Journal Freitag, 24. Juni 2022 – Bachmannpreislesen, Tag 2

Samstag, 25. Juni 2022 um 7:59

Tag der Akzente, Tag der Performances.

Ich ließ mir morgens mehr Zeit, und auch an diesem zweiten, schon früh heißen Lesetag war der Publikumsbereich im ORF-Studio nur locker besetzt.

Zwei meiner Fragen vom Donnerstag wurden durch die Lesungen des Vormittags beantwortet:
1. Wie lange wird es wohl dauern, bis Eingewanderte erster Generation in Klagenfurt mit anderen Themen als ihrem Eingewandertsein auftauchen?
Bis gestern, als Ana Marwan mit ihrem extremen slowenischen Akzent meinen bislangen Favoritentext vorlas: “Wechselkröte”.
2. Wird das seit zweieinhalb Jahren real dominierende Thema Corona in irgendeinem Text auftauchen?
Ja, nämlich in genau diesem Text, durch die Erwähnung einer FFP2-Maske und Nachdenken über die Frage, ob man noch ein Gesicht hat, wenn es keiner sieht.

Schon Marwans Vorstellungsfilm hatte den Ton gesetzt mit seinem wirklich witzigen Sarkasmus, jetzt hörten wir die Gedanken einer jungen Frau in einem abgelegenen Haus. Ich mochte die Beobachtungen, Reflexionen, das Changieren von Erlebtem und Ausgedachtem – auch die Sprache unter anderem wegen ihrer Austriazismen wir “Gelsen” und “Müllsackerl”. (Liebevolle Erinnerung an meinen Vater, der Bayrisch mit spanischem Akzent spricht. Wäre eine schöner Forschungsgegenstand: Der Einfluss des Lokalen auf Einwanderer- und Exilliteratur.)

Delius hatte ein feinsinniges Portrait einer Außenseiterin gelesen, sah das klassisch feministische Motiv einer Frau, die sich zurückzieht, um sich selbst denken hören zu können. Sie fand den zweiten Teil mit dem imaginierten Leben eines potenziellen Kinds allerdings weniger gut gearbeitet. Um diese verschiedenen Teile des Texts (manche sahen zwei, andere drei) und ihr Verhältnis zueinander drehte sich dann der Hauptteil der Jury-Diskussion: Für Kastberger erzeugten diese Teile Spannungen, Tingler sah sie disparat und unverbunden sowie mit Niveaugefälle, Wilke aber diagnostizierte eine “Sogwirkung”.

Als nächstes bekamen wir eine Art Text, der möglicherweise in Klagenfurt immer dabeisein muss: Einen Männertext, und zwar vom Berliner Behzad Karim Khani, “Vae victis”.

Gleich Insa Wilkes Eingangskommentar entsprach meiner Wahrnehmung: Die Geschichte aus der Perspektive eines Mannes, der seine Haft antritt, und seiner ersten Monate im Gefängnis, also eine “Knastgeschichte”, war ein Genrestück. Zwar assoziierte ich nicht wie sie TV-Serien (die kenne ich alle nicht), auch fand ich sie nicht wirklich “gut erzählt”. Aber sie verlief erwartbar, sobald man das Thema erkannte. Viele Jury-Mitglieder kritisierten, was auch mir sofort als Technikfehler aufgefallen war: Den Perspektivenwechsel (Gefängnischef, kleiner Bruder), der nicht zur sonst konsequenten Innensicht des Protagonisten passte.

Später glich ich mit der Mitbewohnerin unser Wissen über Gefängnisleben ab: Bei mir basierend auf der Besuch des Gefängnisses in Landsberg als Teil der Schöffenschulung samt Gesprächen mit dem dortigen Personal, bei ihr basierend auf Kursen, die sie eine Zeit lang für Inhaftierte gegeben hatte. Wir waren uns einig: Das tatsächliche Gefängnisleben mit seinem sozialen Geflecht hätte viel interessantere Episoden und Details geliefert als die Klischees in Khanis Text.

Die Jury hatte viel über die Glaubwürdigkeit des Texts gesprochen und hatte dabei unterschiedliche Ansichten – ich sah sie nicht.

Nochmal ein starker Akzent, der wie bei Marwan auf mich einen intensiven V-Effekt hatte: Usama Al Shahmani und sein “Porträt des Verschwindens”. Eine Kinderperspektive im Irak von 1979, dagegengeschnitten dieses Kind als Erwachsener im Exil – durchaus anregend anzuhören (mit schönen Helvitismen wie “Stube” für Wohnzimmer), aber halt nichts Neues.

Die Jury (Kastberger und Schwens-Harrant) lobte zunächst die Behandlung der Themen Heimat und Exil, auch die Kinderperspektive, doch Tingler ließ das platzen mit dem Hinweis, der Text habe “alles, was man erwarten würde”, er sei schlicht konventionell. Dem pflichteten Delius und Kaiser bei. Die Diskussion endete in Zank darüber, ob es für verschiedene Erzählkulturen verschiedene literarische Wertungssysteme geben könne – der genau in dem Moment ausbrach, als Moderator Christian Ankowitsch zum Abmoderieren ansetzte; er tat es dann halt über den Zank hinweg, ein zauberhafter Moment.

In der Mittagspause hatte ich wieder keinen Appetit, holte mir nur einen schlechten Cappuccino (bekam aber einen guten Tipp für Samstag). Im Studio war es angenehm kühl im Gegensatz zum heißen Garten, nicht nur deshalb setzte ich mich für den Nachmittag wieder hinein.

Barbara Zeman las “Sand”, der fast komplett an mir vorbei ging – das mag aber durchaus an meiner (irrationalen) Aversion gegen solche zarten Empfindlichkeitspflänzchen liegen, wie es hier im Mittelpunkt der Venedig-Geschichte (also auch Genre) steht und deren Empfindsamkeit ich als tyrannisch empfinde (ich muss an Friedrich Torbergs Begriff “Filigrantrampel” denken).

Denn im Gegensatz zu mir war die Jury ausgesprochen angetan, sah Zeichen und Symbole (Kaiser), einen Reichtum an literarischen Referenzen, dramaturgische Spannung (Kastberger), eine ganze feministische Geschichte (Wilke – die gestern nicht nur in diesem Text Feminismus aus allem und jedem konstruierte), dahinter etwas Dämonisches (Schwens-Harrant), “über- und unterspült” (Wiederstein). Nur Tingler äußerte sich erleichtert, dass diese Art von Geschichten mit ihrem “assoziativen Befindlichkeitsstil” aus der Mode gekommen sei.

Mara Genschel las ihr “Das Fenster zum Hof” mit aufgeklebtem Schnurrbart und mit einem amerikanischen Akzent, wie ihn Harald Juhnke nicht besser hinbekommen hätte, einen Text über die Erstellung eines Textes und über die anderen Bachmannpreis-Kandidat*innen. Und genau das ist für mich Klagenfurt: Ich krümmte mich zwar fast durchgehend vor Peinlichkeit, begrüßte aber sehr, dass es auch sowas im Rennen auf den Bachmannpreis gibt. Das Publikum im Garten vor der Lesebühne war begeistert und lachte sich schepps.

Die Jury tat in der Diskussion, was sie muss: Sie spielte das Spiel der Performance als Jury weiter und stritt, ob das nun gut oder schlecht war, hielt fest, dass es solche Versuche der Thematisierung des Bachmannpreisgeschehens in Texten immer wieder gebe. Erstes Mal: Die Autorin schaltete sich in die Diskussion ein. Sie betonte, dass nicht sie eine Performance behauptet habe, “ich habe mich nur schick gemacht”.

Gestern verschob ich die Zusammenfassung des Gesehenen fürs Blog, ich wollte an den See zum Baden. Auf dem Weg zur Ferienwohnung aß ich die mitgenommene Brotzeit in Form eines Apfels und eines Kantens Brot, zog mich in der Wohnung aus, sonnencremte mich, zog Badesachen an. Und schritt zum ersten Mal zum Ausleihen eines Nextbikes für die Fahrt zum Strandbad! Aber: Alles ging glatt (mit App QR-Code einscannen, aus der App vierstelligen Code am Rad eingeben, losfahren), keine Geschichte zu erzählen.

Im Bad Maria Loretto traf ich auf vertraute Bachmannpreis-Schlachtenbummlerinnen, kühlte mich im See, plauderte, schwamm, saß in der Sonne – und merkte, dass mein letzter Schwimmwasserkontakt außerhalb von künstlichen Becken viele Jahre her war. Gegen sieben radelte ich zurück, begegnete einem weiteren lieben Internetmenschen beim Entgegenradeln, stieg zu einer Umarmung und einem Austausch von Neuigkeiten ab.

Zurück in der Ferienwohnung war ich sehr hungrig. Es gab selbstgebackenes Brot mit dick Butter, rote Paprika und Käsewürfel, Joghurt mit Zucker, weiße Mozartkugeln. Jetzt machte ich mich an die Zusammenfassung des Lesetags fürs Blog.

Niederschmetternde Nachricht des Tages: Der Supreme Court der USA hat das Recht auf Abtreibung gekippt (in einem Land, das nicht mal Mutterschutz hat).

die Kaltmamsell

8 Kommentare zu „Journal Freitag, 24. Juni 2022 – Bachmannpreislesen, Tag 2“

  1. iris meint:

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    Made my day

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  2. Thea meint:

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    Gerne gelesen

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  3. Ute meint:

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    Gerne gelesen

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  4. Andrea meint:

    Liebe Frau Kaltmamsell, ein Hinweis zum “Portrait des Verschwindens”: Stube ist kein Helvetismus. Ich bin Niedersachsin und bei uns sagt(e) kein Mensch Wohnzimmer. Das war die Stube. Bei Wohlhabenden gab es zwei: Die Stube für den Alltag, in dem man sich allabendlich aufhielt und die “gute Stube”, die nur für Besuch und Feierlichkeiten wie Weihnachten genutzt wurde. Häufig war die Stube einer von nur zwei Räumen, die geheizt wurden (außer der Küche).
    Auch im Niederdeutschen “geiht man in de Stuuv to sitten” = setzt man sich in die Stube.

  5. Lempel meint:

    Hier im Oberostfränkischen ist das Wohnzimmer bei alten Leuten auch die “Stumm”.

  6. die Kaltmamsell meint:

    Danke für diese Hiweise, Andrea, Lempel!

  7. Andrea meint:

    Noch eine Info zum Thema Stube: In Bremen gibt es ein traditionelles Gericht: Kükenragout. Hauptzutat sind Stubenküken.
    Ein Rezept hierzu gibt’s im sehr schönen Kochbuch “Knipp, Kohl und Klaben – Bremer Kult-Rezepte”, verlegt im Schünemann-Verlag, mit vielen kleinen netten Infos zu Traditionen, Zutaten und anderen Bremensien. Sowohl Koch- als auch Leseempfehlung. “Winke auch Herrn Kaltmamsell freundlich zu”.

  8. Hanna meint:

    Dabei gibt es in München doch so nette Badeseen. Als ich vor Jahren für ein paar Monate in München gewohnt habe, bin ich immer zum Fasaneriesee gefahren, das war super.
    Bin aber auch keine zügige Bahnenschwimmerin, mehr die Kategorie “kommt vorwärts und ertrinkt eine zeitlang nicht”.

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