Journal Montag, 23. November 2020 – Die Rückkehr der Lendenwirbelsäule
Dienstag, 24. November 2020Während ich es durchaus kenne, dass körperliche Beschwerden im Wartezimmer eines Arztes oder einer Ärztin verschwinden, saß ich diesmal innerlich wimmernd im Wartezimmer des Orthopäden (OP-Heilungs-Checktermin vor Wochen vereinbart) weil mein Bein von Leiste über Adduktoren, Oberschenkel und Knie bis Schienbein so arg schmerzte.
Nach kurzem Gespräch mit dem Arzt: Alles auf Anfang. Es ist nicht die Hüfte, sondern die vorgefallene Bandscheibe in der Lendenwirbelsäule, die den Ischiasnerv reizt. Das Argument von Dr. Orth.: Die Beschreibung meiner Beschwerden glich fast aufs Wort der vor einem Jahr, minus Hüfte.
Also Spritze an die gereizte Nervenwurzel, auch wenn ihre Vorgängerinnen allesamt nichts gebracht haben. Fast gravottisch wurde ich aber, als er mich schon wieder eindringlich aufforderte, Bankstütz und Seitstütz zu üben, die Lendenwirbelsäule brauche einen stabilen Rumpf. Beteuern etwa alle Patientinnen, dass sie echt ehrlich seit Jahren mit Krafttraining genau dafür sorgen – und lügen alle außer mir?
Anscheinend ist also eines der pessimistischen Szenarien eingetreten, die ich in den Monaten vor der OP vor Augen hatte hatte: Dass nämlich die Geschichte mit Ersatz des entzündeten und arthrotischen Hüftgelenks nicht zu Ende ist. Schließlich ist mein Problem mit der schiefen und verwachsenen LWS seit Jahren da und dokumentiert. Was allerdings nicht erklärt, warum ich nach der OP ein paar Wochen Ruhe hatte und lediglich OP-bedingte Schmerzen.
Bevor ich jetzt abwäge und weitere Schritte plane, muss ich erst mal eine Runde verzweifeln.
Ein Besuch bei den Freunden mit viel Platz zur Putzmannflucht lenkte mich zwar angenehmst für zwei Stunden ab, außerdem bekam ich köstlichen Waldviertler Mohnkuchen nach Plachutta, das verschob den Verzweiflungsausbruch allerdings lediglich. Als ich anschließend mit großen Schmerzen zu einer kleinen Einkaufsrunde hinkte, war ich sehr niedergeschlagen.
Daheim nahm ich umgehend Ibu, das zum Glück schnell half. Ich genehmigte mir trotzdem eine Runde Heulen und Zähneknirschen, wollte bockig nie wieder etwas essen und trinken (ist sowas Ähnliches wie sich auf den Boden werfen, kreischen und strampeln, aber dafür ist der Boden halt nur bei Kleinkindern nah genug). Bis der Magen mit Knurren und Schmerzen Futter verlangte, dann gab es halt ein paar Haferflocken und die Chips, die Herr Kaltmamsell gerade aus dem restlichen Grünkohl gebacken hatte.
Im Bett mit hochgelegten Beinen las ich John le Carré, Tinker Tailor Soldier Spy aus. Ich hatte schon lange etwas von le Carré lesen wollen, dieser Roman gilt als einer seiner besten und als einer der besten Spionageromane überhaupt (die Verfilmung von 2011 hatte ich im Kino gesehen, erinnerte mich aber an nichts, hatte damals den prä-Sherlock Benedict Cumberbatch nicht mal wahrgenommen). Na ja, zum einen war ich halt genervt von dem Befindlichkeis-Rumgezicke als Hauptmotivation allen Handelns, politische Haltungen erscheinen in diesem Rahmen lediglich wie eine beliebige weitere männliche Befindlichkeit. Außerdem spielt die Handlung noch nah genug an der Gegenwart, dass mich die Umständlichkeit der Technik im Kalten Krieg ermüdete (wenn sie noch länger entfernt spielt, finde ich sie schon wieder historisch interessant) – sie brachte mich lediglich zur Frage, ob das Internet möglicherweise diesen bunten Spionage-Zirkus nachhaltiger zerstört hat als das Ende des Kalten Kriegs: Es braucht keine toten Briefkästen mehr, kein physisches Einschleichen in Gebäude, keinen albernen Austausch von vorher vereinbarten Sätzen bei persönlichen Treffen zur Identifikation. Ist überhaupt noch irgendeine Art von Offline-Spionage übrig geblieben?
Dann suchte ich in Mediatheken nach Ablenkung, Verdrängung ist, was uns über Wasser hält. Bei der Zeitungslektüre am Morgen hatte ich mir den BBC/ORF-Dreiteiler Vienna Blood eingemerkt, jetzt startete ich die erste Folge.
Ab der ersten Einstellung ist klar, dass der Kinofilm Sherlock Holmes als Vorbild genommen wurde: Die Farben, die Kameraperspektiven, vor allem die Musik (Vorbild von Hans Zimmer, hier nachgemacht von Roman Kariolou) – wobei das charakteristische Hackbrett sehr viel besser nach Wien mit seinen böhmischen Einwanderern passt als nach London. Auch sonst erinnerte einiges an das Universum, das Arthur Conan Doyle mit Sherlock Holmes geschaffen hat und funktionierte. Ich fühlte mich gut unterhalten.
Zum Abendessen wärmten wir uns den restlichen Grünkohl-Eintopf auf, danach Schokolade.
Im Bett begann ich die nächste Lektüre für unsere Leserunde: Alina Bronsky, Der Zopf meiner Großmutter.