Journal Donnerstag, 14. Januar 2021 – China Miéville, The City and the City

Freitag, 15. Januar 2021 um 6:29

Die Nacht war wieder ein bisschen besser, ich arbeite mich an Normal heran.

Temperatur knapp über Null, dennoch vorsichtiger Arbeitsweg, weil genau bei diesem Wetter der Boden gerne mal mit Glätte überrascht. Abkürzung des letzten Wegstücks durch die U-Bahn-Unterführung Heimeranplatz.

Nachdem schon seit Wochen auf den Werbeflächen unten an den Gleisen nur Eigenanzeigen der Stadtwerke zu sehen waren (die Münchner Verkehrsgesellschaft MVG gehört zu den Stadtwerken), gibt jetzt auch niemand mehr Geld aus für die Großflächenplakate in den Gängen. Wieder ein bisschen apokalyptisch.

Der Tag blieb sehr düster, es regnete, wurde kälter und schneite einmal gründlich.

Aus dem Augenwinkel sah ich durchs Fenster immer wieder einen großen Krähenschwarm, der ein wenig murmurierte, sich dann wieder auf einem riesigen malerischen winterkahlen Baum niederließ.

In der Arbeit fühlte ich mich sehr wie eine siegreiche Kriegerin, als ich auf einer völlig überlasteten Website etwas Berufliches bestellte – mich Web-Oma konnte kein zerschossenes Layout abschrecken. Gleich drauf hätte ich mich für eine kleine Änderung in ein unbekanntes CMS eindenken müssen: Ich suchte statt dessen nach einer HTML-Ansicht, darin ging’s schnell und verlässlich. WIR HABEN UNSERE ERSTEN BLOGS JA NOCH MIT BINDFADEN UND HAMMER GEBAUT!

Mittags gab es ein Butterbrot und eine Kiwi, nachmittags eine Scheibe trocken Brot.

Heimweg über eine festgetretene Schneedecke, die an vielen Stellen verdächtig glänzte: Ich ging wieder vorsichtig und mit stabil angespanntem Rumpf. Einkaufsabstecher zum Vollcorner, ich arbeitete unsere Liste ab.

Herr Kaltmamsell hatte den ersten Ernteanteil des Jahres abgeholt. Nach einer Runde Yoga war daraus das Abendbrot Radicchio als Salat mit Balsamicodressing, außerdem Käse, Brot.

§

China Miéville, The City and the City hatte ich am Wochenende ausgelesen. Ein Krimi in einen utopischen Set-up: Er spielt in einer Stadt, die aus zweien besteht, Besźel und Ul Qoma. Geografisch sind sie an exakt derselben Stelle, exisiteren aber in parallelen Wahrnehmungswelten. Die Menschen haben von klein auf gelernt, die jeweils andere Stadt zu ignorieren, to unsee, selbst wenn sie die Straße oder den Park mir ihr teilen. Sprache und Kultur sind so unterschiedlich, dass es Spezialitätenrestaurants der einen Stadt als exotische Ausgehmöglichkeit in der anderen gibt. Um von der einen in die andere Stadt zu kommen, muss man durch ein riesiges Amt, die Visumsmodalitäten sind streng und komplex – um am Ende das Amt geografisch am selben Ort zu verlassen. Die Einhaltung dieser Wahrnehmungsfarce überwacht eine Institution, die über beiden Polizeien und Regierungen steht: Breach. Einwanderer dürfen die Städte erst nach wochenlanger Schulung betreten, selbst Touristen müssen belegen, dass sie über die Grundzüge Bescheid wissen.

Die Krimihandlung beginnt, als in Besźel eine Leiche aus Ul Qoma auftaucht. Der Inspector Tyador Borlú übernimmt die Ermittlungen, muss dazu aber auch mit seinem Gegenstück in Ul Qoma zusammenarbeiten, mit Senior Detective Dhatt. Ihre Recherchen entlarven einige Schwachstellen des Systems.

Ich fand das Set-up so attraktiv, dass ich den Roman unbedingt lesen wollte. Allerdings stellte ich im Lauf der Lektüre fest, dass ich mich immer weniger hineinfallen lassen konnte – anders als in andere utopische Realitäten. Je weiter ich las, desto häufiger stolperte ich über die schiere Hanebüchenheit dieses unsee, des eisernen Ignorierens der eigenen Wahrnehmung. Auch bekam ich zu wenige Hinweise, wodurch sich die Menschen der einen von denen der anderen Stadt unterschieden, sodass ihre Zugehörigkeit jederzeit eindeutig war. Ich konnte mir die erfundene Welt immer weniger statt immer besser vorstellen. Dewegen war ich schlussendlich enttäuscht: Das Konstrukt hielt der Nutzung durch die Krimihandlung nicht stand.

Interessant ist der Grundgedanke des Romans weiterhin. Für mich rief er von Anfang an: “ALLEGORIE!” Am ehesten eine Allegorie auf Rassismus, genauer: auf Segregation. In einer segregierten Gesellschaft, zum Beispiel der in den USA der jüngeren Vergangenheit, teilten sich die weiße und die nicht-weiße Bevölkerung den geografischen Raum, es gab wie im Roman getrennte und gemeinschaftlich genutzte Bereiche. Gleichzeitig lebten sie in verschiedenen Welten, ignorierten einander. (Unterschied zu The City and the City: Die nicht-weiße Bevölkerung schwebte in ständiger Gefahr von Gewalt durch Weiße.)

§

Das Jahr ist noch jung, doch ist es nicht nur sofort stürmisch in Negativ-Konkurrenz zu 2020 getreten, sondern hat bereits einen musikalischen Internet-Star (vor zwei Wochen schon mal vorgestellt). Sollten Sie diesem Ohrwurm bislang entkommen sein, klicken Sie NICHT hierauf. Sollten Sie den Wellerman ohnehin seit Tagen vor sich hin summen, ist’s eh schon wurscht. (Inklusive historischem Hintergrund.)

Aktivieren Sie JavaScript um das Video zu sehen.
https://youtu.be/auI9Cx8SGX4

Ach, wenn wir schon dabei sind: Sieben Minuten Rechercheergebnisse zu #SEASHANTYTOK und der Geschichte von Sea Shantys.

Aktivieren Sie JavaScript um das Video zu sehen.
https://youtu.be/huwJ4a8FpTo

die Kaltmamsell

7 Kommentare zu „Journal Donnerstag, 14. Januar 2021 – China Miéville, The City and the City

  1. Beate meint:

    In der Tat, DER Ohrwurm des Monats!

  2. Renate Payr meint:

    Der Tag ist gerettet!

  3. Leuchtturm meint:

    Nachdem ich in ein Shanty-Wurmloch gefallen und in einer der zahlreichen Kommentare zum Wellerman über dieses Video gestolpert bin, muss ich es bei jeder halbwegs passenden Gelegenheit teilen: https://www.youtube.com/watch?v=49FWp7WLYKw – was für eine Stimme!

  4. Nina meint:

    Ich habe The City and the City nie gelesen, aber mal einen sehr guten sozialanthropologischen Vortrag über eine Forschung in einer Aborigine Community Australiens gehört, in dem
    der Roman eine Schlüsselreferenz bzw. ein Deutungsrahmen war. Die Vortragende nutzte ihn genau wie Sie als Allegorie auf Rassismus, allerdings hatte es bei ihr noch eine weitere Dimension, da die Aborigines, bei denen sie forschte, in einer von spirituellen Wesen durchdrungenen Lebenswelt lebten, die die Weißen überhaupt nicht wahrnehmen konnten.
    Ich wollte das Buch daraufhin immer mal lesen, aber nach Ihrer Rezension spare ich mir das vielleicht lieber…

  5. die Kaltmamsell meint:

    Das klingt faszinierend, Nina – und mein persönliches Leseerlebnis sollte Sie auf keinen Fall von der Lektüre abhalten, die allermeisten Leser*innen sind begeistert.

  6. julisonne meint:

    danke für die city and the city beschreibung und den recherche film – hat mich beides sehr erfreut :) schönes wochenende.

  7. Susann meint:

    Hm, das klingt ein bisschen nach Neil Gaimans “Neverwhere”, aber da fand ich die unterschiedlichen Welten nachvollziehbar – die durch die Ritzen gefallenen Menschen, die man nicht so gerne wahrnimmt. Und da waren die Welten auch nicht ganz deckungsgleich, den einen gehörte die “Unterwelt” und den anderen die “Alltagswelt”.

Sie möchten gerne einen Kommentar hinterlassen, scheuen aber die Mühe einer Formulierung? Dann nutzen Sie doch den KOMMENTAROMAT! Ein Klick auf einen der Buttons unten trägt automatisch die gewählte Reaktion in das Kommentarfeld ein, Sternchen darüber und darunter kennzeichnen den Text als KOMMENTAROMAT-generiert. Sie müssen nur noch die Pflichtfelder "Name" und "E-Mail" ausfüllen und den Kommentar abschicken.