Journal Freitag, 2. September 2022 – Herrliches Licht und Abend in der Acetaia

Samstag, 3. September 2022 um 10:08

Nachts einmal von einer draußen herumschreienden Frau geweckt worden, dann kurz vor Weckerklingeln von Angst (nichts Konkretes, erst mal spüre ich die Angst, dann wie sie sich mit Lichtkegel über Aktuelles einen passenden Anlass sucht – offensichtlich reine Biochemie).

Der Morgen war sehr frisch, aber wolkenlos sonnig. Wie auch in den vergangenen Jahren Ende August / Anfang September: viel Eichelhäher-Geschrei allerorten. Hat das einen bekannten Grund?

Nach geschäftigem Vormittag schaffte ich es auf einen Cappuccino ins Westenend. Herrlicher Spaziergang, das lebendige und bunte Westend mag ich schon arg gern. Und bei diesem Wetter war es SO SCHÖN!

St. Rupert.

Beim Emilio in der Gollierstraße (es wurde gerade angelernt) guten Cappuccino bekommen. Auch auf dem Rückweg konnte ich den wunderschönen Tag schier nicht fassen. Gut gelebt aussehende Kellnerin in einer Wirtshaustür, in Jeans und Turnschuhen, Zigarette in der Hand, Blick unterm weggeklammerten Lockenhaar in die Ferne gerichtet. Alle Bänke am Gollierplatz besetzt, viele Gespräche.

Zurück im Büro war ich froh, diesen Moment gehabt zu haben, denn ich wurde schon wieder zu einer unerwarteten (und sich ständig verändernden) Volte ums Vergaberecht herum gezwungen. Ich sah mir zu, wie ich sie in schnippischem Tonfall umsetzte, konnte darob endlich wieder mich selbst mehr hassen als das Vergaberecht, Welt in Ordnung.

Mittagessen Äpfel, Tomaten, Pumpernickel mit Frischkäse.

Pünktlicher Feierabend, heim ging ich in möglichst viel Sonne. Unterwegs kaufte ich in einem kleinen Laden Dahlien und Pfirsiche. Zu Hause kümmerte ich mich erst mal um die Blumen, sortierte den bestehende Strauß aus, brachte den frischen in eine Vase.

Nochmal die Runde Yoga vom Vortag mit viel Kraft und Balance.

Zum Nachtmahl lud ich Herrn Kaltmamsell in die Acetaia ein. Für die U-Bahn-Fahrt dorthin mussten wir uns daran erinnern, wie das nochmal mit den Streifenkarten funktionierte nach drei Monaten 9-Euro-Ticket, mit dem wir einfach in jedes beliebige Nahverkehrsmittel springen konnten (was der größte Luxus daran war). Wir hatten auf eine letzte Gelegenheit gehofft, im wunderschönen Gastgarten des Lokals zu sitzen, doch als uns der Kellner drinnen platzierte (Terrazzoboden!), wehrten wir uns nicht.

Wir entschieden uns gegen das Menü und hatten beide Lust auf diese Speisen von der Karte:

Schafskäseravioli mit Butter, Majoran und Aceto Balsamico.

Entenbrust mit Mais und Feigen.

Pistazien-Rosen-Torte, rote Beeren und Rosmarin-Sorbet.

Dazu suchte ich selbständig aus der Weinkarte (nach Rebsorten sortiert statt nach Anbaugebieten, ungewöhnlich für eine italienische Weinkarte) aus Lazio eine Cuvée Diana Nemorensis 2017 von Ômina Romana aus – schlicht weil ich Lust auf Rotwein hatte und so wenige Weine aus Lazio kenne. Er stellte sich als sehr interessant heraus mit seiner leichten Veilchennote. Abschließend tranken wir ein Glas Cynar auf Eis.

Gemütliche Heimfahrt, zu Hause machte ich uns noch einen koffeinfreien Espresso, dazu ein Gläschen alten spanischer Brandy – auch wenn ich wusste, dass er nach Franciacorta, Wein und Cynar das Kopfweh am nächsten Tag endgültig besiegelte.

§

Im Süddeutschen Magazin gibt es eine Kolumne “Gute Frage”, in der Johanna Adorján auf Fragen zu Benimm und individuelle moralische Entscheidungen antwortet. Die Antwort auf die aktuelle Frage (€) enthielt diesen Hinweis:

Neulich stand in dieser Zeitung ein Interview mit einem Soziologen über die Frage, ob es in Frei­bädern mehr Regeln braucht. Immer wieder kommt es dort zu Zusammenstößen. Der Soziologe vertrat die Ansicht, dass an den wenigen öffentlichen Orten, an denen sich Fremde aus unterschiedlichen Milieus begegnen, keinesfalls alles offiziell geregelt sein sollte. Hier werde Demokratie geübt: Wie wollen wir miteinander um­gehen? Was einem Menschen gefalle, ärgere schon mal einen anderen, so sei das nun mal in einer liberalen Gesellschaft. Immer noch besser ein paar gebrochene Nasen als ein Überwachungsstaat, so in etwa war das Fazit.

Das gefiel mir. Auch wenn unter solcher Offenheit gerne mal die Schwächsten leiden (siehe Erfahrungen mit Gruppen, die erklärtermaßen ohne Hierarchien auskommen wollen: Hier ist die Gefahr belegbar groß, dass dann doch die Stärksten, Rücksichtsloseseten das Sagen haben und das darf nicht thematisiert werden, da es ja offiziell keine Hierarchien gibt), ist sie mir sympathisch: Sie erinnert mich an die Spiele meiner Kindheit. Die ersten sieben Jahren meines Lebens verbrachte ich in einem Wohnblock mit vielen anderen Kindern. Meist spielten wir draußen, nur manchmal auch drinnen – und drinnen natürlich eher zu dritt, viert, fünft. In der großen Gruppe draußen wurden immer wieder die Regeln für unsere selbst ausgedachten Spiele ausgehandelt, waren es Rollenspiele wie Vater-Mutter-Kind oder Klassiker wie Verfang. Auch eine Hierarchie gab es. Im Fall von bösem Streit, der auch mal physisch ausgetragen wurde (nichts Schlimmes, wir schubsten und patschten oder endeten mit den Händen in den Haaren der/des anderen: “LASS LOS!” – “NEIN! LASS ERST DU LOS!”), war völlig klar, wer entschied und schlichtete: Die beiden ältesten Mädchen, drei Jahre älter als die nächstjüngeren, je nach Verfügbarkeit einzeln oder zusammen. Sie hatten sich nie in diese Rolle gedrängt, erfüllten sie manchmal sogar widerstrebend, nahmen sie aber als selbstverständlich hin. Ich kann mich nicht erinnern, dass jemals Eltern hinzugezogen wurden, die gehörten nicht dazu.

Außenseiter gab es schon auch: Da war der Bub, der immer Sachen kaputt machte und richtig zuschlug. Mit dem wollten wir nicht spielen, den schlossen wir aus. (Erwachsenensicht: Er verstand die Regeln nicht oder akzeptierte sie nicht oder beides, kam wahrscheinlich aus einem gewalttätigen Elternhaus – es gab keine gemeinsame Basis.) Meine Mutter erzählt, sie habe versucht mir klarzumachen, dass der Bub alles kaputtmache, weil wir ihn nicht mitspielen ließen. Das konnte ich nachvollziehen und spielte immer wieder einzeln mit ihm, wild konnte ich ja. (Endete unter anderem damit, dass ich mal barfuß auf dem Gepäckträger seines Radls mitfuhr und mit den Zehen in die Speichen geriet. Mir fehlte die für wildes Spielen nötige Geschicklichkeit.)

§

Das erste Interview von Sven Michaelsen, das mir gefällt (sonst stört mich, dass er den Interviewten ihr Leben erzählt), noch dazu mit jemandem, den ich bis dahin nicht mochte, Ferdinand von Schirach (€):
“‘Es gibt wohl eine Begabung zum Glück – ich habe sie nicht'”.

Von Schirach sagt viele kluge Dinge. Unter anderem weist er darauf hin, wie viel einfacher es die heutige Technik macht, der Nachwelt seinen literarischen Nachlass zu verwehren:

Bei mir zum Beispiel gibt es am Ende nur einen USB-Stick. Tagebücher, Notizen, Manuskripte, Briefe: alles elektronisch. Das will Marbach1 sicher nicht. Außerdem ist es verschlüsselt gespeichert. Wenn ich morgen überfahren werde, kann niemand darauf zurückgreifen.

  1. Das deutsche Literaturarchiv. []
die Kaltmamsell

8 Kommentare zu „Journal Freitag, 2. September 2022 – Herrliches Licht und Abend in der Acetaia“

  1. Croco meint:

    Das Leben auf einem Stick! Eine wunderbare Vorstellung. Nichts bleibt von mir.
    Elon Musk und Bill Gates stelle ich mir immer als Kinder vor, die nicht mitspielen durften. Und das später damit kompensieren, dass sie die Spielregeln aufstellen.
    Für Gummitwist, Kästchenhüpfen und all das war ich immer ungeeignet. Ich habe unterwegs die Regeln vergessen und das Gewinnen hat mich nie interessiert.
    Dafür mochte ich den Geschwindigkeitsrausch des Rollschuhfahrens und später des Fahrradfahrens sehr. Mit der Folge, dass ich heute noch Narben an Knien und Waden habe.

  2. Alexandra meint:

    Von den Eichelhähern weiß ich, dass, wenn sie vermehrt auftauchen (respektive wahr genommen werden), mit einem harten Winter zu rechnen ist.

    Zudem produzieren manche Pflanzen unter Stress deutlich mehr Früchte und Samen:”Der Tod steht vor der Tür, vermehrt Euch!”. Das könnte bedeuten, dass es dürrebedingt lokale Überangebote an Nahrung gibt für die Häher, was vermehrte Aktivität bei ihnen hervorruft – ergo mehr Sichtbarkeit.

    Eichenschößlinge aus allen erdenklichen Pflanzenkübeln im nächsten Frühjahr werden’s erweisen …

  3. die Kaltmamsell meint:

    Na ja, Alexandra, wenn dieses Wissen so zuverlässig ist wie Ihre Vorhersage eines verregneten Sommers dieses Jahr, bin ich ganz entspannt.

  4. InaPö meint:

    Wobei ich glaub Gates war sich selbst genug, hat auf fette Physikbücher gespart und ist dann drin versunken.

  5. Ina meint:

    Mal abgesehen von beruflichem Erfolg sehe ich keinerlei Gemeinsamkeiten zwischen Musk und Gates. Da tut mir letzterer jetzt fast etwas leid.

  6. Alexandra meint:

    ^^

    Ich bin inzwischen zu dem Schluss gekommen, dass viele Regeln häufig sehr lokal begrenzt gelten.

    Was ja in der Natur der Sache liegt, rühren sie doch meist aus Zeiten, in denen diejenigen, die sie aufstellten, wenig über den Tellerrand subjektiver und örtlicher Wahrnehmung hinaus sehen konnten.

    Ich legte nicht die Hand dafür ins Feuer, möchte aber behaupten, dass auf meinen Teller in diesem Sommer öfter Regen fiel als im letzten – wenn auch, zugegebenermaßen, in Summe nicht mehr.

  7. Alexandra meint:

    Warum kann ich nach wenigen Minuten den Kommentar nicht mehr bearbeiten, obwohl da steht, ich könne das noch fast eine Stunde lang tun? HTML?

    Anyway, da 2022 offenbar bereits im Frühjahr als “Mastjahr” deklariert wurde, schiebe ich die erhöhte Häheraktivität geflissentlich auf ein Überangebot an Nahrung. Zänkisches Volk …

    Vielleicht war auch eine Katze oder sonst ein Prädator in der Nähe.

  8. Elbwiese meint:

    Ich würde sagen, die Eichelhäher tauchen jetzt vermehrt auf, weil alle Arten von Wintervorrat jetzt zur Reife kommen, geerntet, aufgesammelt und versteckt werden müssen.

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