Journal Dienstag, 21. Februar 2023 – Kehraus im Frühling, Granta 161, Sister, Brother
Mittwoch, 22. Februar 2023Gut geschlafen, sogar nochmal ab halb sechs.
Der letzte meiner vier freien Tage am Stück, ich war eigentlich noch nicht fertig mit Freihaben.
Gestern ging ich schon vor Sport (Joggen) Semmelnholen, in manchen Gegenden sind Läden an Faschingsdienstag/Kehraus ab Mittag zu. Das Wetter wie vorhergesagt frühlingshaft herrlich.
Herrn Kaltmamsell verabschiedete sich nach Augsburg zu Elternbesuch und Freundetreffen, ich nahm das Rad zum Friedensengel.
Es war ein Isarlauf mit Kleidungsproblem: Ich trug mein langärmliges Laufoberteil, denn es war warm genug für den Plan, für die Anfahrt per Rad die Laufjacke als Windbreaker drüber zu tragen, diese dann für den eigentlichen Lauf um die Taille zu binden. Doch beim Anziehen des Oberteils ging der Reißverschluss kaputt (wieder einer dieser empörenden Fälle, dass ein gerade mal 15 Jahre benutztes Kleidungsstück den Geist aufgibt – geplante Obsoleszenz!). Das ignorierte ich auf der Anfahrt, doch beim Laufen öffnete sich dieser Reißverschluss immer weiter bis in die Mitte des Lauf-BHs. Der kann sich zwar durchaus sehen lassen, doch es war es mir dann doch zu frisch. Also schlüpfte ich wieder in die Jacke und schloss deren Reißverschluss bis zum Hals. Was schnell viel zu warm wurde. Die Lösung: Auf einem menschenleeren Teilstück zog ich Jacke und Oberteil aus, band mir das Oberteil um die Nieren, drüber die Jacke mit hochgezogenem Reißverschluss. Jetzt war’s gut.
Andere Laufabenteuer: Ein Grünspecht ließ sich sehen, ganz nah, außerdem flog ein Kormoran über mich hinweg, einen weiteren erspähte ich auf einer Kiesbank im Jugendkleid. Und! Alle mir bekannten Krokus-Hotspots waren in Betrieb! Auf Höhe Unterföhring kam mir ganz langsam ein Gartenbau-Transporter entgegen, ich sah sofort, dass wir zwischen den Büschen nicht beide Platz haben würden und lief zurück, bis ich auf eine Wiese ausweichen konnte. Der Herr am Steuer kurbelte extra sein Fenster runter, um mir hocherfreut und ausführlich dafür zu danken, ich wurde fast verlegen.
Nichts geht über antike Ikonografie.
Der kaputte Reißverschluss – ganz offen doch zu frisch. Außerdem hatte ich zwar das Gesicht sonnengecremt, nicht aber das Dekolleté.
Von der Kennedybrücke.
Genussvolles Heimradeln, zu Hause ausführliche Körperpflege.
Um halb drei zum Frühstück reichlich Semmeln.
Den Nachmittag über schrieb und las ich, schälte Mandeln, wusch Wäsche – immer wieder mit offenen Fenstern. Mein Schlafzimmer roch deutlich nach dem Sonnenschein, der es über den Tag gewärmt hatte.
Zusätzlicher Zeitvertreib: Nachbarn jagen. Das DHL-Paket, für das ich “vor die Tür stellen” angekreuzelt hatte, wurde (wohl in den anderthalb Stunden des Tages, in denen wirklich niemand zu Hause war) bei Nachbarn abgegeben. Auch beim vierten Klingeln waren sie nicht daheim. Zahlt den Paket-Ausfahrenden endlich genug für gute Arbeit, zefix.
In Abwesenheit von Herrn Kaltmamsell bereitete ich das Nachtmahl selbst zu. Ich räumte den restlichen Ernteanteil auf und kochte aus Sellerie, Zwiebel, Kartoffeln mit Belugalinsen einen Eintopf. Der schmeckte deutlich besser, als er aussah – und es ist noch genug für Mittwoch übrig. Nachtisch Schokolade.
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Granta 161, Sister, Brother
Das Thema Geschwister finde ich hochspannend, meiner Wahrnehmung nach wird es literarisch im Vergleich zu seiner Bedeutung nur wenig thematisiert. Umso mehr freute ich mich über eine Ausgabe Granta dazu – und sie hat meine Erwartungen erfüllt.
Am wenigsten interessiert mich allerdings die Perspektive der klassischen Psychoanalyse – mit der ich ohnehin ein Wissenschaftlichkeitsproblem habe, weil Psychoanalyse aus Thesen und Theorien besteht, die nicht falsifizierbar sind. Adler habe ich zwar nur auf Lexikon-Niveau gelesen, keine seiner Schriften selbst, doch der Verallgemeinerung seiner Beobachtungen zur Rolle von Geschwisterposition misstraue ich. Viel erhellender finde ich da Hazel Bruggers Bezeichnung von Geschwistern als “Übungsmenschen für echte Menschen”. Selbst übte ich an meinem sechs Jahre jüngeren Bruder, der in meiner Erinnerung als kleines Kind ständig meine Nähe suchte und mir damit auf die Nerven fiel: Ich lernte, die mir so liebe und dringend nötige Einzelzeit zu schaffen, durchaus auch mal mit Gewalt. (Diese Gewalt tut mir heute sehr leid und ich setze sie zum Abstandschaffen nicht mehr ein, 1a Übungserfolg.)
Auffallenderweise kommt die psychoanalytische Perspektive auch nur in einem der Texte vor: Der Lyriker Will Harris erzählt in “Speaking Brother”, dass er in einigen Gedichten einen Bruder erfunden hat, und denkt über den Grund nach. (Fragen jetzt schon Autoren “Was wollte der Autor damit sagen?” – und das auch noch bei den eigenen Gedichten?!)
Doch die anderen Texte und Geschichten (fiction und non-fiction) erzählen zum Beispiel vom Tod eines Bruders (John Niven, “Brother”), von einer Teenager-Mutter, die sich ihren immer mehr Kindern gegenüber wie eine Schwester verhält (Lauren John Joseph, “Plastic Mothers”), von Kindheitserinnerungen an einen jüngeren Bruder (“Brother, to be your sister is to confront the possibility of having been other than I am.” Vanessa Onwuemezi, “Brother”), von Patchwork-Familien mit unentwirrbaren Geschwisterbeziehungen (Karolina Ramqviyst, Sasika Vogel – Übers., “Siblings”), vom engen Zusammen-Aufwachsen als Zwilling und Verlust jedes Kontakts zur Schwester als Erwachsene (Taiye Selasi, “Betwixt and betwin”), von der Kindheit als Autistin in einer Familie mit unzähligen und ständig wechselnden Pflegegeschwistern (Viktoria Lloyd-Barlow, “These stolen twins”), das Leben dreier Schwestern von den 1920ern bis in die Gegenwart (Sara Baume, “Ray & Her Sisters”).
Ben Pester erfindet in seiner surrealen Geschichte “The Durhams” das Wort “Sibspace” für die Welt, die manche Geschwister als Kinder teilen.