Seit letztem Weihnachten Familie und Freunde in München nicht gesehen und kein Licht am Horizont. Mein Kleinkind kann sich an niemanden dort mehr erinnern, es ist herzzerreißend. Noch dazu liegt meine Mutter derzeit auch wegen einer OP im KKH. Weihnachten werden wir wohl fern von den Lieben hier verbringen müssen.
On a different, brighter note: Little fires everywhere fand ich auch sehr super. Viel Lesevergnügen mit Blick auf den See wünsche ich!