Journal Dienstag, 24. Januar 2023 – Werbung fürs Schöffenamt

Mittwoch, 25. Januar 2023 um 6:40

Wenn es irgendwie möglich ist: Bewerben Sie sich bitte für das Schöffenamt.
“Schöffen gesucht – Deutschland fehlen die ehrenamtlichen Richterinnen und Richter”.

Für Hintergrundinfos Schöffenamt in Bayern empfehle ich die aktuelle Broschüre des Bayerischen Justizministeriums.

Viele Formalien unterscheiden sich je nach Bundesland, hier berichtet eine Hamburger Schöffin über ihre bisherigen vier Jahre Amtszeit, deren Struktur und Bürokratie sich deutlich von meinen unterscheiden. Zum Beispiel bekommen in München neue Schöffinnen und Schöffen eine eintägige Einführung am Gericht, inklusive Besuch eines Gefängnisses. Ich war bis September 2022 als Hilfsschöffin gerufen, bekam also nicht wie jetzt (Hauptschöffin) am Jahresanfang eine Liste mit Sitzungsterminen, sondern wurde bei Ausfall von regulären Schöff*innen eingesetzt; meist zwei bis drei Wochen vorher informiert, zweimal aber auch am Tag selbst angerufen. Seit ich reguläre Schöffin wurde, habe ich deutlich seltener Einsätze: Bis auf einen wurden alle angesetzten Termine bislang abgesagt.

Ich kann die Erfahrung eines Schöffenamts sehr empfehlen: In diesen Jahren habe ich viel über unser Rechtssystem gelernt, habe ganz unterschiedliche Polizisten und Polizistinnen im Zeugenstand erlebt, ganz unterschiedliche Staatsanwält*innen und Strafverteidiger*innen, weiß jetzt unter anderem, was Täter-Opfer-Ausgleich ist, dass es Fußballanwälte gibt. Mir wurde bald klar, wie wichtig diese Gerichtsverhandlungen in Echt sind: Hier macht sich das Gericht in aller Öffentlichkeit ein Bild, was eigentlich passiert ist. Für das Urteil berücksichtigt werden darf nur, was hier zur Sprache kommt, was hier gezeigt und von Richter*innen, Staatsanwaltschaft, Verteidigung gesehen und gehört wird.

Und dann natürlich die menschlich-gesellschaftliche Seite.

Ich habe einen Angeklagten Ende 50 erlebt, der laut Vorstrafenregister sein ganzes Leben mit Kleinkriminalität finanzierte, aber im Gerichtssaal stolz betonte, nie einen Euro staatliche Hilfe beantragt zu haben.

Oder die junge Angeklagte, die die Gründung eines Luxusgeschäfts erfunden hatte, von einer Agentur ein Marketingkonzept dafür erstellen ließ, die Unterschriften namhafter angeblicher Geschäftspartner fälschte, die teure Goodie-Bags für die erfundene Eröffnungsfeier erstellen ließ. Verhandelt wurde, dass sie die hohen Rechnungen dafür nie bezahlte. Die aber von ihrem Schweigerecht als Beschuldigte Gebrauch machte und kein Wort zu dieser ganzes seltsamen Sache sagte – von der sie ja nicht mal profitierte, denn nichts an ihrem Konstrukt existierte. Uns als Gericht war durch ihr Schweigen die Möglichkeit genommen, uns ein Bild von ihr und ihren Beweggründen zu machen.

Dann war da der Angeklagte, der scheinbar aus dem Nichts und aus einem völlig unbescholtenen Leben in langer Serie straffällig wurde, mit gefälschten Fahrscheinen oder ohne durchs Land flog und fuhr, Hotelrechnungen prellte. Diesen Beschuldigten konnten wir befragen und herausfinden, was da passiert war.

Oder die BTM-Prozesse (Betäubungsmittel, also illegale Drogen). Alles junge Leute, und bei der Einschätzung stand im Vordergrund, wie wir als Gericht die Sozialprognose sahen. Ich erlebte unter anderem einen Angeklagten, der in mehreren Monaten U-Haft (Tourist aus dem Ausland, also Fluchtgefahr, plus Verzögerungen durch Pandemie) einen Entzug durchgezogen hatte und sein Leben komplett neu aufgestellt. Ein Pärchen, dass den Eigenkonsum immer mehr mit Dealen verbunden hatte. Einen Mann, der nach dem Erwischtwerden mit Drogen die Polizei unaufgefordert zu seinen Vorräten geführt hatte – er wirkte erleichtert ob der Gelegenheit, mit all dem abzuschließen.

Doch da waren auch die Angeklagten, die sich offensichtlich über dem Gesetz sahen, für die unsere gesellschaftlichen Regeln subjektiv nicht zu gelten schienen. Dann wieder Verhandlungen mit komplett verlorenen Gestalten, auch für ihre Verteidigung nicht erreichbar, mit langen psychologischen Gutachten, langen Vorstrafenregistern, wenig Perspektive.

§

Erst Dienstag. Ich werde in den vier Wochen bis Fasching (vier Tage frei am Stück) irgendwo einen freien Tage einbauen müssen.

Draußen dicker Winternebel über sulzigem Schnee.

Ein emsiger Arbeitsvormittag mit kalten Händen und eisiger Nasenspitze.

Zu Mittag gab es Ernteanteil-Äpfelchen, Pumpernickel mit Butter, viele Orangen (noch sieben Stück übrig von den zehn Kilo, ächz). Ich fror und schlüpfte in meinen dicken Janker. (Und hörte durch die geschlossene Bürotür jemanden sagen: “Ich gehe. Mir ist zu kalt.”)

Herr Kaltmamsell meldete sich von der Elternfahrt, verwendete die Begriffe “Pralinenkauf” und “Augenmaß verloren” im selben Satz und machte mich damit glücklich (ich wusste, dass er von den besonders guten aus dem Königsbrunner Café Müller schrieb).

Nach Feierabend Lebensmitteleinkäufe. Daheim nur kurzes Hinsetzen, dann Aufbruch zur dritten Lindy-Hop-Stunde. Der Saal war noch einmal übersichtlicher belegt, ich lernte Neues mit wechselnden Leadern, das ich sicher noch üben muss. Herr Kaltmamsell wollte anschließend daheim mit mir die Schritte durchgehen – und ich merkte, dass ich auf die Füße am wenigsten geachtet hatte, die laufen von allein (sondern auf Führungssignale, Richtungen, Haltung, Abstände).

Er servierte aufgewärmten Wirsingstrudel (mit selbst gemachtem Strudelteig!) und je eine kleine, perfekt reife Crowdfarming-Avocado. Zum Dessert gab es die restliche Orangencreme vom Samstag, außerdem Ergebnisse des Pralinenkaufs.

10 11 Oscar-Nominierungen für Everything Everywhere All at Once, den das hiesige Feuilleton mit achselzuckenden Kurzmeldungen wegbesprochen hatte, HA! Endlich ein Film, der das Multiverse-Konzept sinnstiftend verarbeitete (jede Lebensentscheidung eine mögliche Abzweigung), hier hatte ich nach dem Gucken von dem Film geschwärmt. Und wenn Sie noch mehr Michelle Yeoh fangirlen wollen, hier lang zu “Time 2022 Icon of the year Michelle Yeoh”.

§

Von wegen Annie Lennox: Hier einer meiner Lieblinge der Eurythmics – wegen des Texts, der Stimmung und der Stimme von Lennox.

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https://youtu.be/5-DEARoQeqY

die Kaltmamsell

11 Kommentare zu „Journal Dienstag, 24. Januar 2023 – Werbung fürs Schöffenamt“

  1. Flusskiesel meint:

    Ich kann mich der Aufforderung zum Schöffenamt nur anschließen (das tue ich in meinem Blog mit der üblichen Woche Versatz)!

  2. Poupou meint:

    Vielen Dank, dass Sie Schöffin sind, darüber sprechen und andere motivieren, das auch zu machen!

  3. Nadine meint:

    Schöffenamt steht definitiv noch auf meiner Lebens-To-Do-Liste! Aktuell halten mich meine noch recht jungen Kinder und die damit verbundenen Ehrenamtsaufgaben (Elternsprecher, Förderverein, Sportverein etc. pp.) davon ab. Aber das ist ja zeitlich begrenzt und in so 5/6 Jahren wird mehr Zeit für andere Aufgaben sein :o)

  4. Hasenkind meint:

    Das Schöffenamt interessiert mich auch. Aber wie vereinbaren Sie dies mit Ihrem Arbeitgeber? Müssen Sie Urlaub für die Verhandlungen nehmen oder stellt Sie Ihr Arbeitgeber frei?

  5. N. Aunyn meint:

    Die Berichte vom Schöffinnenamt lese ich sehr gern. Vielen Dank dafür.

  6. die Kaltmamsell meint:

    Der Arbeitgeber muss für Schöffeneinsätze freistellen, Hasenkind.

  7. anirei meint:

    Vielen Dank für diese Informationen zum Schöffenamt, ich werde ernsthaft darüber nachdenken.
    Gibt es eine konkrete Adresse in München, bei der man sich bei Interesse melden kann?

  8. die Kaltmamsell meint:

    Laut Google-Ergebnis geht das hier, anirei:
    https://stadt.muenchen.de/service/info/hauptabteilung-ii-buergerangelegenheiten/1080614/

  9. Beate meint:

    Ohne jeden Bezug zum Thema, nur weil ich es gerade entdeckt habe und Sie eine Freundin dieser Tiere sind.

    Eine Klinik für Mauersegler / Alpensegler:
    https://www.geo.de/natur/tierwelt/ein-leben-fuer-die-mauersegler-30477388.html

    Hier noch ein paar Fotos, weil der Artikel nicht frei zugänglich ist:
    https://roman-pawlowski.de/alpensegler-klinik

  10. Ilka meint:

    Ach, den Brief mit der Bewerbung ums Schöffenamt hab ich heute in den Kasten geworfen (unsere Stadt ist wegen Hackerangriffs noch down). Bin gespannt, was daraus wird.
    Viele Grüße!

  11. anirei meint:

    Vielen Dank, liebe Kaltmamsell, für den Schöffen-Link!
    ( hätt ich ja auch selber drauf kommen können, einfach googeln ;-)….aber noch ist der Respekt vor diesen juristischen Abläufen sehr hoch….;-) )

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