Journal Freitag, 5. November 2021 – Sehnsucht nach 2G

Samstag, 6. November 2021 um 8:16

Vor Wecker aufgewacht. Emsiger Morgen daheim, strammer Marsch in frostiger Kälte in die Arbeit.

Die Linden um die Theresienwiese sind bereits kahl.

In der Arbeit sofort Hochdruck – die Tasse Tee, die ich geschickt dazwischen eingefädelt aufgebrüht hatte, wurde kalt. Und das, wo ich wusste, dass es ein langer Arbeitstag werden würde (durch Einflüsse, die deutlich schlechter prognostizierbar sind als das Wetter). Ich musste abarbeiten, was sich physisch durch meinen Homeoffice-Tag aufgehäuft hatte – mein Job ist nunmal nur zu einem kleinen Teil kompatibel mit dem Konzept Telearbeit. Was mir bei der Entwicklung der Infektionszahlen bei gleichzeitig steigendem Leichtsinn immer egaler wird.

Erst um halb zwei kam ich zum Mittagessen: Pumpernickl, Rest Fenchel-Mandarinen-Salat, Weintrauben.

Am Nachmittag konnte ich strukturierter arbeiten, doch der ohnehin späte Berufstermin verschob sich wie befürchtet immer weiter nach hinten. Es wurde spannend, ob ich es rechtzeitig zur Abendverabredung mit Herrn Kaltmamsell schaffen würde.

Es klappte dann ganz exakt, ich kam genau um die verabredeten 19 Uhr am Restaurant an, in dem ich uns einen Tisch reserviert hatte. Doch der Abend wurde angespannt: Unsere Impf-Zertifikate wurden nur mit Seitenblick geprüft, der Laden war gesteckt voll ohne Abstand zwischen den Tischen, und das Personal konnte keine Nachfragen zum kulinarischen Angebot beantworten. Wir wurden satt, schauten aber, dass wir da schnell wieder rauskamen.

Spaziergang nach Hause und Beschluss, bis Ende Pandemie höchstens noch in Gastronomie mit ernsthaft überprüfter 2G-Regelung einzukehren, also nur unter verlässlich Geimpften/Genesenen (dass es 2G-Lokale in München gibt, weiß ich aus dem Lokalteil der Süddeutschen – eigentlich sehe ich da auch ein lukratives Geschäftsmodell).

Aber der Zweck der Verabredung hatte sich erfüllt: Wir waren dazu gekommen, einander von den vergangenen beiden Wochen zu erzählen. Daheim noch ein wenig Süßes und ein Limoncello, früh ins Bett.

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Adrian Daub, Germanist und Professor für vergleichende Literaturwissenschaft an der Stanford University in Kalifornien, schreibt über die Verdrehung und Instrumentalisierung eines US-amerikanischen Begriffs in deutschsprachigen Medien:
“Der kurze Weg von der Lappalie zur Cancel Culture”.

Gruselige Anekdoten für die Boomerseele: Unter dem Schlagwort «Cancel Culture» ist in den deutschsprachigen Feuilletons ein regelrechtes Ökosystem entstanden.

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Cancel Culture reiht sich in ein Muster ein: Aufregung unter Rechten in den USA wird Futter fürs liberale deutschsprachige Feuilleton. Man fühlt sich an den alten Marx-Satz erinnert, Deutschland habe die Restaurationen gehabt, selbst wenn es die Revolutionen übersprungen habe. Europa mag Entwicklungen unter US-Campus-Linken – wie die Gender Studies und Critical Race Theory – zwar verschlafen haben. Für die Ängste seitens Konservativer über Gendern ist es aber hellwach.

Der britische Soziologe Stanley Cohen hat dafür schon in den siebziger Jahren den Begriff der moralischen Panik geprägt: Moralische Panik ist immer ein Stück Aufmerksamkeitsökonomie, eine Art kollektiver Konzentration auf scheinbar marginale Dinge, von denen auf eine gesamtgesellschaftliche Gefahr geschlossen wird. Bestimmte Ereignisse sollen plötzlich viel mehr Aufmerksamkeit verdienen als andere, äusserlich sehr ähnliche. Moralische Panik macht uns hypersensibel für die einen und blind für andere. Cohen hat auch darauf hingewiesen, dass bei moralischer Panik immer irgendeine Form der Jugendkultur im Zentrum der Projektion stehe: Mods, Rocker, Heavy-Metal-Fans – und jetzt eben «woke» Student:innen. Die Angst vor der jeweiligen Nichtigkeit ist immer auch eine Angst davor, selber obsolet zu werden.

(…)

Immer wieder werde ich von europäischen Kolleg:innen mit angehaltenem Atem gefragt, was ich mich denn überhaupt noch trauen würde. Ganz so, als flüsterte ich meine Vorlesungen zu Stefan George nur noch und als würde ich meine Kant-Gesamtausgabe irgendwo vor studentischen Spitzeln verstecken. Interessant ist aber auch, dass mir diese Frage genau so, im gleichen besorgten Ton, seit ungefähr fünfzehn Jahren gestellt wird. Die Fragesteller:innen scheinen auf einen neuen McCarthyismus von links in den USA zu warten wie Estragon und Wladimir auf Godot.

Die Tendenz, anhand einer kleinen Anzahl Vorgänge an Liberal Arts Colleges und Ivy-League-Universitäten eine angebliche Welle linker Intoleranz diagnostizieren zu wollen, ist mittlerweile sogar vierzig Jahre alt, fast so alt wie ich. Die Warnung vor drohenden Denkverboten und so viel anderem mehr wurde schon 1985 von Allan Bloom in seinem Bestseller «The Closing of the American Mind» ausgebreitet, 1990 von Roger Kimball in «Tenured Radicals», 1991 von Dinesh D’Souza in «Illiberal Education» und 1992 von Robert Hughes in «Culture of Complaint». 1995 prangerte auch Peter Thiel in «The Diversity Myth» die «politische Intoleranz» an US-Unis an. Und das sind nur die erfolgreicheren Titel. Jedes Jahr bringt ein weiteres Dutzend solcher Menetekel.

Unabhängig vom Erscheinungsdatum hatten diese Bücher alle dieselbe Masche. Die dystopische Zukunft, die sie entwarfen, erfüllte sich nie. Alles, was man «bald» nicht mehr würde unterrichten dürfen: Man unterrichtet es noch heute. Diese historische Dimension fällt bei der Aufbereitung im Feuilleton weg: Von den genannten wurden offenbar nur die Bücher von Allan Bloom und Robert Hughes überhaupt ins Deutsche übersetzt. Das Zeitungswesen ist schnelllebiger als die akademische Welt. Was sich in den USA also als jahrzehntelange Kampagne präsentiert, wird im deutschsprachigen Feuilleton als immer wieder neue Erregung erlebt.

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ABBA hat wieder gemeinsam Musik veröffentlicht und eine neue Show vorbereitet. Ein ausführliches Interview mit den beiden ABBA-Komponisten Ulvaeus and Andersson im Guardian:
“Super troupers! Abba on fame, divorce, ageing backwards – and why they’ve returned to rescue 2021”.

Erst dadurch habe ich mich daran erinnert, dass ABBA Anfang der 1990er eigentlich Vergangenheit waren; auch ich kannte sie vor allem als ein Detail, mit dem ich als Teenager nichts anfangen konnte: ABBA war was für Pferdemädchen. Doch dann:

A jokey Australian tribute band, Björn Again, began to do surprisingly good business, progressing from playing colleges to performing at Reading festival at the behest of headliners Nirvana: today, Björn Again is a global franchise, with umpteen versions of the band performing in different territories.

Genau diese Band spielte auf dem Summer Ball der Swansea University, den ich 1992 besuchte – und auf dem ich mich überraschenderweise leidenschaftlich zu ABBA mitgröhlend und tanzend in der Menschenmenge wiederfand.

Both [Ulvaeus and Andersson] profess bafflement as to what happened – “It’s difficult to fathom, you know, I really don’t get it,” Andersson shrugs – but the truth is probably quite prosaic: a generation who had grown up with Abba’s music as young children, at an age when the alleged coolness or otherwise of music has no bearing on your tastes, had come of age.

Richtig lieb gewonnen habe ich ABBA-Schlager dann durch den herzzerreißenden Film Muriel’s Wedding.

die Kaltmamsell

14 Kommentare zu „Journal Freitag, 5. November 2021 – Sehnsucht nach 2G“

  1. fragmente meint:

    Die Restaurantfrage bewegt mich auch sehr. Die Kontrollen, ob 3G oder 2G, bewegen sich oft zwischen „gar nicht“ und verbaler Nachfrage, der mit einem sonoren „ja“ Genüge getan ist. Gescannt wurde mein Zertifikat, glaube ich, noch nie – außer in Frankreich, und dort jedes Mal.
    Ein 2G ohne Kontrolle, in vollen Innenräumen und mit Kellnern ohne Mundschutz scheint mir sehr risikoreich, und es schmerzt mich: wir haben die Mittel, um die Pandemie einzudämmen, aber wir nutzen sie nicht.

  2. Sylvia meint:

    Die einzige Option, die einigermaßen Sicherheit bietet, ist 1G – alle getestet. Dass insbesondere Geimpfte keineswegs davor gefeit sind, sich und andere anzustecken, sollte sich ja inzwischen herumgesprochen haben.

  3. die Kaltmamsell meint:

    Gerne zusätzlicher Schnelltest vor Betreten, Sylvia – aber es ist falsch, dass Geimpfte sich “insbesondere” anstecken, sondern sehr deutlich weniger häufig als Ungeimpfte.

  4. Sylvia meint:

    Das stimmt selbstverständlich, ich bezog mich bei dieser Aussage auf 2G – also die Wahrscheinlichkeit, dass sich Geimpfte infizieren, scheint wohl deutlich höher zu sein als die, dass sich Genesene erneut infizieren.
    Dass Ungeimpfte am stärksten gefährdet sind, steht außer Frage (mit Negativtest, ordentlich kontrolliert, gibt es meiner Meinung nach allerdings keinen Grund, ihnen den Zutritt zu verwehren).

  5. Bleistifterin meint:

    Mein Wissensstand ist, dass bei “Genesung” die Zahl der Antikörper sehr stark variiert je nachdem, wie schwer der Verlauf war.
    Faustregel: genesen=1×geimpft.
    Wo wir doch offenbar 3 Impfdosen brauchen.

    Ich bleibe erstmal zu Hause

  6. Beate meint:

    Ich auch …. alles nicht unbedingt notwendige außerhäusige werde ich wieder minimieren. Total blöd das alles – wir hätten es besser wissen können.

  7. kecks meint:

    2G wird bei der aktuellen Lage wenig bringen – die meisten sind kurz vor Booster, haben jetzt also nur noch sehr, sehr wenig Schutz vor Infektion übrig, dürfen aber da rein ohne Test. Sie reden und essen. Superspreading galore. Offene Fenster wohl Mangelware bei den aktuellen Temperaturen. Die Inzidenz bei Geimpften ist in München letzte Woche bei 60, steigend seit Wochen. Aktuell also wohl um die 70. Würde man bei Inzidenz 70 indoor sich mit anderen ungetestet treffen? Ich persönlich ganz sicher nicht, aber jeder hat freilich eine andere Risikobereitschaft.

  8. Nina meint:

    Ich war gestern in genau so einem Restaurant auch. Keine Kontrolle der Zertifikate (eingescannt habe ich sowieso noch nie erlebt), keine Kontaktnachverfolgung, Personal mit Mundschutz unterm Kinn, Gäste ohne Maske durch den Raum laufend. Nein danke. Für mich heißt das jetzt für die nächsten Monate auch wieder auf Restaurants und Veranstaltungen in Innenräumen zu verzichten, egal, welche Regelungen. Habe ein ungeimpftes Kitakind zuhause. Das ist mir schon Nervenkitzel genug.

  9. Gaga Nielsen meint:

    Superduper Video-Interview mit Björn Ulvaeus über die Gefühle im Studio, als die Ladies das erst mal wieder ans Mikrophon traten, und wie die Avatar Show funktioniert und Unsterblichkeitsgedanken…

  10. Christine meint:

    Ich denke, dass die Gastronomie im Moment vor sehr sehr vielen Herausforderungen steht: Man möchte möglichst viele Gäste bewirten, will aber auch zugleich Sicherheit gewähren. Dazu sind sehr viele Fachkräfte abgesprungen und viele Wirte werden einfach froh sein, wenn sie jemanden finden, der die Tabletts durch die Gegend schleppt und die Rechnungen einigermaßen abgehalten kriegt. Da wird in den kommenden Monaten die ein oder andere Umwälzung passieren.

    Ich gehe nicht so häufig essen, weshalb das kein wirklicher Verzicht für mich ist.

  11. Susann meint:

    Ich verstehe Sie ehrlich gesagt nicht. Sie sind 2x geimpft, können sich nach Wunsch auch ein 3. Mal impfen lassen; es ist gut belegt, dass die Impfung gut vor schwerem Verlauf schützt. Sie dürften also einen guten Eigenschutz haben.
    Mir wurde bei meiner Impfung von der Ärztin eindringlich gesagt, ich könne mich weiterhin anstecken und andere anstecken, die Imofung diene in erster Linie dem Eigenschutz. Diverse Studien belegen das auch. 2G heisst also, wir beide könnten im Cafe aufeinandertreffen und uns gegenseitig anstecken, was aber relativ unproblematisch wäre, weil wir beide zum Eigenschutz geimpft sind.
    Warum wollen Sie dann 2G bzw wovor haben Sie so Angst? Das einzige, was wirklich Sicherheit schafft, sind Tests, und zwar der Geimpften wie der Ungeimpften.

  12. Katharina meint:

    Ich glaube, das Sicherste ist, Zuhause zu bleiben. Das mache ich so. Nicht mehr essen gehen oder in die Kneipe. Nix halt. Die Kontrollen sind oft lax, mein Mann und ich sind doppelt geimpft, wir haben ein ungeimpftes Kind U12. Und wir haben sehr alte Eltern, ebenfalls geimpft. Dennoch bleibt die Angst, sich anzustecken bzw. viel schlimmer, andere anzustecken. Arbeiten beide im Home Office. Alles nicht schön, macht auch wenig Spaß, aber für uns alternativlos.

  13. hafensonne meint:

    Was für eine Sicherheit bietet ein Test, der gerade bei Geimpften eine hohe falsch-negative Rate aufweist? Gar keine. Ein negativer Antigentest beweist gar nichts, schon gar nicht, ob eine Geimpfte tatsächlich nicht infiziert ist. Ich gehe jedenfalls auch nicht mehr in Lokale, denn ich möchte nicht ausprobieren, ob ich eine jener seltenen Ausnahmen bin.

  14. Simone meint:

    Das handhaben wir hier genauso, Kontakte werden wieder noch stärker eingeschränkt, auch nach der Booster-Impfung werden wir das beibehalten. Spaß macht das keinen, leider. Nach anderthalb Jahren würde ich gern wieder mal bedenkenlos Essen gehen, ins Museum, Theater … aber das ist mir das Risiko dennoch nicht wert. Traurig macht mich, dass auch meine Teenager auf alles verzichten, was in dem Alter Spass macht. Und was mich wirklich ärgert: hätten sich alle, für die es in Frage kommt, konsequent impfen lassen, könnten wir jetzt anders dastehen. So, wie es bisher läuft, werden wir wohl noch lange verzichten dürfen.

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