Journal Mittwoch, 31. Mai 2023 – Lerchenprivileg

Donnerstag, 1. Juni 2023 um 6:20

(Ein Entwurf-Fragment dieses Posts ging bereits gestern Morgen versehentlich online, ich musste lernen, dass Zurückstellen auf “Entwurf” nicht die Veröffentlichung zurücknimmt, gnarf.)

Wir Lerchen kennen nicht den kreativen Zauber von Nachtstunden, stellen unsere Stühle beim Ausgehen nicht selbst auf die Tische, kennen überhaupt “Nachtleben” und seine vielfältige Welt nur aus Erzählungen, müssen uns in die uncoole Streber- und Spießerrolle einfinden, sitzen vor acht im Büro, weil wir morgens am produktivsten sind. Aber. Wir können zwischen Mitte Mai und Ende Juli den Wecker auf Fabrik-Frühschicht stellen (keine exakte Uhrzeit, um die Eulen nicht völlig zu verschrecken) und bei entsprechender Neigung noch vor dem Arbeitstag eine Laufrunde an der Isar einlegen, selbst diejenigen unter uns Lerchen, die unter einer Stunde gar nicht erst mit dem Laufen anfangen.

Auf den gestrigen Morgen als Gelegenheit war ich gekommen, weil ich für eine Besorgung nach Feierabend ohnehin mit dem Rad in die Arbeit fahren würde – und ein für mich akzeptabler Arbeitsbeginn nach Laufrunde nur damit zu schaffen war. Und wegen schönem Wetter, das herrliches Licht und wunderbare Luft versprach.

Mein Viertelstunden-genauer Plan für den Morgen klappte. Nach tiefem, guten Schlaf wachte ich eine Minute vor Wecker auf, trank sogar noch café con leche, putzte mir die Zähne und radelte zur Wittelsbacherbrücke. Dort startete ich meinen Lauf Richtung Thalkirchen und um den Hinterbrühler See zurück. Es war vom ersten Schritt an großartig, ich hätte jodeln mögen. Die Windjacke über kürzärmligem Laufshirt war genau die richtige Kleidung für die Morgenfrische.

Kunst unter der Brudermühlbrücke:

Mir kam eine große Gruppe creatures of the night entgegen: Durchgefeierte verträumte Goths mit leiser Musik.

Sonnengruß:

Wunderschöner Anblick zum Abschluss: Ein mächtiger Kormoran, der sein Gefieder in der Morgensonne trocknete, auf einem Felsen mitten in der Isar vor der Wittelsbacherbrücke (zu weit weg für Foto).

Gelernt unter anderem auf diesem Lauf: Enten stehen keineswegs mit den Hühnern auf, die meisten, denen ich begegnete, hatten den Schnabel noch unterm Flügel und pennten.

Ein Uhrencheck ergab in der zweiten Hälfte des Laufs leichte Verzögerung, ich holte sie mit höherem Lauftempo ein – sonst laufe ich ja immer nur so schnell, wie es sich gemütlich anfühlt, aber nach nur einer Stunde geht auch Tempo. Nach insgesamt 75 Minuten war ich zurück an meinem Radl, schwänzte das Dehnen (einmal wird schon nichts ausmachen) und fuhr heim.

Glas Wasser, duschen, schminken, anziehen, gepackten Arbeitsrucksack aufgeschnallt, in die Arbeit geradelt. Ich startete den Bürotag nur 20 Minuten später als sonst und hatte bereits ein wunderschönes Erlebnis hinter mir.

Gut zu schaffende Arbeit, wenig Haareraufen.

Zu Mittag gab es Lagerapfel, den letzten Kanten selbst gebackenes Walnussbrot, Hüttenkäse.

Den ganzen Tag blieb ich schwindelfrei, das war schön. Draußen krachten die Farben im Sonnenlicht, und die Luft, die durchs gekippte Bürofenster hereinkam, war angenehm frisch.

Nach Feierabend radelte ich nach Schwabing: Bestellte Unterwäsche war eingetroffen, ich holte sie ab. Der Radlverkehr in die Stadtmitte nach Hause war nicht ganz so schlimm wie befürchtet, ich reihte mich in den Strom ein (hätte aber kurz vor der Haustür fast noch eine alte Dame angefahren, die beim Queren der Straße umdrehte und sich in die andere Richtung bewegte – gerade als ich sie überholte).

Auf den Straßen viele Menschen in Hochsommerkleidung, also Hotpants, Strandkleidchen – diese Eskalationsstufe behalte ich mir für Hitze vor, gestern war immer noch Frühling mit 23 Grad und frischem Wind.

Zu Hause nochmal die Yoga-Gymnastik vom Vorabend. Herr Kaltmamsell servierte zum Nachtmahl Orecchiette mit Kirschtomaten und Ruccola, sehr gut. Dann gab’s die ersten richtig guten Erdbeeren der Saison mit ein wenig Pistazien-Baklava, außerdem Schokolade (zu viel, hmpf).

§

Die Seite Drei der Süddeutschen thematisierte, wie es nach den Razzien um die Aktivistinnen und Aktivisten der Letzten Generation steht, laut Vorspann “Zeit zu fragen, was das eigentlich bringt” (€):
“Auf die Fresse”.

Die Frage, ob die Protestformen der Letzten Generation “was bringen”, halte ich für durchaus berechtigt. Doch nützlich ist sie nur, wenn auch alle anderen Protestformen daraufhin geprüft werden und man dann vergleicht. Das wäre doch mal ein schönes Buch zwei am Wochenende.

Mir geht halt schon sehr im Kopf rum, dass Fahrradparadise wie Amsterdam, Kopenhagen oder Utrecht keineswegs nur durch wohlwollende Politiker*innen entstanden, sondern durch massiven Protest, siehe:
“‘Brauchte fast Straßenkämpfe’: Wie Amsterdam und Co. zu Fahrradstädten wurden”.
Und denen saß noch nicht mal der Klimawandel als existenzielle Bedrohung im Nacken.

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Formschub erinnert sich an die Medienlandschaft seiner (und meiner) Kindheit in den 70ern – und in welch abgrundtiefem Sexismus wir damit aufwuchsen (den meine Mutter allerdings schon damals kritisierte):
“Ganz normal”.

die Kaltmamsell

8 Kommentare zu „Journal Mittwoch, 31. Mai 2023 – Lerchenprivileg“

  1. Ilka meint:

    Lerchige Grüße aus Potsdam nach München
    Ilka

  2. Beate meint:

    Hier auch eine Lerche! Mit das Beste dadran ist die “Bewunderung” der Kollegen, wenn man um 8.45 beim ersten Kaffee vom Frühsport erzählt.

    Vielen Dank für die wunderschönen Fotos!

  3. Karin meint:

    Bin ich eine richtige Lerche, wenn ich zwar gern und leicht früh aufstehen kann, Sport in der Frühe aber absolut grässlich finde? Frage für … naja, mich? Mein Lerchenvergnügen besteht darin, morgens vor der Arbeit noch entspannt im Bett zu lesen.

  4. die Kaltmamsell meint:

    Siehe, Karin: “bei entsprechender Neigung”.

  5. Hanna meint:

    Enten gehen übrigens auch später schlafen als Hühner, da gleicht sich das wieder aus.

  6. Poupou meint:

    @Hanna: Enten sind eigentlich Eulen. ;)

  7. loosy meint:

    Schade, dass das Entwurf-Fragment es nicht in den endgültigen Beitrag geschafft hat – ich hatte schon Kommentare geplant zu meinen Uni-Erfahrungen mit kanadischer Literatur etc. :)

  8. Croco meint:

    Jetzt habe ich einige Flashbacks bezüglich der Titelbilder in den 70ern. Formschub ist toll.
    Ich fand das damals schon nicht in Ordnung.
    Als ich ins Studentenwohnheim einzog, war die Toilette für 8 Leute dekoriert mit solchen Fotos. Ich wollte drüber reden, dass ich das nicht sehen möchte. Die Jungs lachten, die Mädchen schwiegen.
    So schnitt ich mir einen Mann mit nacktem Oberkörper aus der Parfümwerbung aus und klebte ihn neben die zahlreichen unbekleideten Frauen.
    Es dauerte keinen halben Tage bis der nackte Mann in kleine Fitzelchen zerrissen in der Wohnheimküche lag. Jetzt waren die Jungs wütend und die Mädchen schwiegen.
    Ich hätte ihre Kunst zerstört. Ich bestand darauf, nur ergänzt und keinen Eingriff in das Kunstwerk getätigt zu haben.
    Es waren ja keine dummen Jungs, sie dachten nach und plötzlich hingen da dann witzige Gedichte statt nackter Menschen.

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