Journal Mittwoch, 27. Juli 2022 – Wenn Marieluise Fleißer La casa de Bernarda Alba geschrieben hätte

Donnerstag, 28. Juli 2022 um 6:28

Gestern hatte ich mir freigenommen, um an Trauerfeier und Beerdigung eines Mitabiturienten und früheren Chormitsängers in Ingolstadt teilnehmen zu können. Die Nacht war voller unruhiger Träume dazu gewesen.

Ich nahm bereits einen recht frühen Zug, um mich vor dem Requiem zu aklimatisieren. Bus vom Hauptbahnhof in die Innenstadt (der Ingolstädter Hauptbahnhof liegt aus militärhistorischen Gründen weit außerhalb). Ab hier beäugte ich jedes Grüppchen älterer Herren vorsichtig darauf, ob das Klassenkameraden/Mitchorsänger sein könnten – ich hatte mir klargemacht, dass das Gleichaltrige sind, dass sie nicht mehr so aussehen, wie ich sie von vor 30 Jahren im Gedächtnis habe.

Die Donau fließt auch weiterhin wie ein langer, ruhiger Fluss. Hinterm Neuen Schloss entsteht ein ganz neues Viertel, das ich mir mal ansehen möchte.

Ich trank in der Nähe des Rathausplatzes einen ausgezeichneten Cappuccino im District Five, wo ich auch ein Regal mit interessanten Weinen aus dem Burgenland entdeckte, unbekannte Weine von mir bekannten Winzern. (Ich glaube, hier war in meiner Kindheit ein Sportgeschäft. Dann hätte ich hier einst meine Ski bekommen.)

Auf dem Rathausplatz wurde gerade das Carrara-Weinfest aufgebaut, Carrara ist eine der Partnerstädte Ingolstadts.

Traditionsgaststätte mit Verbindungen zu meiner Familiengeschichte.

Im Keller des Poppenbräu befand sich in meiner Jugend eine Disco, das Dscho (Jo).

Kreuztor, rechts die vor vielen Jahren geschlossene Bäckerei Uhlmann (berühmt für ihre Brezen), die seither leer steht wie so viele Geschäfte. Eingekauft wird nämlich in einem eigenen und Parkplatz-reichen Viertel am Stadtrand, im Westpark.

Beim Fleißerhaus vorbeigeschaut.

Dieses Café gab es schon zu meinen Jugendzeiten. Links die Franziskanerkirche.

Die Post. Von hier aus rief mein Vater in meiner Kindheit die Familie in Spanien an.

Das Requiem fand im Liebfrauenmünster statt, es waren viele Weggefährt*innen gekommen. Schon davor traf ich lang nicht gesehene Menschen. Hinein ging ich, als auch meine Mutter dazustieß. Erste Überraschung: Das Münster war nicht so erbärmlich kalt, wie ich es von manch durchfrorenem Gottesdienst in Erinnerung hatte, ich hatte umsonst eigens einen Blazer dabei.

Durch das Requiem kam ich ganz gut. Zum einen genoss ich die Chormusik: Der Verstorbene hatte in einigen Chören gesungen, es kamen viele Stimmen zusammen. Und ich prägte mir ganz tief den einmaligen Anblick des Chorausschnitts ein, in dem mein Bruder jetzt neben seinem ältesten erwachsenen Sohn sang, daneben auch noch zwei langjährige ehemalige Chorgefährten von mir. Zum anderen kann ich die katholische Liturgie inzwischen schlicht als etwas Kulturelles sehen, und zwar Teil meiner Kultur. Doch gerade bei einem Requiem fiel schon sehr deutlich auf, wie stark als Prämisse vorausgesetzt wird, dass ein Leben nach dem Tod, wenn nicht sogar ein ewiges Leben nach einer Auferstehung positiv und erstrebenswert ist. Dabei weiß ich verlässlich, dass ich nicht allein damit bin, den Tod als echtes Ende mit Erleichterung zu erwarten.

Zur Beerdingung selbst auf dem Westfriedhof zog die Trauergemeinde zu Fuß – in Ingolstadt sind die Wege kurz.

Es fanden sich sehr viele Menschen ein, um Abschied zu nehmen. Ich traf noch mehr Bekannte aus meiner Ingolstädter Vergangenheit, vor allem aus Chorzeiten. (Der zauberhafte Moment, als ein Wanderfalke direkt über meinen Kopf hinweg flog.) Ein letzter Blick ins Grab, auf Sarg und Berge von Blumen.

Mach’s gut Markus, ich wünsche dir von Herzen genau das Leben nach dem Tod, an das du geglaubt hast.

Es hätte anschließend Gelegenheit zu weiteren Begegnungen in einer Gaststätte gegeben, doch ich hatte mich bereits mit vielen Menschen ausgetauscht und konnte nicht mehr. Ich packte all die intensiven Erlebnisse erst mal weg. (Mich hatten sehr viele nicht erkannt – ich ja viele auch nicht, es ist ganz erstaunlich, was die Jahrzehnte mit Gesichtsstrukturen anstellen können. Eine App mit Minus-30-Jahre-Filter? Gibt’s sowas? Wäre für diese Gelegenheiten sehr praktisch.)

Auf dem Rückweg aß ich um drei (Frühstück?) einen mitgebrachten Flapjack aus meiner Handtasche, ich hatte die Esssituation ungefähr so vorhergesehen. Und ich schaute nochmal in das Café vom Morgen, kaufte zwei Flaschen Wein. Mit ordentlich Glück erwischte ich am Hauptbahnhof einen Zug nach München kurz vor Türenschließen.

Fürs letzte Stück nach Hause nahm ich die Tram: Blase an der Ferse. Daheim erzählte ich erst mal Herrn Kaltmamsell, machte ein wenig Yoga (über das viele Stehen und Gehen hatte sich der neue Rückenschmerz zurückgemeldet). Als Nachtmahl servierte Herr Kaltmamsell breite Bohnen (Mischung aus Ernteanteil und Balkonernte) in Tomatensauce mit ein wenig Hirse, außerdem Käse mit Hefezopfresten. Blick an den Himmel ergab: Noch sind die Mauersegler da.

§

Ich dachte immer, dass ich’s ja im Grunde nicht weit aus Ingolstadt rausgeschafft habe, grad mal 80 Kilometer bis München – selbes Bundesland, gleicher Dialekt. Jetzt wird mir klar, dass ich’s vor fast 25 Jahren sehr wohl weit rausgeschafft habe: ins Internet. Das war das eigentliche Ausbrechen, der Paradigmenwechsel, die große weite Welt. Mein Leben nach Ingolstadt und auch Augsburg fand und findet im Web statt. Hier habe ich über die Texte von Menschen ganz andere Arten zu leben kennengelernt, ganz andere Möglichkeiten von Lebenswegen, Umgebungen, Größenordnungen, Hintergründen, Entscheidungen, Perspektiven, Voraussetzungen. Hier bin ich auf die Menschen gestoßen, die mich in den vergangenen Jahrzehnten maßgeblich beeinflusst haben.

Ich denke an das Gespräch mit einer Freundin (aus dem Internet), die kürzlich einige Wochen in ihrem Herkunftsdorf verbrachte und staunte, mit welchen zwischenmenschlichen Details ihre Verwandten sich beschäftigten: Jede Pflanze im Nachbarsgarten, jeder Kleidungswechsel von Bekannten, die man beim Einkaufen traf, standen nicht nur unter genauester Beobachtung, sondern wurden auch intensiv diskutiert, eingeordnet, bewertet, mit viel Meinung und Emotion. Wir waren uns einig: Weil die Leute nicht im Internet sind, sie haben ja nichts anderes. Es ist kein Scherz, dass das Web genau für mich gemacht wurde: Nichts anderes füttert meine leicht entflammbare inhaltliche Wissbegier mit genau dem für mich perfekten Maß an menschlicher Nähe und Distanzmöglichkeit.

Hier ein aktueller Blick, den mir ein Text in eine unbekannte Welt ermöglichte, in eine Bar im japanischen Hiroshima vor 25 Jahren:
“Mac und die Bar”.

die Kaltmamsell

6 Kommentare zu „Journal Mittwoch, 27. Juli 2022 – Wenn Marieluise Fleißer La casa de Bernarda Alba geschrieben hätte“

  1. Gaga Nielsen meint:

    Die allermeisten Menschen haben gar nicht die Not, “es” von irgendwo “herauszuschaffen”, und das ist auch vollkommen in Ordnung. Die haben dann ja offenbar meistens das Empfinden einer angenehmen Verwurzelung und Heimatgefühle, was doch eigentlich sehr schön ist. Wer damit eine Not hat, den treibt es automatisch woanders hin. Wer ein bißchen zwischen den Stühlen sitzt, kann es auch flexibel halten. Sich von seinem Herkunftsort an einen anderen Lebensmittelpunkt zu bewegen, ist an sich auch keine “Lebensleistung”, die man sich als Orden anheften müsste. Ich finde, man kann mit jeder Konstellation seinen Frieden schließen, wenn es die bewusste, freie Wahl ist. Auch in ländlichen Regionen lässt sich Urbanes und Welthaltiges erleben, heute sowieso, es lebe das Internet.

    P.S. ich verstehe nicht, worin genau der Zusammenhang zwischen der Überschrift und dem Eintrag besteht, außer dass bei den Fotos ein Haus mit Verbindung zu Fleißer dabei ist.

  2. die Kaltmamsell meint:

    Da stimme ich völlig zu, Gaga Nielsen: Es sind einfach verschiedene Lebensziele und -gewichte. Meines lag sehr auf Rauskommen, und ich dachte bis kürzlich, das hätte ich nicht geschafft.

  3. Karin meint:

    Das mit dem „Rauskommen“ ist ein sehr interessantes Thema – ich würde es viel weniger räumlich definieren. Selbst wenn ich im selben Ort wie meine Eltern leben würde, wäre ich definitiv „Rausgekommen“, da ich ein völlig anderes Lebenskonzept verfolge. Dazu gehört auch und vor allem Bildung und Offenheit gegenüber Neuem (nicht nur, aber auch in diesem Internet).

  4. Christine meint:

    Hatte kürzlich ähnliche Gedanken, als ich testhalber wieder an einer Probe meines langjährig besuchten Chores teilnahm, dessen Mitglieder Jahrzehnte mein einziger sozialer (Kleinstadt-)Kontext waren. Ich kam nach Hause und es war fast eine Epiphanie zu erkennen, um wie viel näher und interessanter und wichtiger mir meine Internet-Freunde sind, die sich allesamt im Ausland, teils Tausende von Kilometern entfernt befinden, mit denen ich teils auf Englisch kommuniziere und die ich nie „in the flesh“ gesehen habe, respektive sehen werde. Noch vor fünf Jahren hätte ich die Möglichkeit eines solchen Phänomens vehement bestritten.

  5. lazycuttlefish meint:

    Ich hatte mal einen Psychologie-Professor, der die These aufstellte, Fleischer in einem bayerischen Dorf zu sein, weil der Vater dort Fleischer war, sei keine Identität. Drei Semester Psychologie in Berlin zu studieren und sich dann dafür zu entscheiden, die väterliche Fleischerei in einem bayerischen Dorf zu übernehmen, hingegen schon. (Großes Hallo in unserer Berliner Seminargruppe, zu der ein Fleischersohn aus Bayern zählte.)

    Persönlich lebe ich in dem Haus, das mein Urgroßvater errichtete. Aber ich lebe hier, nachdem ich in vier anderen Ländern gelebt habe und mich dann bewusst dafür entschied. Geografisch bin ich wieder da, wo ich angefangen habe — aber im Kopf bin ich ganz woanders.

  6. Croco meint:

    Diese Essenz des Herausschaffens haben Sie sehr sehr schön formuliert.
    So ähnlich kenne ich es auch. Meine Eltern haben es schon aus der Heimat raus geschafft, über 100 km. Ich hatte somit das Denken und die Einstellung zum Sprung. Meine Schwester ist tatsächlich ins Heimatdorf meiner Mutter zurückgekehrt, ohne Not übrigens. Dort sind alle Details wichtig, auch wer mit wem verwandt ist über Generationen hinweg. Als ob das irgendwann wichtig würde.
    Das Internet ist der Ersatz für meine heißgeliebte Stadtbücherei. Es öffnet mir Welten, von denen ich nicht mal ahnte, dass es sie gibt.

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