Bücher 2020
Mittwoch, 30. Dezember 2020 um 15:07Dieses Jahr ergab sich deutlich mehr Zeit zum Bücherlesen als in den Jahren zuvor. Was nur in den letzten beiden Monaten mit der Pandemie zu tun hatte, sonst mit meiner Hüft-Arthrose: Statt ausgiebigem Joggen, Schwimmen oder ganz-, wenn nicht sogar mehrtägigem Wandern las ich. Empfehlungen sind mit * markiert, die anderen gefielen mir gut genug, sie bis zu Ende zu lesen.
Mein Lesejahr war geprägt von Marieluise Fleißer, die mich mit allem beeindruckte, was sie schrieb. Zufällig hingegen war die Häufung von Romanen, die im England der ersten Hälfte 20. Jahrhundert spielten.
Meine gesammelten Buchbesprechungen finden Sie übrigens seit einiger Zeit auf Goddreads.
1 – Nancy Mitford, The Pursuit of Love*
Ich war von Anfang an sehr angetan von dieser nach Judith Kerr weiteren und ganz anderen Sicht auf die Zeit Ende der 30er, Anfang der 40er in Europa. Nancy Mitford hat nach eigenen Angaben viel von ihrer eigenen Familiengeschichte für diesen Roman genutzt, in dem der Landadel noch ungebildeter und blasierter dargestellt wird als bei P.G. Wodehouse. Und doch spricht die Erzählerstimme gleichzeitig voller Zuneigung von der Hauptfigur Linda, die im Schloss ihres Vaters aufwächst, nie eine Schule besucht – und so in Zeiten ohne Massenmedien wirklich weltfremd groß wird. Wir erleben die Zeiten des spanischen Bürgerkriegs, der Vorkriegszeit in Paris und der Bombenangriffe auf London diesmal über die Geschichte einer naiven und rücksichtslosen Person, die einfach durchs Leben getrieben wird. Das Vorwort meiner Ausgabe (eine Sammelausgabe von drei Mitford-Romanen) ist von Philip Hensher und beginnt:
Nancy Mitford’s novels have always repelled as many people as they have enchanted, and the criticism they have drawn has not often been good-natured in tone.
Ich kann gut nachvollziehen, wenn sich jemand an der Frivolität von The Pursuit of Love stößt, doch in meinen Augen zeichnet der Roman ein wundervolles Sittengemälde, umso glaubwürdiger, weil die Autorin Teil der direkt und indirekt karikierten Gesellschaftsschicht war.
2 – Ayọ̀bámi Adébáyọ̀, Stay with me
3 – Bov Bjerg, Serpentinen*
Hier ausführlich besprochen. Mit wachsendem Abstand gefiel es mir immer besser.
4 – Ali Smith, Autumn
5 – Thomas Bernhard, Der Untergeher
6 – Nancy Mitford, Love in a Cold Climate
7 – Bov Bjerg, Deadline
8 – Marieluise-Fleißer-Gesellschaft (Hrsg.), Fleißers Ingolstadt. Eine literarische Topographie*
Eine Besprechung findet sich hier unten.
9 – Granta 150, There Must Be Ways to Organise the World with Language
10 – Maya Angelou, I Know Why the Caged Bird Sings*
Hier ausführlich besprochen.
11 – Marieluise Fleißer, Erzählungen*
Sie haben mich mitgenommen, diese bitteren Geschichten, fast alle aus dem eigenen Leben. Die frühesten spielen kurz nach dem Ersten Weltkrieg, die letzten in den 1950ern. Alle sind sie sehr ingolstädterisch, nicht nur durch die Ortsmarken: Ich kenne diese kleinen, erbärmlichen Leute, meine polnische Großmutter lebte in dieser Gesellschaft.
Es sind Wörter wie Knochen, die Fleißer für ihre Texte verwendet, in diesen Erzählungen wie in ihren Dramen. Ein verhochdeutschtes Oberbayerisch, mal aus der Perspektive des Mädels oder der jungen Frau, aber auch mal aus der Perspektive des Burschen. Starrsinnig und selbstsüchtig sind sie allesamt, jeder und jede ums eigene Überleben besorgt. Es gibt kein Erbarmen, keine Gemeinschaft, keine Wärme, keine Leichtigkeit. Was Wunder, dass Fleißer in Ingolstadt als Nestbeschmutzerin galt.
12 – Kathrin Passig, Strom und Vorurteil
13 – Aldous Huxley, Brave new world*
Hier ausführlich besprochen.
14 – Ferdinand von Schirach, Kaffee und Zigaretten
15 – Volker Kutscher, Der nasse Fisch
16 – Carolin Emcke, Wie wir begehren
17 – Matt Ruff, Lovecraft Country*
Hier die ausführliche Besprechung, einer meiner Favoriten des Jahres.
18 – Mark Holt, Munich ’72. The Visual Output of Otl Aicher’s Dept. XI*
Ausführliche Besprechung hier unten.
19 – Granta 151, Membranes
20 – Kathrin Passig, Aleks Scholz, Handbuch für Zeitreisende*
Hier besprochen.
21 – Elizabeth Strout, Olive, again
22 – Ted Chiang, Stories of your life and others*
Ausführliche Besprechung hier.
23 – Natascha Wodin, Sie kam aus Mariupol
(Mein massives Problem mit diesem Buch habe ich hier beschrieben. Ich bin immer noch aufgebracht.)
24 – Zoë Beck, Paradise City*
25 – Nancy Mitford, The Blessing*
Der dritte Roman des Sammelbands Nancy Mitford in unserem Haus, 1951 veröffentlicht. Wieder spielt er in der frivolen Atmosphäre der reichen, alteingesessenen Elite Englands und Frankreichs. Im Mittelpunkt diesmal die (auch hier) hübsche, aber ungebildete und hohlköpfige Grace aus reichem Hause, die im zweiten Weltkriegs den hochadligen Franzosen Charles-Edouard heiratet. Mit dem bald geborenen Sohn ziehen sie nach Paris, wir lesen vom reichen, geselligen Leben dort. Unkonventionell und witzig ist die Titelfigur: Als „the Blessing“ bezeichnet seine Mutter nämlich den Sohn Sigismond. Und den baut Mitford zum herrlichen Gegenstück des Little lord Fauntleroy aus (das Stück wird explizit erwähnt): Als nämlich seine Eltern sich trennen (Grace hat ihren Mann im Bett mit einer anderen gesehen) und seine Mutter nach England zurückgeht, erkennt der dann siebenjährige Sigismond, dass er in dieser Konstellation das beste Leben hat. Seine beiden Eltern setzen alles daran ihn zu verwöhnen, er bekommt jeden noch so absurden Wunsch erfüllt – während die beiden zu guten Zeiten hauptsächlich miteinander beschäftigt waren und wenig Aufmerksamkeit für ihn übrig blieb. Als versucht er durch Lügen und Intrigen sicherzustellen, dass die beiden nicht wieder zueinander finden. Dass ist wunderbar wider die Konventionen solch leichter Romane gemacht und passt zum hintergründig bissigen Tonfall der detaillreichen Schilderungen. Vergnügliche Lektüre.
26 – Margaret Atwood, Surfacing*
Dichte Informationen und Beschreibungen, menschliche Beobachtungen, viele Fakten zum Leben in kanadischer Wildnis – sehr wahrscheinlich fundiert, Atwood selbst ist in solch einer Umgebung groß geworden. Eigentümliche Sprache, eine eigentümliche Perspektive, eine seltsame Hauptfigur, die den Anschluss an die Realität verliert. Einer der wirklich guten Atwoods.
27 – Kinky Friedman, A Case of Lone Star
28 – Stefan Geyer, Andrea Diener (Hrsg.), Süß, sauer, pur
29 – Kent Haruf, Benediction
30 – J.L. Carr, How Steeple Sinderby Wanderers Won the FA Cup
31 – James Baldwin, Axel Kaun, Hans-Heinrich Wellmann (Übers.), Giovannis Zimmer
32 – Granta 152, Still Life
33 – Halldór Laxness, Hubert Seelow (Übers.), Das gute Fräulein
34 – George Orwell, Nineteen Eighty-Four*
35 – Karosh Taha, Im Bauch der Königin*
Hier unten besprochen.
36 – Polly Hobson, Katharina Boje (Übers.), Fünf Kugeln im Kamin*
Sehr erfreuliche Rückkehr zu einem Liebling meiner späten Kindheit.
37 – Irène Némirovsky, Die Familie Hardelot
38 – Susanna Schwager, Die Frau des Metzgers*
Hier besprochen.
39 – Rebecca Makkai, The Great Believers*
Ein weiterer Favorit des Jahres, hier besprochen.
40 – Connie Willis, Doomsday Book
41 – Mary Wesley, The Camomile Lawn
42 – Celeste Ng, Little Fires Everywhere*
Ausführliche Besprechung hier.
43 – Alicia Alice LaPlante, Turn of Mind*
Die Grundidee ist wirklich gut und hervorragend umgesetzt: Wir begleiten den ganzen Roman über Dr. Jennifer White aus Ich-Perspektive, eine orthopädische Chirurgin in Ruhestand. Das Besondere an dieser Perspektive: Jennifer ist dement, die Geschichte wird mit ihren verworrenen Alzheimer-Schnipseln erzählt. Und: Ihr wird offensichtlich vorgeworfen, dass sie ihre beste Freundin Amanda ermordet hat, ihr anschließend mit chirurgischer Kunstfertigkeit vier Finger einer Hand entfernt. Wir folgen Jennifer durch bessere Tage, an denen sie mit ihren beiden erwachsenen Kindern halbwegs vernünftig kommunizieren kann, durch die immer häufigeren schlechten Tage, an denen sie völlig ohne Orientierung ist, manchmal triggern Details Erinnerungen an ihre Vergangenheit und wir erfahren dadurch Vorgeschichte. Im selben Maß, in dem Jennifer in ihrer Erkrankung versinkt (jetzt lebt sie längst in einem Pflegeheim), wird die implizite Erzählerstimme deutlicher und übernimmt, lässt die anderen Romanfiguren genug sagen, um den Fall schließlich aufzuklären.
44 – James Rebanks, English Pastoral*
Mehr dazu hier unten.
45 – Marieluise Fleißer, Eine Zierde für den Verein*
Die erste Fassung von Fleißers einzigem Roman erschien 1931, er spielt sehr erkennbar und örtlich verwurzelt in meiner Geburtsstadt Ingolstadt.
Die Geschichte des jungen Gustl Gillich, aus dessen Perspektive meist erzählt wird, stadtberühmter Schwimmer, der gerade seinen eigenen Tabakladen eröffnet hat. Der Frieda Geier kennenlernt, eine selbständige junge Frau, die als Handelsvertreterin nicht nur für ihren eigenen Lebensunterhalt sorgt, sondern auch die Schulbildung ihrer jüngeren Schwester finanziert. Die karge und wortarme Romanze zwischen den beiden geht nicht gut.
Sperrig und eigentümlich erzählt Fleißer ihre Geschichte und ihre Figuren, unrund und überhaupt nicht gefällig – doch gehört das genau so. Die Bilder, die Fleißer mit Wörtern erzeugt (deren Schreibung sie oft wider orthografische Regeln verändert), erinnerten mich immer wieder an expressionistische Malerei (nicht an expressionistische Literatur): Die zugefrorene Donau, über deren tauende Schollen ein Bub springt / wie ein paar Schwimmvereinsburschen nachts den Pionieren am Künettegraben Balken vom Brückenbau stehlen / der Tabakhändler, der an einem Wintermorgen hinter den Eisblumen seines Schaufensters verschwindet.
Wie viel sie immer miterzählt! Bücher aus lang vergangenen Zeiten transportieren ja immer sehr viel Hintergrundinfo, weil sie aus einer anderen Welt kommen, doch das ist meist eine unbeabsichtigte Nebenwirkung. Fleißer aber will ganz viel miterzählen: Straßen, Häuser, Landschaft, wie es auf dem Wochenmarkt zugeht, wo der Zug nach Passau entlang fährt. Scharfsichtig wie eine Magnum-Fotografin hält sie bedeutsame Momente fest, die für eine Zeit und eine Gesellschaft stehen.
46 – John le Carré, Tinker Tailor Soldier Spy
47 – Alina Bronsky, Der Zopf meiner Großmutter
48 – Eva Meijer, Hanni Ehlers (Übers.), Das Vogelhaus
49 – Granta 153, Second Nature
50 – Éric Vuillard, Nicola Denis (Übers.), Die Tagesordnung
die Kaltmamsell5 Kommentare zu „Bücher 2020“
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30. Dezember 2020 um 16:19
Danke für den gesammelten Überblick Ihres Lesejahres. Ich notiere schon immer fleißig mit bei Ihren laufenden Besprechungen unterm Jahr, wenn mich ein Buch selbst thematisch interessieren könnte (englischer Landadel z. B. ist so gar nicht mein Fall), aber so ist es natürlich noch übersichtlicher. Habe mir eben Turn of mind auf meine Erinnerungsliste gesetzt, dabei nach vergeblicher Suche festgestellt, dass die Autorin Alice und nicht Alicia heißt.
30. Dezember 2020 um 16:26
Hoppla, Nina, danke für den Hinweis.
30. Dezember 2020 um 18:02
Alicia wäre bei dem Nachnamen ja auch viel naheliegender.
31. Dezember 2020 um 15:19
Hatte Kent Haruf bei Ihnen nicht ein Empfehlungssternchen verdient? Ich meine, mich an eine entsprechende Besprechung zu erinnern. Jedenfalls verdanke ich Ihnen die Entdeckung dieser Trilogie, eines meiner ‘schönsten’, vielleicht tröstendsten Leseerlebnisse in diesem Jahr. Dafür – neben vielen anderen Lese- und Denkanregungen – herzlichen Dank.
31. Dezember 2020 um 16:29
Der dritte Band hat mich tatsächlich enttäuscht, Die Toni, ihm fehlten in meinen Augen einige Stärken der anderen beiden. Zum Beispiel war er klar zeitgebunden, und er gab viel mehr Deutung von Handlung und Charakteren vor. Hätte ich diesen als ersten gelesen, hätte mich die anderen beiden wahrscheinlich nicht interessiert.