Journal Mittwoch, 5. Oktober 2022 – Langweiligster #wmdedgt EVER (zum Glück, weil Heimreise)

Donnerstag, 6. Oktober 2022 um 9:22

An jedem 5. des Monats fragt Frau Brüllen: “Was machst du eigentlich den ganzen Tag?” Und sammelt die Antworten in ihrem Blog.

Weil dieser 5. auf unseren Heimreisetag fiel, freue ich mich sehr darüber, dass meine superlangweilig und ohne jede Aufregung ist.

Um halb sieben klingelte der Wecker. Schnelles Duschen, Reisekleidung war eine (bereits befleckte) schwarze Jeans und ein fleckenversteckendes langes Hemd, drüber Jeansjacke: Auch in München sollte mildes Wetter herrschen.

Letztes Packen (Wasserflaschen füllen, Äpfel einstecken), letztes Rückräumen der Ferienwohnung, Check in und unter allen Möbeln.

Wir rollkofferten zum Euskotren-Bahnhof Amara, hatten Zeit für einen ersten café con leche.

Das Draußen auch gestern Calima-neblig, im Umsteige-Grenzort Hendaya/Hendaye sah man das schön.

Beim Verlassen des spanischen Bahnhofs sieht man den französischen. In einem Café gegenüber nochmal café au lait, wir hatten mit Puffer geplant. Die Ferienwohnungsvermieterin meldete sich mit Dank, dass wir alles so ordentlich und sauber zurückgelassen hätten.

Auch weiterhin lief alles glatt. TGV mit Plätzen im oberen Stockwerk nach Paris (genug Platz für unsere Koffer im Kofferfach), wo wir pünktlich nach knapp fünf Stunden eintrafen. Wir mussten Bahnhof wechseln, kannten uns ja von unserem Paris-Aufenthalt mit dem Metro-System gut aus: Problemloser Transfer vom Bahnhof Montparnasse zum Gare de l’Est. Dort hatte Fahrtplaner Herr Kaltmamsell 45 Minuten Aufenthalt eingerechnet, in dem wir uns etwas zu essen holen konnten: Ich aß nach dem mitgebrachten Apfel ein ausgezeichnetes Körner-Baguette mit rohem Schinken, Käse und Ruccola, außerdem einen halben Schoko-Muffin.

Pünktliche Abfahrt mit einem weiteren TGV (Plätze unten) um 15.55 Uhr; der war jetzt voll besetzt und dadurch nicht mehr ganz so gemütlich, zumal wir das Abteil mit zwei Brutalst-Huster-Nieser-Rotzern ohne Masken teilten (selbst beide durchgehend mit FFP2-Masken).

Das Überfahren der französisch-deutschen Grenze markierte diesmal nicht eine Nationalhymne über die Lautsprecher, sondern klassisch der Verlust des Handy-Netzes (Bord-WLAN extrem langsam) sowie Verpätung des Zugs bereits vor dem ersten Halt auf deutschem Boden in Karlsruhe.

Die letzten Stunden Fahrt wurden mühsam, vom Sitzen begann mir alles weh zu tun. Bei Ulm stand ich zwar mal auf, ging durch den Zug, dehnte mich in alle Richtungen, doch ich zählte die Viertelstunden runter.

In München trafen wir nach 13,5 Stunden seit Start am Bahnhof in San Sebasián ein (laut Google Routenplaner hätte die Autofahrt trotz direkterer Strecke 16 Stunden gedauert), mit lediglich 15 Minuten Verspätung. Insgesamt hatte die Zugfahrt für zwei Personen hin und zurück 456 Euro gekostet (wegen unterschiedlicher TGV-Preise 274 Euro hin und 182 Euro zurück).

Was mir nachts kurz vor zehn beim Verlassen des Bahnhofs in München auffiel: Um wie viel besser die Luft in San Sebastián gewesen war, Seeluft vs. Autoabgase.

Ich litt seit ein paar Stunden untern brutalen Kopfschmerzen, die mich beim Heimrollkoffern torkeln ließen – zum Glück half daheim eine Ibu schnell. Herr Kaltmamsell war zwar auch erledigt, aber doch so fit, dass er uns schnelle Nudeln mit Tomatensauce zum Abendessen zauberte, Nachtisch Süßigkeiten.

Wir schafften es, die Koffer nicht auszupacken, sondern nur das Nötigste (oder Verderblichste) rauszuholen. Alles Weitere am nächsten Tag.

§

Auf der Fahrt hatte ich Fernando Aramburu, Willi Zurbrüggen (Übers.), Patria ausgelesen. Ein umfangreicher Roman über die Auswirkungen des ETA-Terrors auf zwei konkrete baskische Familien von den 1970ern bis 2011, als die Organisation offiziell Gewalt aufgab. Er setzt mit dieser Verlautbarung 2011 ein und rollt anhand der Familienmitglieder Alltag und Lebensgeschichten auf, zeitlich zwischen Vergangenheit und Gegenwart wechselnd. Im Mittelpunkt zwei einst beste Freundinnen: Bittoris Mann Txato wurde vor über zwanzig Jahren von Terroristen erschossen, Mirens Sohn Joxe Mari sitzt als Terrorist in Haft.

Diese Leben sind nicht nur wegen des geschichtlichen Hintergrunds fesselnd, jedes ist vielschichtig glaubhaft. Auch weit über die politischen Vorgänge um baskischen Nationalismus und Franco-Regime entsteht ein Bild der spanischen Gesellschaft dieser Zeit. Zwar ist es gefährlich, zu direkte Schlüsse aus einem literarischen Werk über die Wirklichkeit zu ziehen, doch im besten Fall öffnet sich durch Fiktion eine Tür: Oh, darüber habe ich mir noch nie Gedanken gemacht. Bei dieser konkreten Lektüre merkte ich, dass ich mir nie Gedanken über die Finanzierung des europäischen Terrorismus gemacht hatte. Als Kind meiner Zeit und Generation verbinde ich Terrorismus der 1970er in erster Linie mit der intellektuellen RAF, Finanzierung durch Raubüberfälle und unterstützende ausländische Regimes. Doch ethno-nationaler Terrorismus wie der der ETA wirkte auch deshalb so gesellschaftszerstörerisch, weil er sich durch Schutzgelderpressung in der eigenen Community finanzierte.

Aramburus Roman machte mir bewusst, dass hier neben dem lang noch nicht verarbeiteten spanischen Bürgerkrieg eine weitere offene Wunde in der spanischen Gesellschaft schwärt: Auch der ETA-Terrorismus betraf jede*n und alle, wirkte sich auf jeden Aspekt des Alltags aus. Da auch die literarische Ebene des Romans ausgesprochen gelungen ist: Empfehlung.

die Kaltmamsell

5 Kommentare zu „Journal Mittwoch, 5. Oktober 2022 – Langweiligster #wmdedgt EVER (zum Glück, weil Heimreise)“

  1. Alexandra meint:

    Glückwunsch zur entspannten Heimreise!

    Geradezu mafiöse Strukturen in der ETA, wer hätte das gedacht … Leidenschaft für die Ziele reicht nicht, um agieren zu können. Das hatte ich vorher auch noch nicht überlegt

    Was mich überrascht hat: die vielen “x” in der baskischen Sprache. Die hätte ich eher in anderen Weltgegenden verortet …

  2. Beate meint:

    Willkommen daheim! Und schön, dass die Zugfahrt doch so einigermaßen gut geklappt hat.

    Gibt es in Frankreich keine Maskenpflicht mehr in den Zügen?

  3. die Kaltmamsell meint:

    So ist es, Beate.

  4. Ruth P meint:

    Vielen Dank für die Reiseberichte. Ich komme gerade von einer Woche Texas heim (wunderschön, ich besuchte eine deutsche Freundin, die aus demselben Dorf kommt) und hier in USA gibt es keine Masken Pflicht mehr. Und man sieht Masken selten, hier und das man eine, selbst im vollen Flugzeug.

  5. Joël meint:

    Ja, das mit der Luft fällt mir auch jedesmal auf, aber andersrum. Es ist der erste tiefe Atemzug im Baskenland, bei dem ich merke wie toll die Luft dort riecht, je nach Windrichtung, oft nach Meer.

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