Journal Sonntag, 28. Mai 2023 – Heimkehr aus Nierstein, Martin Arz, Street Art München

Montag, 29. Mai 2023 um 8:02

Nachts weniger Kampf mit dem dicken, riesigen Hotel-Kopfkissen, doch beim Aufwachen fühlte sich meine Wirbelsäule an mehreren Stellen gebrochen an.

Draußen herrlichster Frühsommer, ich hörte vorm Hotelbalkon Entengeschnatter (für meine Ohren ein angenehmes, friedliches Geräusch, wie ich schon am Vortag im Garten von Frau Mutti anhand ihrer Asylenten lernte) und wie schon am Vorabend deutliche Falkenrufe.

Gemütliches Bloggen, gestern begleitete ich Herrn Kaltmamsell zum Frühstück und genoss zwei Cappuccinos (für Vollautomat ausgesprochen gut – vielleicht eine Frage der Automaten-Einstellung).

Flüssige Rückfahrt mit zweimal Umsteigen, die beide problemlos klappten. Wenig Aussicht aufs sonnige Maien-Draußen, durch das der ICE brauste, denn der Fensterplatz war wieder mal einer mit Mittelstrebenwand.

Bei Heimkehr musste ich nach drei dann doch mal was essen: Partyreste, also Tomätchen und Pumpernickel, gestern mit dick Butter. Dann Geschäftigkeiten in der Wohnung, Zeitunglesen auf dem Balkon (!), eine Runde Yoga-Gymnastik.

Wenn das Wetter schon endlich schön ist, wollte ich zum Nachtmahl in einen Biergarten – zumal ja sogar noch die Kastanien blühen! Das Wetter stellte sich auf unserem Spaziergang zum Flaucher sogar als traumhaft heraus: Nur so warm, dass es in der Sonne angenehm war, eine leichte Brise.

Ich aß eine halbe Schweinshaxe (auf das halbe Hendl, das mir lieber gewesen wäre, hätte ich 40 Minuten warten müssen, denn es war noch nicht gar), trank dazu ein alkoholfreies Weißbier. (Die Halbe Bier oder Radler im Biergarten mittlerweile bei 5,20 Euro – ich wünsche mir sehr, dass die Preiserhöhung in die Gehälter des Personals fließt.)

Auch der Heimweg war wunderbar – allerdings bereits recht frisch, ein Jäckchen wäre angenehm gewesen.

Westermühlbach.

Alter Südfriedhof.

Daheim noch eine Runde Schokolade. Dazu Fernsehen: Auf 3sat lief Wie angle ich mir einen Millionär. Ich sah den Film zum ersten Mal synchronisiert – und als im eleganten Restaurant auf einer Tür die Beschriftung “Powder Room” auftaucht, übersetzt der Untertitel tapfer: “Pulverraum”.

Mich im letzten Abendlicht auf den Balkon gestellt, bis ich Fledermäuse sah (dauerte nicht lang).

§

Auf der Rückreise las ich Martin Arz, Street Art München. Ich scherze ja gerne, dass in München selbst Graffiti sauber und hübsch ist – ich ahnte ja nicht, dass es sich um eine Folge von Vorreitertum handelt:

Kaum noch jemand schien sich daran zu erinnern, dass die deutsche Graffiti-Szene einst größtenteils von München ausging und über Jahrzehnte wichtige Impulse bekam.

(…)

Die Münchner Szene feierte einige Premieren: Der Güterwagon, den Ray 1984 bemalte, gilt als erster seiner Art in Deutschland, Don M. Zaza besprühte den ersten Intercity der DB und Cheech H verewigte in Herrsching erstmals ein Graffito auf einer deutschen S-Bahn.
Im März 1985 dann gestalteten sieben blutjunge Burschen eine S-Bahn der Linie S4, die im Bahnhof Geltendorf für die Nacht abgestellt war. Der sogenannte Geltendorf Train galt als der erste Wholetrain – ein von vorne bis hinten besprühter Zug, in diesem Fall bis zur Fensterhöhe – in Europa.

Und München gehörte demnach früh zu den wenigen Städten, die Streetart offiziell förderten. Seit 1996 sind die Flächen unter der Brudermühlbrücke legalisiert, 1999 eröffnete der Kreisjugendring München-Stadt die Färberei unter der Leitung von Astrid Weindl, seitdem eine Anlaufstelle für Graffiti und Streetart in München. Mittlerweile vergibt das Kulturreferat Geld für Streetart-Projekte.

Zudem wurden diese schon früh dokumentiert:

Nicht zuletzt wegen des Geltendorf Trains gründete die Bahnpolizei die Sonderkommission Graffiti. Der Bahnpolizist Hans Schluttenhofer, beruflich Graffiti-Jäger, privat passionierter Graffiti-Liebhaber, war der Münchner Szene immer dicht auf den Fersen. “Schlutti” erstellte ein umfassendes Archiv mit Tausenden Fotos aus der Münchern Frühzeit.

An dieser Stelle musste ich schon lachen.

Martin Arz sortiert seine Foto-Beispiele mal thematisch, mal nach Projekten, mal nach Örtlichkeit. So zeigt er auch typisch Münchner und typische bayerische Motive – aber mein Liebling darunter ist nicht dabei:

Brudermühlbrücke 2008 (so systematisiert Arz seine Fotos, ergänzt um den Hinweis, dass die Jahreszahl die Aufnahme datiert, nicht die Entstehung) – doch auch wenn ich durch das Buch jetzt einige Namen mir vertrauten Streetart-Stilen zuordnen kann (z.B. Flin und Beastystylez), kann ich nicht sagen, von wem das ist.

Mehr ist in der Munich-Abteilung von streetartcities.com gesammelt.

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Der Solinger Glumm hat seine persönlichen Erinnerungen an den Brandanschlag in Solingen aufgeschrieben, der sich am 29. Mai zum 30. Mal jährt – aus denen hauptsächlich Ratlosigkeit spricht, auch Hilflosigkeit, auch gegenüber der persönlichen Farbe der Erinnerungen.
“30 Jahre Solinger Brandanschlag: ‘Unser Türkenhaus brennt'”.

Selbst war ich damals in Wales im Urlaub – und erfuhr von all dem erst nachträglich (Internet war damals noch keine Nachrichtenquelle).

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Einem Hinweis auf einen Artikel in der taz gefolgt – und gleich wieder vergessen, vom wem er kam: Vielen Dank ins Blaue!
“Armut in Deutschland:
Ein Erdbeben, und niemand schaut hin”.

Ein Fünftel aller Menschen in Deutschland ist von Armut bedroht. Mindestens. Doch selbst die Betroffenen, die am lautesten sind, werden kaum gehört.

Mich schmerzt immer wieder, wie wenig diejenigen Menschen, die in unserer Gesellschaft in Wohlstand leben, sich Leben in Armut vorstellen können oder auch nur mögen. Ein Leben, in dem es nur einmal im Monat für den Cappuccino im Café reicht, nie einfach so nebenher, in dem solche Kurzausflüge mit Hotelübernachtung, wie ich ihn gerade nach Nierstein hatte, komplett unerreichbar sind. In dem Pfennigfuchsereien wie Museumsbesuche an Eintritts-freien Tagen oder Vorratseinkäufe bei Lebensmittel-Sonderangeboten kein Sport sind, sondern bittere Notwendigkeit. Nur zum Beispiel.

Mich schmerzt noch viel mehr eine implizite Grundhaltung vieler Menschen ohne Geldsorgen, dass Armut meist Folge eines Fehlverhaltens sei, eigene Schuld, weil “wenn ich arm wäre, wäre ich nicht lange arm”.

Was ich selbst gegen diesen Missstand tue? Da es sich um ein strukturellen Problem handelt: Zumindest vor Wahlen die Wahlprogramme der Parteien daraufhin abklopfen, ob sie zur Lösung des Problems beitragen oder es verschärfen, siehe “Every billionaire is a policy failure” (übersetzt: Jeder Milliardär bedeutet ein politisches Versagen.)

die Kaltmamsell

7 Kommentare zu „Journal Sonntag, 28. Mai 2023 – Heimkehr aus Nierstein, Martin Arz, Street Art München

  1. Barbara meint:

    Der Hinweis zu diesem Artikel kam, wie schon so oft im Hinblick auf Lesenswertes , Danke dafür, von Maximilian Buddenbohm.

  2. Croco meint:

    München als Graffitihauptstadt zu sehen, kann mir bisher nie in den Sinn. Wieder was dazu gelernt. Dass der größte Graffitijäger auch der größte Liebhaber ist, ist schon witzig.
    Die Armut ist heimlich in Deutschland. Während der Schulschließung hat man es gemerkt, dass die armen Kinder einfach keinen Computer zu Verfügung hatten. Manche hatten kein WLAN, manche nicht genug Datenvolumen auf dem Handy. Im Rewe hab ich Leute gesehen, die auf dem Boden Papiere ausbreiteten, sie fotografierten und über das Rewe WLAN losschicken. Es gibt mehrere frei zugängliche Hotspots in der Stadt, da kann man schauen, wer wenig Geld hat. In der Schule sieht man es auch an den Schuhen. Schuhe sind teuer, manche können sie nur gebraucht kaufen. Das fällt so auf gegenüber denjenigen, die immer das neueste Modell an Sneakers haben.
    Leider ist es kein Thema in der Öffentlichkeit.

  3. N. Aunyn meint:

    Sehr empfehlenswert dazu der aktuelle Jahresbericht der internationalen Initiative “ATD vierte Welt – gemeinsam für die Würde aller”, die mit armen Menschen gemeinsam Projekte entwickelt und sich einsetzt. In Berlin gab es viele Jahre eine Strassenbibliothek für Kinder und Jugendliche in einem besonders von Armut betroffenen Stadtviertel …
    https://atd-viertewelt.de/

  4. Karin meint:

    @croco: ja, das habe ich bei meinen Schülern im Lockdown auch mitgekriegt. Was mich mit am meisten schockiert, ist aber, dass ich noch nie ein Kind aus prekären Verhältnissen erlebt habe, das sich darüber beklagt oder als eine Ungerechtigkeit angeprangert hätte. Ich habe den Eindruck, dieser Zustand wird von allen betroffenen klaglos akzeptiert, sei es, dass man keine Energie hat, sich zu beklagen, sei es, dass man das als gegeben hinnimmt.

  5. Rina meint:

    Christian vom hmbl blog hat neulich darueber geschrieben, warum das so ist. Man lernt frueh, dass man Dinge nicht aendern kann und (Achtung Modewort) entwickelt keine Selbstwirksamkeit.

  6. Croco meint:

    Armut ist stumm.
    Die Kinder schämen sich auch dafür.

  7. A.Rmgemacht meint:

    Wer arm ist, braucht viel mehr Energie um Alltagsdinge zu organisieren, die für Angehörige der Mittelschicht selbstverständlich zuhause verfügbar sind (Drucker). Was auch viel zu kurz kommt in der allgemeinen Betrachtung ist der Fakt der “Zeitarmut”. Arme können viel weniger über ihre Zeit eigenständig verfügen als andere Bevölkerungsgruppen. Sie müssen viel mehr Zeitaufwand für bürokratische Vorgänge aufbringen als Otto Mittelschicht Normalverbraucher – beispielsweise Bedürftigkeitsnachweise für Kleiderkammern, Lebensmittelausgaben etc. Auch die Anträge für die Grundsicherung – also Bürgergeld im Rentenalter – müssen jedes Jahr neu gestellt werden.

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