Journal Mittwoch, 15. Dezember 2021 – Wirkung einer Gerichtsverhandlung
Donnerstag, 16. Dezember 2021 um 6:40Gut geschlafen.
Mit dem Radl statt zu Fuß durch feuchte, aber milde Luft in die Arbeit, weil ich am frühen Vormittag einen Einsatz als Schöffin hatte. Ich hatte daran gedacht, nach der wochenlangen Radlpause die Reifen vorher aufzupumpen.
Der Heimeranplatz verändert sich gerade sehr: Nachdem fast zwei Jahre lang die Baustelle des neuen Eckgebäudes nur in die Tiefe ging, wächst seit einigen Wochen auch etwas in die Höhe.
Im Büro konnte ich noch einiges schnell wegarbeiten, was über Nacht (nein, es war keine andere Zeitzone im Spiel) angefallen war, dann radelte ich schon wieder los an den Stiglmaierplatz – in fast durchgehender grüner Welle und mit den stramm aufgepumpten Reifen fühlte es sich wie Fliegen an.
Meine Ladung hatte als Corona-Maßnahme wieder das Registrierungsformular umfasst, das ich bei meinen letzten Einsätzen am Eingang des Justizzentrums hatte abgeben müssen und das ich wieder brav ausgefüllt hatte. Doch vor Ort wollte es niemand sehen, statt dessen musste ich 3G nachweisen, bekam einen Stempel auf meine Ladung.
Verhandelt wurde Betrug, sechs Fälle, mittelhoher Schaden, einschlägige Vorstrafen, diese aber alle per Strafbefehl erteilt (also ohne Gerichtsverhandlung). Die junge Angeklagte ließ zwar ein Geständnis übermitteln, äußerte sich aber selbst nicht. Die Lage war sehr undurchsichtig, in der Verhandlung ließ sich ohne Antworten auf sehr viele offene Fragen nicht herausfinden, was da eigentlich passiert war und warum.
Erst als der Pflichverteidiger (der offensichtlich auch nicht an sie rangekommen war) im Schlussplädoyer um Argumente rang, die der Angeklagten Haft ersparen würden, sah ich ihr die Erkenntnis an, dass das hier wirklich ernst war. Wieder erlebte ich die Wirkung einer Gerichtsverhandlung – in der halt Dinge geschehen, die sonst nicht geschehen würden.
Das Justizzentrum aus dem Jahr 1974 gibt es nur noch zwei Jahre, dann wird umgezogen an den Leonrodplatz; auf meinem Weg zum Dantebad komme ich an der Baustelle vorbei. Ich habe das Bedürfnis, die Stilreinheit des alten Betongebäudes festzuhalten. (Diese Fasertapete!)
Über die besonders lange Beratung zum Urteil wurde es Mittag, ich kam erst kurz vor eins zurück ins Büro. Und da ich erst mal Dringendstes wegschaffen musste, gab es Mittagessen erst kurz vor zwei: Vanillepudding mit Quark, Granatapfelkerne.
Emsiger Nachmittag, an dessen Ende ich wieder so erledigt war, dass ich mich schier nicht zum Heimgehen aufraffen konnte. Beim Heimradeln machte ich einen Abstecher zu einem selten besuchten großen Edeka, um auch dort Whiskey Canadian Club zu suchen (brauchen wir für Manhattans), den wir an den bisherigen Verkaufsstellen nicht mehr finden – vergeblich.
Zu Hause eine Runde Yoga, wieder ging mir Adrienes Besinnlichkeits-Gequassel auf die Nerven – vielleicht ist meine Hypersensibilität eine Spätfolge der Zum-Nachdenken-bringen-Sequenzen am Anfang gymnasialer Religionsstunden. Ich werde mal wieder ein paar Einheiten Mady brauchen.
Zum Abendessen hatte Herr Kaltmamsell köstliches Sushi bestellt, er kam mit viel grob-stückigem Gurken-Apfel-Salat. Nachtisch Dessert aus dem Kühlregal: Ich hatte nach Gläsern mit weiter Öffnung für den Inhalt einer Nachfüllpackung Körpercreme gesucht.
§
Ein beunruhigender Artikel von Sabine Seifert in der taz:
“Kuraufenthalte von Kindern:
Wir Verschickungskinder”.
Millionen Mädchen und Jungen mussten bis Ende der 1990er allein auf Kur fahren. In den Heimen haben sie teils traumatische Erfahrungen gemacht.
Mein Bruder war bei seiner Kur an der Nordsee Anfang der 1980er neun oder zehn und kam mit einer schiefen Nase zurück.
§
Hier wird nachgeladen! (Ton an.)
die Kaltmamsell5 Kommentare zu „Journal Mittwoch, 15. Dezember 2021 – Wirkung einer Gerichtsverhandlung“
Sie möchten gerne einen Kommentar hinterlassen, scheuen aber die Mühe einer Formulierung? Dann nutzen Sie doch den KOMMENTAROMAT! Ein Klick auf einen der Buttons unten trägt automatisch die gewählte Reaktion in das Kommentarfeld ein, Sternchen darüber und darunter kennzeichnen den Text als KOMMENTAROMAT-generiert. Sie müssen nur noch die Pflichtfelder "Name" und "E-Mail" ausfüllen und den Kommentar abschicken.
16. Dezember 2021 um 7:39
Wenn ich Verwendung dafür hätte, tät’ ich versuchen, mir von den Stühlen welche zu sichern. Die sind großartig.
16. Dezember 2021 um 11:17
Daran merkt man, dass man “alt” wird. Gebäude, oder bei mir besonders prägnant, Fahrzeuge im öffentlichen Verkehr, werden abgerissen oder ausgemustert, weil sie das Lebensende erreicht hat. Dabei hat man sich doch so gefreut, als sie gebaut oder eingeführt wurden, damals in 70er und 80er Jahren. Die erste Flotte der SBB, die ich beschafft habe, wurde ab 2014 ausgeliefert, ich hoffe, ich muss deren Ausmusterung nicht mehr im aktiven Berufsleben erleben.
16. Dezember 2021 um 11:57
Hör mir auf, Schlosswiler! In meinem Fall war das 2014, als meine Eltern erzählten, das total schicke, eben erst als ultramodern eröffnete Schwimmbad Ochsenschlacht in Ingolstadt sei wegen Umbau und Sanierung geschlossen. Ich wusste doch noch, wie wir das erste Mal mit viel OH! und AH! dort beim Schwimmen waren!
16. Dezember 2021 um 13:55
Sollten am Canadian Club keine persönlichen Erinnerungen hängen, die ihn unabdingbar für den Drink machen, so kann man eigentlich jeden guten Bourbon nehmen. Vom “Four Roses” rate ich jedoch eher ab, da zu intensiver Eigengeschmack. Ansonsten hilft sicher gerne ein erfahrener Whiskykenner (-trinker?) weiter. Skål!
17. Dezember 2021 um 22:02
Liebe Frau Kaltmamsell,
vielleicht könnte Ihnen der YT-Kanal von “Yang Yoga” gefallen. Dort sind sowohl sehr sportliche, als auch softere Einheiten zu finden. Nach meinem Empfinden sehr gut angeleitet, sehr weltlich und sparsam dosierte Besinnlichkeiten.