Journal Donnerstag, 7. April 2022 – Ernteanteilpflichten
Freitag, 8. April 2022 um 6:29Viel bessere Nacht: Nur einmal aufgewacht, bis kurz nach fünf geschlafen.
Der Tag begann mild und sonnig. Erst am Vormittag wurde es sehr windig.
Arbeit war viel gleichzeitig (wenn man bei einem Online-Meeting eh nur zuhört, kann man ja gleichzeitig Anderes arbeiten und ist ansprechbar für Kolleg*innenfragen, oder?). Spaß mit haarsträubenden Abkürzungen für Forschungsprojekte.
Mittags gab es Pumpernickel mit Butter, ein Schälchen Physalis.
Ein durchgehetzter Arbeitstag, was einerseits damit zusammenhing, dass Krankheit mir fest einkalkulierte Unterstützung entzog, andererseits damit, dass ich früher gehen musste: Herr Kaltmamsell war beruflich am Abholen des Ernteanteils gehindert, ich musste nach Langem mal wieder einspringen. Was nach Murphy’s Law die Arbeitslast sprunghaft steigen lässt.
Um halb fünf warf ich alles hin oder fuhr es runter und ging hinaus in den Sturm. Der Ernteanteil war schnell abgeholt, so sieht er diese Woche aus. Wegen Herrn Kaltmamsells Terminen war ich auch für das Abendessen zuständig. Der Ernteanteil enthielt dafür Salat (Asiasalat und Portulak) sowie Radieserl-Blätter – die arg lätschert und mitgenommen aussahen. Daheim zupfte ich sie ab und gab sie in eine Schüssel Wasser.
Ich plante Linguine mit Champignon-Rahm und frischem Basilikum, für die Zutaten marschierte ich zum Basitsch. Wo es weder Champignons gab noch frischen Basilikum. Also plante ich um auf Kräutersaitlinge und die krause Petersilie aus dem Ernteanteil.
Zurück daheim aber erst mal eine Runde Yoga (Herr Kaltmamsell war erst für acht Uhr angekündigt), diesmal endlich wieder mit ordentlich Bewegung. Dieses “Revolution”-Programm turne ich noch durch, dann vielleicht doch mal wieder eine Yoga-Phase mit Mady. Ich habe nämlich gemerkt, wie mir eine von Adrienes besinnlichen Bemerkungen ungut nachgeht, die auf abstoßende Weise Richtung “positives Denken” als Allheilmittel tendierte: Sie erwähnte eine Freundin mit offensichtlich chronischen Rückenschmerzen, die sie nach einer weiteren Klage über diese Schmerzen darauf hinwies, dass die Schmerzen ja nie besser werden könnten, wenn sie sich so sehr selbst darüber definiere, “just saying.” (Erinnerte mich an den einen oder anderen Selbst-schuld-Kommentar hier im Blog zu meinen jahrelangen und bösen Hüftschmerzen, bevor ich die Diagnose Arthrose hatte.)
Jetzt hatten sich 70 Prozent der Radieserlblätter erholt, sie kamen zum Salat. Insgesamt produzierte ich ein gutes Abendessen.
Es passten nur wenige Süßigkeiten hinterher.
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Anne Wizorek schreibt im Hauptstadtbrief darüber, was Putins Frauenfeindlichkeit und seine systematische Verfolgung von LGTBQI mit dem Ukraine-Krieg zu tun haben.
“Patriarchat auf Speed”.
Sich selbst und Russland als Verfechter der einzig richtigen gesellschaftlichen Werte zu inszenieren, daran arbeitet Putin seit gut zehn Jahren. In dieser binären patriarchalen Denkordnung gilt der Westen mit seinem Einsatz für Frauen- und LGBTQI+-Rechte als schwach und dekadent – als „das verweiblichte Gayropa“. Dagegen stemmt sich Russland, der quasi „letzte starke Mann“. Mutig wehrt er sich – sicher mit nacktem Oberkörper durch die Gegend reitend – gegen sämtliche Emanzipationsbemühungen marginalisierter Menschen, da sie einer vermeintlich „natürlichen Ordnung“ widersprechen und diese demnach gefährden. Es ist da kaum verwunderlich, dass auch Putins Kriegserklärung vom 24. Februar 2022 diese Töne anschlug, die nicht nur misogyn und queerfeindlich, sondern in ihrer Verschwörungserzählung ebenso antisemitisch sind.
Die Sehnsucht nach einer Männlichkeit hart wie Kruppstahl und Militarisierung durch und durch, schwillt uns seitdem auch wieder verstärkt aus deutschen Kommentarspalten, Talkshowsesseln und Meinungsartikeln entgegen. Krieg, das ist das Patriarchat auf Speed. Angesichts rollender Panzer lässt sich eben viel leichter zu den bekannten, rigiden Geschlechterrollen zurückkehren, statt sie infrage zu stellen.
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Hakan Tanriverdi ist Münchner, und ich habe ihn vor vielen Jahren mit seinen wundervollen Texten im Online-Magazin Kleinerdrei kennengelernt, unter anderem über seine Kindheit und Jugend bei mir ums Eck. Inzwischen wird er so eingeführt:
Hakan Tanriverdi ist Absolvent der Deutschen Journalistenschule. Er hat fünf Jahre für die Süddeutsche Zeitung geschrieben und war Korrespondent in New York. Aktuell ist er Reporter für Cyber- und IT-Sicherheit beim Bayerischen Rundfunk.
WOW.
Zwischen dem einen und dem anderen gibt es viele Verbindungen. Deshalb finde ich diesen Text aus journalist ganz besonders interessant:
“Fünf Dinge, die ich gerne früher verstanden hätte”.
Besonders aufgefallen ist mir Hakans Aussage:
Wenn Leute sich vorstellen, was investigativer Journalismus ist, dann heißt es oft: Geheime Dokumente besorgen. Ich finde, das ist eine sehr einengende Sicht. Ein großer Teil meiner Arbeit besteht darin, öffentliche Berichte zu lesen und Dinge zu suchen, die jede:r finden könnte.
Genau das habe ich mir nämlich schon oft zu Geschäftsberichten von Unternehmen gedacht, auch von richtig großen Unternehmen. Mit denen beschäftigte ich mich ein paar Jahre beruflich und fand darin immer wieder überraschende und wirklich wichtige Informationen (zwar nicht superspannend geschrieben, aber verständlich im Lagebericht, einem Pflichtteil von Geschäftsberichten), fragte mich dann, warum die Medien diese nicht aufgriffen.
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Eine großartige Tanzszene aus Sweet Charitiy von 1969, Regie Bob Fosse, die schön zeigt, wie klar zeitgebunden die meiste Choreografie ist (von Bob Fosse kommen unter anderem die ikonischen “Jazz Hands”).
die Kaltmamsell5 Kommentare zu „Journal Donnerstag, 7. April 2022 – Ernteanteilpflichten“
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8. April 2022 um 9:04
Ja, “Hidden In Plain Sight” fällt mir ein zur vermeintlichen Verborgenheit von Informationen, die erstaunlich oft den allgemeinen Ansichten über Sachverhalte widersprechen.
Hätten die Menschen “Mein Kampf” tatsächlich gelesen & verstanden (leider unsäglich geschrieben, zumindest aus heutiger Sicht), die Geschichte wäre vielleicht anders … ach, lassen wir das.
Ich habe jenseits des Kindergroßziehens studiert, mit einem Kommilitonen (im Alter meiner Sprösslinge) ein Projekt vorbereitet.
Am Tag der “Aufführung” gestand er mir – nicht überraschend für mich – schlecht vorbereitet und froh zu sein, dass ich die Federführung hatte. Grund: “Das war sooo viel zu lesen!”.
Jenseits der Frage, was jemand an einer Fachhochschule will, der lesen ganz allgemein doof findet, stelle ich generell eine Unlust fest, sich einfach tiefer mit Themen und Fakten zu befassen. Nicht nur in der Generation meiner Kinder.
Aber mitblöken, wie blöd alles ist …
8. April 2022 um 9:37
Liebe Frau Kaltmamsell,
ich habe vor kurzem auf YouTube Yoga mit Mascha Trietsch entdeckt. Grob zusammengefasst würde ich sagen Sie redet weniger als Adriene und die Abläufe sind zügiger als bei Mady. Eine angenehme Abwechslung :)
8. April 2022 um 10:42
“Hidden in plain sight”: Ich habe lange – mitunter angestellt und deutlich länger als Freier – als Wirtschaftsjournalist gearbeitet. Und für die Butter auf dem Brot auch für Agenturen, die Geschäftsberichte für Unternehmen/Konzerne erstellt haben. (Andere Branchen/Themen selbstverständlich, die interne chinesische Mauer war stabil.) Insofern bin ich sehr dafür, Fortbildungen zum Lesen & Verstehen von Geschäftsberichten (bzw: Wissen, wo man schauen muss) quasi zum verpflichtenden Curriculum zu erklären, wenn jemand in einer Wirtschaftsredaktion anfängt. Die Details & Themen, auf die man dann stoßen kann, sind, wie Sie ja schreiben, häufig alles andere als dröge.
8. April 2022 um 12:15
Cinematographisches Rumgeraune zu “Patriarchat auf Speed”: Nackt durch die Tundra reiten ist doch so was von Brokeback Mountain. Und wer denkt da jetzt nicht an die Sch(l)ussszene von American Beauty?
9. April 2022 um 9:49
Viele Journalisten scheinen Themen mit Witschaftsbezug zu scheuen wie der Teufel das Weihwasser, auch wenn sich dahinter brisante Geschichten verbergen. Mir ist ein Rätsel, warum über diese Cum-Ex-Sache so wenig und so unterirdisch schlecht berichtet wurde und wird. Journalisten aus meinem Bekanntenkreis hab ich gefragt, warum das so ist, als Antwort kam “Das will keiner machen, das will keiner lesen.” Es ist ein Elend.
Zu Bob Fosse kann ich die vollkommen hinreißende Serie “Fosse/Verdon” (Streaming oder auf DVD) empfehlen.