Journal Donnerstag, 17. Dezember 2020 – Superquitten

Freitag, 18. Dezember 2020 um 6:26

Früh aufgewacht, genug Zeit für ausführliche Reha-Gymnastik, ich kam ins Schwitzen.

Ich brach früher als in den vergangenen Tagen in die Arbeit auf, um rechtzeitig zur virtuellen Jahresabschlussfeier im Büro und vor meiner Laptop-Kamera zu sitzen. Vorher holte ich mir für die Brotzeit eine Mozzarella-Tomaten-Stange beim Bäcker – es hatte nichts mehr für Brotzeit im Haus gegeben. Nach der Feier manuelle Arbeit, es war viel Eintütens.

Ein wundervoller Sonnentag. Heimweg zu Fuß, mäandernd durchs Westend, ich blieb immer wieder stehen und genoss das schräge Sonnenlicht vor knallblauem Himmel. Die längste Schlange, die ich sah, stand an der Ausgabe “Lebensmittel für Bedürftige” an der Auferstehungskirche – bitter.

Im Vollcorner arbeitete ich die Einkaufsliste ab. Unter “Obst” bekam ich diesmal tatsächlich echte Mandarinen. Das stellte ich allerdings erst daheim fest: Ich hatte schon einmal zu den Zitrusfrüchten hinterm Schild “Mandarinen” gegriffen, doch daheim erwiesen sie sich als Clementinen oder sowas. Denn Mandarinen riechen beim Schälen wie das Mandarinen-Aroma, das wir von Fertig-Desserts kennen und sind voller Kerne – wie gestern.

Zu Hause gab es als Snack Weihnachtsstollen. Nach ein wenig Ausruhen machte ich mich an die diesjährige Herstellung von Quitten in Sirup. Die Quitten – ebenfalls vom Vollcorner – stellten sich als die besten heraus, die ich jemals verarbeitet habe. Sie dufteten angemessen (anders als die riesigen vom türkischen Süpermarket), trugen noch Flaum, hatte keine braunen Stellen und waren so frisch und saftig, dass sie sich gut schneiden ließen.

Und als ich den Topf öffnete, um die eingekochten Quitten in die bereitgestellten Gläser zu füllen, kam mir ein so vielfältiger Duft entgegen, wie ich ihn noch nie bei diesem Kompott hatte.

Zum Nachtmahl gab es neben Postelein-Salat aus dem letzten Ernteanteil des Jahrs ordentlich Käse sowie Scheiben vom aufgetauten selbst gebackenen Brot.

Vielleicht, so denke ich, macht mir diese immer bedrohlichere Corona-Zeit so verhältnismäßig wenig aus (außer ich kriege mal wieder nicht mit, dass sie mir sehr viel ausmacht, und muss das in ein paar Jahren ausbaden), weil Durchhalten mein Lebensgefühl ist. Ich will das alles nicht und mache das beste daraus, habe über Jahrzehnte gelernt, mir dieses Leben, durch das ich halt durch muss, irgendwie erträglich zu machen. Vielleicht müssen lebenslustige Menschen das jetzt erst lernen? Für mich ist der Unterschied die Sorge um andere. (Oder ich bin einfach ein unsensibler Klotz, auch eine Erklärung.)

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Kleine Erheiterung: Alle mir nach!

die Kaltmamsell

10 Kommentare zu „Journal Donnerstag, 17. Dezember 2020 – Superquitten“

  1. Birgit meint:

    Vielleicht liegt es daran, dass einige Menschen die Sorge um andere als tätige Sorge und Nähe interpretieren. Wenn man nach drei langen Monaten Angehörige im Heim, die man vorher jeden zweiten Tag besucht hat, wiedertreffen darf und feststellt, dass sie sich kaum noch orientieren können, dann ist der Trost, dass sie wenigstens noch leben, bitter.

    Manche schaffen es, Solidarität zu empfinden, indem sie eine Maske aufsetzen und sich zurückziehen. Andere möchten den vulnerablen Familienmitgliedern Lebensfreude durch Nähe und Beistand vermitteln.

    Erstere dürfen ihren Lebensstil so pflegen, die anderen werden als unsolidarisch bezeichnet. Daher der große Frust in breiten Bevölkerungsteilen.

  2. iv meint:

    Das mit der Übung im Durchhalten hab ich mir auch schon mal gedacht. Allerdings merke ich seit ein paar Wochen eine sich langsam aufbauende mentale Müdigkeit, die ich so eigentlich doch nicht kenne.
    Ich fand auch Margarete Stokowskis kürzliche Kolumne zu Depression und Corona ziemlich treffend.

  3. Nina meint:

    Mein vorherrschendes Gefühl ist nicht mal mehr Müdigkeit oder Depression, sondern die blanke, pure Erschöpfung. Ich kann schlicht nicht mehr. Nach Lockdown 1, wochenlangem Home Office (ha ha) mit Kleinkind, kaum Pausen, 1 Jahr vollständig in dieser Stadt, 1 Jahr Familie und Freunde nicht gesehen, die mich sonst zeitweise entlasten, Quarantäne/Home Office (ha ha) mit Kleinkind und ohne Unterstützung, nun Lockdown 2 und Weihnachtsferienbespaßung ohne Urlaub/Entlastung bei meiner Familie – und das alles vollständig alleinerziehend mit Vollzeitjob (die letzten beiden Monate wegen irrsinnigen Arbeitsaufkommen und Kollegenvertretung mit 42 Std/Woche) – bin ich ganz kurz davor, mich einfach an Ort und Stelle auf den Boden zu legen und nicht mehr aufzustehen. Die ganze Misere der sonst schon wenig unterstützten gesellschaftlichen Gruppen und Themen und deren geringe Wertschätzung oder sogar Missachtung (Eltern, insbesondere Alleinerziehende, Pflegekräfte, Erzieherinnen etc.) wird für mich durch Corona wie unterm Mikroskop so überdeutlich. Alle Eltern, die ich kenne, gehen gerade auf den letzten Resten ihres Zahnfleisches. Und, ja, mir ist meine privilegierte Position dabei natürlich klar: keine Existenzängste wie andere Eltern aus der Kita, die durch Corona ihre Jobs verloren haben, keine Krebsbehandlung wie die liebe Freundin, die wegen kompromittiertem Immunsystem ihre Chemo vollständig alleine durchstehen muss, keine Obdachlosigkeit, keine Armut, kein Hunger, ein gesundes Kind. Aber die eigene bodenlose Erschöpfung wegzurelativieren klappt gerade auch nicht mehr. Was mich dann noch ein schlechtes Gewissen mit mir rumschleppen lässt. Durchhalten!

  4. Poupou meint:

    @Nina, Danke, dass Sie das alles aushalten!

  5. Nina meint:

    Danke dafür, Poupou <3

  6. die Kaltmamsell meint:

    Das liest sich tatsächlich ganz, ganz schlimm, Nina.

  7. Nina meint:

    Nachdem ich es hier heute so deutlich aufgeschrieben habe, hab ich die Notbremse gezogen und weiträumig um Unterstützung gebeten. Freunde versorgen uns nun an den Feiertagen mit Gekochtem und andere Kita-Eltern nehmen das Kind mit auf Draußen-Runden (die Kinder waren ja bisher ohnehin täglich in einer Gruppe zusammen), sodass ich zwischendurch mal nichts tun muss. Ich bin sehr dankbar dafür. Entschuldigen Sie bitte, dass ich Ihre Kommentare vollgespamt habe.

  8. FrauC meint:

    Liebe Nina, was für ein Glück, dass das Aufschreiben Sie dazu gebracht hat, um Hilfe zu bitten. Tatsächlich helfen viele Menschen gern, wenn sie nur erfahren, was sie tun sollen.
    Ich wünsche Ihnen und Ihrem Kind gemütlichere Weihnachtstage, als Sie es für möglich gehalten hätten!

  9. Nina meint:

    Danke <3

  10. Poupou meint:

    Wie schön! Und vielen Dank, dass Sie das mit uns teilen und wir uns mitfreuen können!

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