Journal Donnerstag, 31. März 2022 – Ausgewanderter Gast und Beifang aus dem Internetz
Freitag, 1. April 2022 um 6:26Unruhige Nacht, aber ohne große Löcher, im Halbschlaf wälzte ich Arbeitsaufgaben der kommenden Tage, alles, mit dem ich auch nur ein bisschen feststecke, beunruhigte mich bis zum Herzklopfen. Ich startete den Tag mit einer Stimmung, die zum düsteren Himmel passte, Katergefühl. Einer von wöchentlich mindestens zwei Corona-Selbsttests zum Morgenkaffee, weil abends ja ein Gast angekündigt war.
Auf instagram aus Hamburg beeindruckende Schneebilder. In München blieb es den ganzen Tag verheißungsvoll düster, aber Regen fiel erst am späten Abend und wenig.
Mittags Banane, Brot (Roggen-Dinkel vom Wimmer: gut – aber warum schokoladenbraun eingefärbt?), Trauben.
Kreislaufkapriolen mit ordentlich Schwindel (interessanterweise gut von klimakterischem Temperaturkarussel unterscheidbar).
Nach Feierabend nur ein kurzer Einkaufs-Abstecher in den Drogeriemarkt, daheim Lieblingstweets zusammengestellt, dann Tischdecken und Vorbereiten fürs Abendessen: Es kam ein ausgewanderter Freund, der beruflich in München zu tun hatte.
Herr Kaltmamsell hatte aus frischem Ernteanteil Topinambursuppe gekocht, außerdem briet er aus Weißkraut Okonomiyaki, zum Nachtisch hatte ich Schwedenspeise mit Trockenobst vorbereitet. Wir ließen uns aus dem neuen Leben des Freundes erzählen und planen jetzt ein Wanderwochenende in seiner neuen Heimat im Harz.
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Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller hat die rumänische Diktatur noch in den Knochen. Ihre Einordnung des russischen Angriffs auf die Ukraine – und wie der Westen es dazu kommen ließ:
“Nobelpreisträgerin Herta Müller: ‘Diktatoren wissen, was sie ihrem Land antun'”.
Ich hoffe, dieses Fiasko auch in Bezug auf den Umgang mit Putin lässt uns merken, wie leichtsinnig wir waren. In der russischen Gesellschaft besteht keine Möglichkeit auf Opposition, bis hin zu Morden und Vergiftungen, was für gruselige Dinge! Putin hat sein eigenes Land ausgeraubt und völlig kaputt gemacht. Und entsetzlicherweise gibt es in Westeuropa Leute, die das nicht wissen wollen oder sich einen Despoten wünschen. Wie kann man in einer Demokratie so verwahrlosen?
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Es gibt immer zwei Sprachen: die Staatssprache, die leere, nach Blech scheppernde Ideologie, die man fast nicht aushält; und es gibt die Sprache der Menschen. Die banatdeutsche Minderheit, aus der ich komme, war sehr reaktionär, das Nachdenken über den Nationalsozialismus haben sie nicht ertragen. Rumänien hat seine Geschichte gefälscht, es ist ja erst am vorletzten Kriegstag auf die Seite der Sowjetunion gewechselt. Man musste ständig darauf achten, dass man Ideologiesprache nicht nachbetet. Ich habe auch nie gesagt, dass mir die deutsche Sprache gefällt. Ein Wort von Jorge Semprún hat mich begleitet: Nicht Sprache ist Heimat, sondern das, was gesprochen wird.
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Dina Litovsky ist Fotografin, Fotojournalistin, Gewinnerin des Nannen-Preises 2020. Hier schreibt sie ihre Überlegungen zum Dokumentieren von Demos auf – solche Reflexionen finde ich immer sehr aufschlussreich.
“What The Women’s March Taught Me About Photographing Protests”.
Protests are a visual trap. They seem relatively straightforward to shoot — lots of people, colorful signs, high emotions — but that’s an illusion. Images of protesters posing with their signs or screaming become really redundant really fast. The intensity of being in the middle of a crowd gets lost in translation and, inexplicably, the photos come out boring. I found that out the hard way. My archives are full of remarkably dull images from all kinds of protests.
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The trick to photographing protests is picking out which individuals most effectively translate the mood of the particular gathering. People with the biggest signs or loudest insignia don’t necessarily make the strongest impact. The people in the flashiest attire come there to be seen and attract the most attention from photographers, but I find that more often than not they diminish the mood of images. Instead, I look for those on the sidelines, protesters who represent the zeitgeist in a more subdued but powerful way.
Und genau das ist der subjektive Filter der Fotos: Litovsky muss beurteilen, welche Individuen diese konkrete Demo am besten repräsentieren. Es gibt keine objektive Berichterstattung.
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Eine Antwort auf die Frage, ob Handystrahlung Tumore verursacht, scheiterte lang an der Verfügbarkeit von Daten: Handys waren schlicht noch nicht lange genug verbreitet. Doch das sind sie jetzt, und es stellt sich heraus:
“No increased risk of brain tumours for mobile phone users, new study finds”.
The researchers used data from the UK Million Women Study: an ongoing study which recruited one in four of all UK women born between 1935 and 1950. Around 776,000 participants completed questionnaires about their mobile phone usage in 2001; around half of these were surveyed again in 2011. The participants were then followed up for an average of 14 years through linkage to their NHS records.
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• There was no significant difference in the risk of developing a brain tumour between those who had never used a mobile phone, and mobile phone users. These included tumours in the temporal and parietal lobes, which are the most exposed parts of the brain
• There was also no difference in the risk of developing glioma, acoustic neuroma, meningioma, pituitary tumours or eye tumours
• There was no increase in the risk of developing any of these types of tumour for those who used a mobile phone daily, spoke for at least 20 minutes a week and/or had used a mobile phone for over 10 years
• The incidence of right-sided and left-sided tumours was similar in mobile phone users, even though mobile phone use tends to be considerably greater on the right than the left side
Auf Deutsch gibt es einen Artikel über die Studie in der Süddeutschen, allerdings nur gegen Abo (€):
“Keine Hinweise auf Hirntumore durch Mobiltelefone”.
9 Kommentare zu „Journal Donnerstag, 31. März 2022 – Ausgewanderter Gast und Beifang aus dem Internetz“
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1. April 2022 um 18:03
Verständnisfrage: Handelt es sich bei der “Auswanderung” um den Umzug in den Harz? Oder ist der ehemals Ausgewanderte nun zurück nach Deutschland in den Harz gezogen?
1. April 2022 um 18:54
Er ist aus München/Bayern ausgewandert, Sonni. (Interessante Frage: Ab wann ist es auswandern und nicht mehr nur umziehen?)
1. April 2022 um 19:23
Mit auswandern ist ja eigentlich der Umzug ins Ausland gemeint – im bayrischen Spezialfall schließt das aber sehr wahrscheinlich den Umzug in ein anderes Bundesland mit ein ;-))
1. April 2022 um 19:27
Dachte ich auch, Sonni – aber würde man von Leuten, die von Garmisch nach Salzburg ziehen, sagen, sie seien ausgewandert? Da ist München -> Goslar dramatischer.
2. April 2022 um 9:28
Ich bin noch fieser. Ich bezeichne mich als Wirtschaftsflüchtling. Bin nach der Schule von Mecklenburg-Vorpommern nach Bayern gezogen. Und verweigere sogar die Integration. Trinke nämlich nach 19 Jahren immer noch kein Bier. :-)
Mein Migrationshintergrund ist zum Glück unsichtbar genug, dass ich keine dreiste Diskriminierung erfahren habe.
2. April 2022 um 10:21
Ich habe damals schon beim Umzug vom Elternhaus in die Unistadt und Wechsel von Hessen nach Niedersachsen von auswandern gesprochen, obwohl beide Orte nur ca. 25 km auseinander liegen.
Putziges Zusatzdetail: ich war mein Leben lang der Ansicht, reinstes Hochdeutsch zu sprechen, bis ich irgendwann so richtig in den Norden (Kiel, später Hamburg) gezogen bin und mich dort immer wieder Leute auf meinen hessischen Zungenschlag ansprachen. Beim Wechsel von zuhause nach Unistadt fiel das ob der örtlichen Nähe noch nicht so auf…
2. April 2022 um 15:02
Was @Sonni antwortet. Und: Auswandern bezieht sich für mich mindestens so sehr auf die Zeit wie auf die Orte. Wenn’s auf Dauer (geplant) ist und dazu noch nach einer langen Zeit, kann’s auch eher kurzer Strecke sein. 25 km find ich bissl zu kurz, weil da ist man für die anderen nicht wirklich weg, selbst wenn man’s wollte.
2. April 2022 um 17:54
Bin heute auf den Tag vor 36 Jahren aus Bayern nach Berlin geflüchtet. Auswandern trifft es nicht, weil ich mit Auswandern verbinde, dass es am Ausgangsort der Auswanderung eine Verwurzelung gab. Wenn man also in Kopf und Herz sowieso schon immer woanders war, ist es eher eine Korrektur oder Regulierung. Aber wer in Bayern echte Wurzeln geschlagen hat, und dann von da wegzieht, wandert durchaus aus! Bayern ist ja nicht nur ein Bundesland, sondern ein eigener kultureller Kontinent. Berlin aber schon auch. Also würde ich nun ohne Rückkehrabsicht nach Hessen ziehen, wäre das nun auch eine Auswanderung, wegen starker Verhaftung und Wurzelbildung in Berlin. Ich finde Auswandern impliziert auch unbedingt die Absicht, am Zielort unbegrenzt bleiben zu wollen und mit dem Ausgangsort dergestalt abzuschließen, dass es keine Zweitwohnungen oder Hinterlassenschaften mehr gibt.
2. April 2022 um 18:27
Das finde ich hervorragend zusammengefasst, Gaga Nielsen, danke schön!